Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Arn Strohmeyer
 

Muslim-Markt interviewt
Arn Strohmeyer - Autor und Journalist
12.4.2023

Arn Strohmeyer (Jahrgang 1942) ist  zunächst im Osten Deutschlands, später in Soest in Westfalen aufgewachsen. Nach dem Abitur in Göttingen folgte in Bonn das Studium der Philosophie, Soziologie und Slawistik, das er 1972 mit Magisterexamen abschloss. Danach folgten Tätigkeiten als Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen und einer politischen Monatszeitschrift. Er hat zahlreiche Bücher, Essays, Artikel, Interviews und Buchrezensionen veröffentlicht, die vor allem zwei Schwerpunktthemen behandeln: Griechenland und Naher Osten. Für seinen Einsatz für Griechenland - seiner zweiten Heimat - ist er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden.

Zu seinen letzten Büchern gehört "Das unheilvolle Dreieck. Deutschland, Israel und die Palästinenser" und "Wer rettet Israel - Ein Staat am Scheideweg". Der Muslim-Markt hat Arn Stohmeyer bereits im Jahr 2014 interviewt. Anlass zu dem neuen Interview ist sein neustes Buch "Falsche Loyalitäten - Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik".

Arn Strohmeyer ist verheiratet hat ein Kind, drei Enkel und lebt in Bremen.
(Foto mit freundliche Genehmigung von Arn Strohmeyer)

MM: Sehr geehrter Herr Strohmeyer, wir haben zuletzt vor 9 Jahre gesprochen. Hat sich seither irgendetwas für die Lage der unter Besatzung lebenden Palästinenser verbessert?

Arn Strohmeyer: Nein, nichts hat sich geändert. Die Zionisten verfolgen ihr Ziel sehr konsequent. Das Endziel lautet: ein rein jüdischer Staat in Palästina ohne Palästinenser. Anders kann man nicht erklären, was sich dort jeden Tag ereignet: Angriffe von Armee, Polizei und Siedlern auf die palästinensische Zivilbevölkerung, das heißt: Häuserzerstörungen, nächtliche Razzien, Verhaftungen usw. Ein palästinensisches Menschenleben zählt da nicht viel, das belegen die Zahlen der Toten. Durch die neue ultrarechte Regierung wird alles noch viel schlimmer. Einen kleinen Vorgeschmack hat man ja schon bekommen. Da ist ganz offen davon die Rede, „Dörfer zu zerstören“ und die Menschen zu „vertreiben“. Der Minister für „Sicherheit“ Itamar Ben-Gvir – ein schon wegen Terrorismus verurteilter Radikaler – bekommt sogar eine eigene „Nationalgarde“. Man kann sich vorstellen, was die Aufgabe dieser Truppe ist.

MM: Was war der Anlass zu ihrem neusten Buch "Falsche Loyalitäten - Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik"?

Arn Strohmeyer: Ich habe bei israelischen Autoren (z.B. Moshe Zuckermann und Tom Segev) gelesen, wie Israel die Erinnerung an den Holocaust für seine politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ziele und Zwecke instrumentalisiert. Sogar die Unterdrückung der Palästinenser wird mit dem Holocaust gerechtfertigt: „Wir haben den Holocaust durchgemacht – uns ist alles erlaubt!“ Außerdem werden die Palästinenser als die „neuen Nazis“ diffamiert. Daraus leiten die Zionisten auch das Recht ab, gewaltsam gegen die Palästinenser vorzugehen. Das ist natürlich historisch unsinnig und moralisch absurd, aber es ist die Realität in Israel und den besetzten Gebieten.

Die deutsche Erinnerung an den Holocaust ist aber mit der israelischen völlig identisch. Eine solche Gedenkkultur ist aber höchst bedenklich. Den Holocaust kann man nur universalistisch erinnern, das heißt, die Bedingung und der Ausgangspunkt für ein Erinnern an dieses ungeheure Verbrechen ist die Gleichheit aller Menschen. Alle Menschen auf dieser Erde haben das Recht auf ein Leben in Gerechtigkeit, Würde und Selbstbestimmung. Genau das gibt es aber in Israel für die Palästinenser nicht. Also sollte das deutsche Gedenken sich von dem zionistischen distanzieren und ein eigenes Erinnern entwickeln, das ohne fremdbestimmte Instrumentalisierung absichts- und zweckfrei dieses Verbrechens um seiner selbst willen gedenkt. Das sind wir den Opfern dieses Genozids schuldig. Das waren die Gedanken, die mich veranlasst haben, mein Buch zu schreiben.

MM: Sie behaupten, dass der Holocaust in den ersten fünf Jahren nach Staatsgründung in Israel mehr oder weniger verschwiegen worden ist. Wie begründen Sie das?

Arn Strohmeyer: Der Holocaust – also die Verbrechen, die in den Vernichtungslagern geschahen – hat die jüdische bzw. zionistische Bevölkerung in der vorstaatlichen Zeit in Palästina wenig interessiert. Der Zionistenführer Ben Gurion hat immer betont, Vorrang habe für ihn der Aufbau des jüdischen Staates in Palästina, um den Holocaust müssten sich die internationalen jüdischen Organisationen kümmern. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man dort den Holocaust zunächst verschwiegen, vermutlich weil man ein schlechtes Gewissen hatte, zu wenig zur Rettung dieser bedrohten Menschen getan zu haben. Man warf den Überlebenden auch vor, sich nicht gegen die Nazis gewehrt zu haben, sie hätten sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Die Zionisten haben diese Menschen regelrecht verachtet.

Denn in Israel galt das Ideal des „neuen Juden“, eines starken wehrhaften Pioniertyps, der den jungen Staat aufbauen sollte. In dieses Ideal passten die Überlebenden – geschundene, gebrochene und erniedrigte Menschen – nicht, die große Mühe hatten, sich mit der neuen Realität in Israel/Palästina zurechtzufinden. Ein anderes Verhältnis zum Holocaust hat Israel erst mit dem Eichmann-Prozess entwickelt. Ab diesem einschneidenden Datum haben die Zionisten ihr instrumentalisierendes Holocaust-Gedenken entwickelt. Das alles habe ich mir nicht ausgedacht. Das können Sie alles in dem Buch des israelischen Historikers Tom Segev Die siebte Million nachlesen. (Die siebte Million sind die Überlebenden.)

MM: Auch haben Sie Probleme mit der "jüdischen Idee der Auserwähltheit". Ist das nicht Antisemitisch?

Arn Strohmeyer: Die Auserwähltheit ist ein uraltes Element des Judentums. Man glaubte durch den engen Bund mit dem jüdischen Gott (Jahwe) eben ein auserwähltes Volk zu sein. Davon hat sich bis heute der Auserwähltheitsglaube erhalten – „Israel das Licht der Völker“. Umfragen in Israel bestätigen, dass sehr viele Israelis das auch heute noch glauben. Man kann das arrogant und dumm finden, aber was soll daran antisemitisch sein?

MM: Zurecht weisen Sie darauf hin, dass die These der Einzigartigkeit für den Holocaust historisch betrachtet kaum zutrifft. Andere Völker wurden teilweise viel intensiver bekämpft und teilweise komplett vernichtet. Wozu bedarf es der Einzigartigkeit des Verbrechens wenn doch zweifelsfrei Millionen von Menschen - nicht nur Juden - in den Konzentrationslagern ermordet worden sind. Hat das möglicherweise mit der Einzigartigkeit der Staatsgründung auf fremden Gebiet zu tun?

Arn Strohmeyer: Ich denke, dass die Idee von der Einzigartigkeit des Holocaust weniger mit der Singularität der Staatsgründung zusammenhängt. Ich habe in meinem Buch geschildert, wie dieser Einzigartigkeitsglaube entstanden ist. Es waren amerikanische Juden – vor allem der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel – , die diese Idee entwickelt haben. Die überlebenden Juden empfanden zum Teil großen Scham und Schuld über ihre Erniedrigung in den NS-Lagern. Und in den westlichen Staaten schlugen ihnen nach ihrer Rückkehr aus den Lagern Ablehnung und Missachtung entgegen. Wiesel bestärkte sie darin, aus dem Makel Stolz zu machen, ja eine neue Identität zu entwickeln. Das bedeutete, dass man das genozidale Geschehen in den Lagern zum einzigartigen, unvergleichlichen Ereignis machte. Erst das Betroffensein von Juden gibt dem Geschehen in den Lagern die jüdisch verstandene universalistische Bedeutung, so argumentierte Wiesel. Die extrem vom Bösen bestimmte Aussonderung der Juden durch die Nazis wird so in die Besonderheit und Einzigartigkeit dieser Menschen umgedeutet.

Was umgekehrt heißt: Ohne die jüdischen Opfer wäre der Holocaust nicht einzigartig, dann wäre er ein „normales“ Verbrechen. Juden bzw. die Zionisten haben aus diesem Verständnis des Holocaust die Ideologie von der Einzigartigkeit des Holocaust entwickelt, die heute in der westlichen Welt das Verständnis des Holocaust bestimmt. Es gab ja auch Millionen andere Opfer dieses Genozids – Sinti und Roma, Polen, Russen usw., die wurden aber an den Rand gedrängt, die gab es plötzlich nicht mehr. Der Holocaust wurde zum einzigartigen jüdischen Ereignis. Auch das habe ich mir nicht ausgedacht, man kann das alles in den Büchern des israelischen Historikers Shlomo Sand nachlesen.

MM: Die BDS-Bewegung und jeder, der sich gegen die Besatzungspolitik Israels stellt, gilt inzwischen als antisemitisch. Führt der inflationäre Missbrauch des Begriffs nicht dazu, dass er keine Wirkung mehr entfaltet, so dass die Antisemitismuskeule nicht mehr abschreckt?

Arn Strohmeyer: Ja, das ist so. Der Antisemitismus Begriff wird inzwischen so inflationär verwendet, dass er inhaltlich nicht mehr viel wert ist. Der englische Philosoph Brian Klug (ein Jude) hat einmal geschrieben: „Wenn alles Antisemitismus ist, dann ist nichts mehr Antisemitismus!“

MM: In späteren Kapiteln ihres Buches weisen Sie auf eine Art neuen McCarthyismus hin, der die Demokratie gefährdet; inwiefern?

Arn Strohmeyer: Das hängt mit der inflationären Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs zusammen. In Deutschland herrscht ja eine regelrechte Antisemitismus-Hysterie. Staatliche Aufpasser (sogenannte Antisemitismus-Beauftragte) wachen darüber, dass jedes kritische Wort über Israels Politik sofort geahndet wird bzw. dass Kritiker Israels durch Veranstaltungsverbote usw. gar nicht erst zu Wort kommen. Kritische Journalisten werden entlassen oder gar nicht erst eingestellt. Palästinenser dürfen ihr Narrativ, das heißt das, was sie und ihre Familien in Israel/ Palästina erlebt haben, gar nicht öffentlich vorbringen.

Das sind grobe Verstöße gegen das Grundgesetz, das in Artikel 5 die Meinungs- und Pressefreiheit zusichert. Es gibt aber löblicherweise noch Gerichte, die diesem obrigkeitsstaatlichen Treiben einen Riegel vorschieben und die Meinungsfreiheit durch sehr gute Urteile verteidigen. Ob man mit einer solchen Hexenjagd-Politik gegen „Antisemiten“, wie sie in Deutschland praktiziert wird, den Antisemitismus erfolgreich bekämpfen kann, wage ich zu bezweifeln. Denn mit diesem Vorgehen räumt man Juden eine Sonderstellung ein und das führt immer zu Antisemitismus.

MM: In Israel ist inzwischen der Kampf zwischen den weniger religiösen westlichen Juden und den Ultra-Orthodoxen unübersehbar ausgebrochen. Aktuell sehen wir, wie selbst Juden außerhalb Israels sich von einigen Entwicklung in Israel abwenden. Nur Deutschland steht weiterhin in Tiefer Nibelungentreue selbst zu einer rechtsradikalen Regierung, die man hier nur rechtskonservativ nennen darf. Warum unterstützt die deutsche Politik von rechts bis link inklusive AFD ein Apartheid-System?

Arn Strohmeyer: Die deutschen Politik unterstützt Israel seit Jahrzehnten mit allen Mitteln, weil sie glaubt, dadurch die deutsche Schuld für den Holocaust abbauen und Sühne und Absolution von Juden bzw. Zionisten zu bekommen. (Wobei Juden und Zionisten gar nicht identisch sind, denn es gibt sehr viele Juden, die gegenüber dem Zionismus sehr kritisch eingestellt sind.) Die deutsche Politik hat sicher auch Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf, wenn sie Israel gegenüber souveräner, selbstbewusster und kritischer gegenübertreten würde.

Der israelische Historiker Alon Confino hat kürzlich die Deutschen gemahnt, die richtigen Lehren aus dem Holocaust zu ziehen – eben sich auf universalistische Werte zu beziehen, dass eben alle Menschen gleich sind und ein Leben in Gerechtigkeit und Würde führen können. Dazu gehört natürlich auch eine gewisse Distanz zu Israel. Confino schreibt:

„Die Deutschen sollten nach einem Weg suchen, den Antisemitismus zu bekämpfen und das Gedenken an den Holocaust zu pflegen, aber zugleich auch die Kritik an Israel wegen der Verweigerung gleicher Rechte für die Palästinenser als legitimen Teil der Auseinandersetzung anerkennen. Das bedeutet nicht, dass man mit dieser Kritik einverstanden sein muss. Es wäre jedoch ein erster Schritt hin zu einer ernsthaften und öffentlichen Diskussion darüber, wie man die richtigen Worte findet, um die Verpflichtung zur Erinnerung an den Holocaust und die Kritik an Israel wegen der Verweigerung gleicher Rechte für die Palästinenser miteinander in ein Verhältnis zu bringen. Dies ist eine heikle, schwierige Herausforderung; es ist aber nicht unmöglich, wenn der dafür notwendige moralische und zivile Mut vorhanden ist, sich der Vergangenheit immer wieder neu zu stellen. Wenn es eine Lehre gibt, die man aus dem Holocaust ziehen kann, dann ist es diejenige, dass die Herausforderung die Anstrengung wert ist.“

Dem kann ich nur zustimmen. Es ist sehr aufschlussreich, dass gerade kritische Juden oder Israelis die deutsche Politik ermahnen, die universalistischen Werte einzuhalten und ein kritisches Verhältnis zu dem Apartheidstaat Israel zu entwickeln.

Bei der AfD ist das etwas anderes. Diese Partei bewundert Israel (wie alle rechtsextremen Parteien in Europa), weil das zionistische Israel das Ideal eines homogenen ethnischen, also rein jüdischen Staates verfolgt. Ein ähnliches Staatsmodell (auf „Arier“ bezogen) schwebt den Rechtsextremen auch vor, das ist altes völkisches Gedankengut. So erklärt sich auch die Feindschaft gegen Ausländer und Migranten in diesen Parteien.

MM: Sie leben in Norddeutschland aber ihr Buch wurde in Österreich verlegt. Gibt es keine mutigen deutschen Verleger mehr?

Arn Strohmeyer: Es ist sehr schwer, mit solchen kritischen Gedanken, wie ich sie in Bezug auf die israelische Politik vertrete, in Deutschland einen Verlag zu finden. Die Angst vor dem Antisemitismusvorwurf ist zu groß. Einen Verlag gibt es aber, bei dem habe ich schon mehrere Bücher gemacht. Der Verlag in Österreich, bei dem mein letztes Buch (Falsche Loyalitäten. Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik) erschienen ist, hat kein Problem mit kritischen Themen – nicht nur beim Thema Nahost und Israel. Der Mut und die Zivilcourage dieses Verlages sind sehr anerkennenswert.

MM: Was ist ihr nächste Projekt?

Arn Strohmeyer: Ich arbeite gerade an einem Buch über die Antisemitismus-Hysterie in Deutschland. Ich weiß sehr wohl, dass es auch bei uns noch gefährlichen Antisemitismus gibt, der muss auch bekämpft werden. Es gibt aber auch eine andere Version des Antisemitismus-Vorwurfs, die allein die Funktion hat, Israels Politik vor Kritik zu schützen. Anders gesagt: Wer Israels Politik kritisiert, ist ein Antisemit. Das ist ein Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs, weil er hier als politische Waffe benutzt wird. Dagegen muss man vorgehen. Es kann und darf nicht sein, dass Menschen, die sich für die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten einsetzen, als Antisemiten diffamiert werden.

MM: Herr Strohmeyer, wir danken für das Interview.

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