MM: Sehr geehrter Herr Strohmeyer, wir
haben zuletzt vor 9 Jahre gesprochen. Hat sich seither irgendetwas für
die Lage der unter Besatzung lebenden Palästinenser verbessert?
Arn Strohmeyer: Nein, nichts hat sich
geändert. Die Zionisten verfolgen ihr Ziel sehr konsequent. Das
Endziel lautet: ein rein jüdischer Staat in Palästina ohne
Palästinenser. Anders kann man nicht erklären, was sich dort jeden Tag
ereignet: Angriffe von Armee, Polizei und Siedlern auf die
palästinensische Zivilbevölkerung, das heißt: Häuserzerstörungen,
nächtliche Razzien, Verhaftungen usw. Ein palästinensisches
Menschenleben zählt da nicht viel, das belegen die Zahlen der Toten.
Durch die neue ultrarechte Regierung wird alles noch viel schlimmer.
Einen kleinen Vorgeschmack hat man ja schon bekommen. Da ist ganz
offen davon die Rede, „Dörfer zu zerstören“ und die Menschen zu
„vertreiben“. Der Minister für „Sicherheit“ Itamar
Ben-Gvir – ein schon wegen Terrorismus verurteilter Radikaler –
bekommt sogar eine eigene „Nationalgarde“. Man kann sich vorstellen,
was die Aufgabe dieser Truppe ist.
MM: Was war der Anlass zu ihrem neusten
Buch "Falsche Loyalitäten - Israel, der Holocaust und die deutsche
Erinnerungspolitik"?
Arn Strohmeyer: Ich habe bei
israelischen Autoren (z.B. Moshe Zuckermann und Tom Segev) gelesen,
wie Israel die Erinnerung an den Holocaust für seine politischen,
wirtschaftlichen und militärischen Ziele und Zwecke
instrumentalisiert. Sogar die Unterdrückung der Palästinenser wird mit
dem Holocaust gerechtfertigt: „Wir haben den Holocaust durchgemacht
– uns ist alles erlaubt!“ Außerdem werden die Palästinenser als
die „neuen Nazis“ diffamiert. Daraus leiten die Zionisten auch
das Recht ab, gewaltsam gegen die Palästinenser vorzugehen. Das ist
natürlich historisch unsinnig und moralisch absurd, aber es ist die
Realität in Israel und den besetzten Gebieten.
Die deutsche Erinnerung an den Holocaust ist
aber mit der israelischen völlig identisch. Eine solche Gedenkkultur ist
aber höchst bedenklich. Den Holocaust kann man nur universalistisch
erinnern, das heißt, die Bedingung und der Ausgangspunkt für ein
Erinnern an dieses ungeheure Verbrechen ist die Gleichheit aller
Menschen. Alle Menschen auf dieser Erde haben das Recht auf ein Leben in
Gerechtigkeit, Würde und Selbstbestimmung. Genau das gibt es aber in
Israel für die Palästinenser nicht. Also sollte das deutsche Gedenken
sich von dem zionistischen distanzieren und ein eigenes Erinnern
entwickeln, das ohne fremdbestimmte Instrumentalisierung absichts- und
zweckfrei dieses Verbrechens um seiner selbst willen gedenkt. Das sind
wir den Opfern dieses Genozids schuldig. Das waren die Gedanken, die
mich veranlasst haben, mein Buch zu schreiben.
MM: Sie behaupten, dass der Holocaust in
den ersten fünf Jahren nach Staatsgründung in Israel mehr oder weniger
verschwiegen worden ist. Wie begründen Sie das?
Arn Strohmeyer: Der Holocaust – also die
Verbrechen, die in den Vernichtungslagern geschahen – hat die jüdische
bzw. zionistische Bevölkerung in der vorstaatlichen Zeit in Palästina
wenig interessiert. Der Zionistenführer Ben Gurion hat immer betont,
Vorrang habe für ihn der Aufbau des jüdischen Staates in Palästina, um
den Holocaust müssten sich die internationalen jüdischen
Organisationen kümmern. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man dort den
Holocaust zunächst verschwiegen, vermutlich weil man ein schlechtes
Gewissen hatte, zu wenig zur Rettung dieser bedrohten Menschen getan
zu haben. Man warf den Überlebenden auch vor, sich nicht gegen die
Nazis gewehrt zu haben, sie hätten sich wie Lämmer zur Schlachtbank
führen lassen. Die Zionisten haben diese Menschen regelrecht
verachtet.
Denn in Israel galt das Ideal des „neuen
Juden“, eines starken wehrhaften Pioniertyps, der den jungen Staat
aufbauen sollte. In dieses Ideal passten die Überlebenden – geschundene,
gebrochene und erniedrigte Menschen – nicht, die große Mühe hatten, sich
mit der neuen Realität in Israel/Palästina zurechtzufinden. Ein anderes
Verhältnis zum Holocaust hat Israel erst mit dem Eichmann-Prozess
entwickelt. Ab diesem einschneidenden Datum haben die Zionisten ihr
instrumentalisierendes Holocaust-Gedenken entwickelt. Das alles habe ich
mir nicht ausgedacht. Das können Sie alles in dem Buch des israelischen
Historikers Tom Segev „Die siebte Million“ nachlesen. (Die
siebte Million sind die Überlebenden.)
MM: Auch haben Sie Probleme mit der
"jüdischen Idee der Auserwähltheit". Ist das nicht Antisemitisch?
Arn Strohmeyer: Die Auserwähltheit ist
ein uraltes Element des Judentums. Man glaubte durch den engen Bund
mit dem jüdischen Gott (Jahwe) eben ein auserwähltes Volk zu sein.
Davon hat sich bis heute der Auserwähltheitsglaube erhalten –
„Israel das Licht der Völker“. Umfragen in Israel bestätigen, dass
sehr viele Israelis das auch heute noch glauben. Man kann das arrogant
und dumm finden, aber was soll daran antisemitisch sein?
MM: Zurecht weisen Sie darauf hin, dass
die These der Einzigartigkeit für den Holocaust historisch betrachtet
kaum zutrifft. Andere Völker wurden teilweise viel intensiver bekämpft
und teilweise komplett vernichtet. Wozu bedarf es der Einzigartigkeit
des Verbrechens wenn doch zweifelsfrei Millionen von Menschen - nicht
nur Juden - in den Konzentrationslagern ermordet worden sind. Hat das
möglicherweise mit der Einzigartigkeit der Staatsgründung auf fremden
Gebiet zu tun?
Arn Strohmeyer: Ich denke, dass die
Idee von der Einzigartigkeit des Holocaust weniger mit der Singularität
der Staatsgründung zusammenhängt. Ich habe in meinem Buch geschildert,
wie dieser Einzigartigkeitsglaube entstanden ist. Es waren amerikanische
Juden – vor allem der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel – , die diese
Idee entwickelt haben. Die überlebenden Juden empfanden zum Teil großen
Scham und Schuld über ihre Erniedrigung in den NS-Lagern. Und in den
westlichen Staaten schlugen ihnen nach ihrer Rückkehr aus den Lagern
Ablehnung und Missachtung entgegen. Wiesel bestärkte sie darin, aus dem
Makel Stolz zu machen, ja eine neue Identität zu entwickeln. Das
bedeutete, dass man das genozidale Geschehen in den Lagern zum
einzigartigen, unvergleichlichen Ereignis machte. Erst das Betroffensein
von Juden gibt dem Geschehen in den Lagern die jüdisch verstandene
universalistische Bedeutung, so argumentierte Wiesel. Die extrem vom
Bösen bestimmte Aussonderung der Juden durch die Nazis wird so in die
Besonderheit und Einzigartigkeit dieser Menschen umgedeutet.
Was umgekehrt heißt: Ohne die jüdischen Opfer
wäre der Holocaust nicht einzigartig, dann wäre er ein „normales“
Verbrechen. Juden bzw. die Zionisten haben aus diesem Verständnis des
Holocaust die Ideologie von der Einzigartigkeit des Holocaust
entwickelt, die heute in der westlichen Welt das Verständnis des
Holocaust bestimmt. Es gab ja auch Millionen andere Opfer dieses
Genozids – Sinti und Roma, Polen, Russen usw., die wurden aber an den
Rand gedrängt, die gab es plötzlich nicht mehr. Der Holocaust wurde zum
einzigartigen jüdischen Ereignis. Auch das habe ich mir nicht
ausgedacht, man kann das alles in den Büchern des israelischen
Historikers Shlomo Sand nachlesen.
MM: Die BDS-Bewegung und jeder, der sich
gegen die Besatzungspolitik Israels stellt, gilt inzwischen als
antisemitisch. Führt der inflationäre Missbrauch des Begriffs nicht dazu,
dass er keine Wirkung mehr entfaltet, so dass die Antisemitismuskeule
nicht mehr abschreckt?
Arn Strohmeyer: Ja, das ist so. Der
Antisemitismus Begriff wird inzwischen so inflationär verwendet, dass er
inhaltlich nicht mehr viel wert ist. Der englische Philosoph Brian Klug
(ein Jude) hat einmal geschrieben: „Wenn alles Antisemitismus ist,
dann ist nichts mehr Antisemitismus!“
MM: In späteren Kapiteln ihres Buches
weisen Sie auf eine Art neuen McCarthyismus hin, der die Demokratie
gefährdet; inwiefern?
Arn Strohmeyer: Das hängt mit der
inflationären Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs zusammen. In
Deutschland herrscht ja eine regelrechte Antisemitismus-Hysterie.
Staatliche Aufpasser (sogenannte Antisemitismus-Beauftragte) wachen
darüber, dass jedes kritische Wort über Israels Politik sofort geahndet
wird bzw. dass Kritiker Israels durch Veranstaltungsverbote usw. gar
nicht erst zu Wort kommen. Kritische Journalisten werden entlassen oder
gar nicht erst eingestellt. Palästinenser dürfen ihr Narrativ, das heißt
das, was sie und ihre Familien in Israel/ Palästina erlebt haben, gar
nicht öffentlich vorbringen.
Das sind grobe Verstöße gegen das Grundgesetz,
das in Artikel 5 die Meinungs- und Pressefreiheit zusichert. Es gibt
aber löblicherweise noch Gerichte, die diesem obrigkeitsstaatlichen
Treiben einen Riegel vorschieben und die Meinungsfreiheit durch sehr
gute Urteile verteidigen. Ob man mit einer solchen Hexenjagd-Politik
gegen „Antisemiten“, wie sie in Deutschland praktiziert wird, den
Antisemitismus erfolgreich bekämpfen kann, wage ich zu bezweifeln. Denn
mit diesem Vorgehen räumt man Juden eine Sonderstellung ein und das
führt immer zu Antisemitismus.
MM: In Israel ist inzwischen der Kampf
zwischen den weniger religiösen westlichen Juden und den
Ultra-Orthodoxen unübersehbar ausgebrochen. Aktuell sehen wir, wie
selbst Juden außerhalb Israels sich von einigen Entwicklung in Israel
abwenden. Nur Deutschland steht weiterhin in Tiefer Nibelungentreue
selbst zu einer rechtsradikalen Regierung, die man hier nur
rechtskonservativ nennen darf. Warum unterstützt die deutsche Politik
von rechts bis link inklusive AFD ein Apartheid-System?
Arn Strohmeyer: Die deutschen Politik
unterstützt Israel seit Jahrzehnten mit allen Mitteln, weil sie
glaubt, dadurch die deutsche Schuld für den Holocaust abbauen und
Sühne und Absolution von Juden bzw. Zionisten zu bekommen. (Wobei
Juden und Zionisten gar nicht identisch sind, denn es gibt sehr viele
Juden, die gegenüber dem Zionismus sehr kritisch eingestellt sind.)
Die deutsche Politik hat sicher auch Angst vor dem
Antisemitismus-Vorwurf, wenn sie Israel gegenüber souveräner,
selbstbewusster und kritischer gegenübertreten würde.
Der israelische Historiker Alon Confino hat
kürzlich die Deutschen gemahnt, die richtigen Lehren aus dem Holocaust
zu ziehen – eben sich auf universalistische Werte zu beziehen, dass eben
alle Menschen gleich sind und ein Leben in Gerechtigkeit und Würde
führen können. Dazu gehört natürlich auch eine gewisse Distanz zu
Israel. Confino schreibt:
„Die Deutschen sollten nach einem Weg
suchen, den Antisemitismus zu bekämpfen und das Gedenken an den
Holocaust zu pflegen, aber zugleich auch die Kritik an Israel wegen der
Verweigerung gleicher Rechte für die Palästinenser als legitimen Teil
der Auseinandersetzung anerkennen. Das bedeutet nicht, dass man mit
dieser Kritik einverstanden sein muss. Es wäre jedoch ein erster Schritt
hin zu einer ernsthaften und öffentlichen Diskussion darüber, wie man
die richtigen Worte findet, um die Verpflichtung zur Erinnerung an den
Holocaust und die Kritik an Israel wegen der Verweigerung gleicher
Rechte für die Palästinenser miteinander in ein Verhältnis zu bringen.
Dies ist eine heikle, schwierige Herausforderung; es ist aber nicht
unmöglich, wenn der dafür notwendige moralische und zivile Mut vorhanden
ist, sich der Vergangenheit immer wieder neu zu stellen. Wenn es eine
Lehre gibt, die man aus dem Holocaust ziehen kann, dann ist es
diejenige, dass die Herausforderung die Anstrengung wert ist.“
Dem kann ich nur zustimmen. Es ist sehr
aufschlussreich, dass gerade kritische Juden oder Israelis die deutsche
Politik ermahnen, die universalistischen Werte einzuhalten und ein
kritisches Verhältnis zu dem Apartheidstaat Israel zu entwickeln.
Bei der AfD ist das etwas anderes. Diese Partei
bewundert Israel (wie alle rechtsextremen Parteien in Europa), weil das
zionistische Israel das Ideal eines homogenen ethnischen, also rein
jüdischen Staates verfolgt. Ein ähnliches Staatsmodell (auf „Arier“
bezogen) schwebt den Rechtsextremen auch vor, das ist altes völkisches
Gedankengut. So erklärt sich auch die Feindschaft gegen Ausländer und
Migranten in diesen Parteien.
MM: Sie leben in Norddeutschland aber
ihr Buch wurde in Österreich verlegt. Gibt es keine mutigen deutschen
Verleger mehr?
Arn Strohmeyer: Es ist sehr schwer, mit
solchen kritischen Gedanken, wie ich sie in Bezug auf die israelische
Politik vertrete, in Deutschland einen Verlag zu finden. Die Angst vor
dem Antisemitismusvorwurf ist zu groß. Einen Verlag gibt es aber, bei
dem habe ich schon mehrere Bücher gemacht. Der Verlag in Österreich, bei
dem mein letztes Buch (Falsche Loyalitäten. Israel, der Holocaust und
die deutsche Erinnerungspolitik) erschienen ist, hat kein Problem mit
kritischen Themen – nicht nur beim Thema Nahost und Israel. Der Mut und
die Zivilcourage dieses Verlages sind sehr anerkennenswert.
MM: Was ist ihr nächste Projekt?
Arn Strohmeyer: Ich arbeite gerade an
einem Buch über die Antisemitismus-Hysterie in Deutschland. Ich weiß
sehr wohl, dass es auch bei uns noch gefährlichen Antisemitismus gibt,
der muss auch bekämpft werden. Es gibt aber auch eine andere Version des
Antisemitismus-Vorwurfs, die allein die Funktion hat, Israels Politik
vor Kritik zu schützen. Anders gesagt: Wer Israels Politik kritisiert,
ist ein Antisemit. Das ist ein Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs,
weil er hier als politische Waffe benutzt wird. Dagegen muss man
vorgehen. Es kann und darf nicht sein, dass Menschen, die sich für die
Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten einsetzen, als
Antisemiten diffamiert werden.
MM: Herr Strohmeyer, wir danken für das
Interview.
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