MM: Sehr geehrter Herr
Drewermann, Sie sind aus der katholischen Kirche ausgetreten, welcher
Kirche oder Gemeinschaft der Gläubigen gehören sie aktuell an?
Dr. Drewermann: Die
entscheidende Frage des Glaubens ist nicht, welcher Gemeinschaft man
angehört, sondern wie man als Person Gott gegenübersteht, und da findet
man viele, die als Schwestern und Brüder einem mit der gleichen
Einstellung sehr nahe stehen. Es gibt so etwas wie eine unsichtbare
Kirche, der wir als Menschen überall zugehören außerhalb der
organisierten Religionsfragen. Die schöne Formel dazu lautet auf
Arabisch „Allahu Akbar“ (Gott ist am Größten), Gott ist immer größer und
man kann ihn nicht einordnen in bestimmte Verbände, Institutionen,
Organisationsformen, womöglich noch unter staatlicher Aufsicht. Alles,
was Gott in unserem Herzen bewirkt, ist Freiheit, Mitmenschlichkeit,
Brüderlichkeit. Es gibt viele Leute, die mir sehr nahe stehen, ganz
unabhängig von ihrer verfassten Religion.
MM: Können Sie ein
Beispiel nennen zur Veranschaulichung?
Dr. Drewermann: Ein
Mann, den ich sehr verehre, ist Mahatma Gandhi. Er konnte sagen: „Ich
bin Muslim, Hindu und Christ; und wer eine andere Religion mit den Augen
des Gläubigen betrachtet, wird feststellen, dass Gott zu allen Zeiten
einem jeden Volk und einem jeden Menschen sagt, was er zum Leben
braucht.“ Dafür wurde er ermordet von einem Hindu Fanatiker, aber er
hatte vollkommen recht. Ich glaube auch, dass Muhammad genau das wollte.
Er hat im Quran betont, dass er keine neue Religion bringen wollte, er
wollte lediglich auf Arabisch im siebenten Jahrhundert das sagen, was
Gott Adam bei seiner Schöpfung, Noah in der Sintflut, Abraham bei seiner
Berufung, Moses auf dem Berg Sinai und den Propheten gesagt hat: „Ich
bin Euer Herr“. Gott ändert sich ja nicht. Er sagt immer das Gleiche.
Wir müssen es nur verstehen.
MM: Einer ihrer
wichtigsten Thesen lautet, dass der Mensch sein Heil nur dadurch
erlangen kann, dass er in der Gnade Gottes im Inneren seiner Seele sich
selbst findet und nur dadurch auch zu Gott kommt. Prophet Muhammad sagt:
„Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“. Können sie diese These
aus ihrer Sicht etwas erläutern?
Dr. Drewermann: Sie
setzt voraus, dass wir Menschen im Grunde uns verloren haben und
erlösungsbedürftig sind. Ein Hauptgrund, der in den Zwiespalt mit sich
selber führt, ist Angst. Und im Hintergrund das Gefühl, abgelehnt zu
sein, schuldig zu sein, bestraft werden zu müssen. Darum entsteht ein
ständiger Versuch, nach außen etwas richtig zu machen auf Kosten unserer
eigenen persönlichen Entwicklung. Das kann bereits seit Kindertagen so
vorgegeben sein durch den Druck der Gesellschaft, durch den Druck in der
eigenen Familie, durch den Druck der Bezugsgruppen, in denen wir uns
zurechtfinden sollen. Entscheidend ist, dass wir das Gefühl
zurückgewinnen und die Überzeugung lernen, akzeptiert zu sein für unser
Dasein ohne Vorleistung. Das ist das, was man im Grunde Gnade nennt.
Eigentlich beginnt der
Quran mit den ersten Sätzen der ersten Sure „Im Namen Allahs den
Gnädigen …“. Da ist eine Macht, die möchte, dass es uns gibt, die uns
umgreift, in allem, was wir sind, die weiß, dass wir nur aus Staub
geformt sind, aber die uns begabt mit dem Atem der Seele, der Sehnsucht
nach Gott und dem Gespür, geliebt zu sein. Das ist die Macht, die dahin
führt, dass wir uns selber akzeptieren können, dass wir den Mut
gewinnen, selbst zu sein. Es ist so wie jetzt im Frühling. Die Blumen
wagen sich womöglich durch die Reste des noch gefrorenen Bodens durch
das Licht der Einstrahlung der Sonne in ihre Freiheit hinaus, reifen zu
sich selber, gewinnen die Gestalt, die mit ihnen gemeint ist, zeigen
sich in der Schönheit und der Größe, die in ihnen angelegt ist. Das
heißt, sich selber finden in Vertrauen, in Güte, Wärme, Licht und
Hoffnung. Das alles können wir uns nicht selber sagen, das muss uns
gesagt werden von außen, und dafür steht die absolute Güte, die wir Gott
nennen.
MM: Das Abendmahl
ist ein zentrales Thema des Christentums, viele Christen, aber auch
viele Muslime wissen nicht, dass dem Abendmahl eine ganze Sure im
Heiligen Quran gewidmet ist, nämlich die Sure fünf: Der Tisch. Wundersam
erhält Jesus auf Bitten seiner Apostel einen gedeckten Tisch vom Himmel.
Die Szene ist die Vervollständigung eines ebenso wundersamen Mahls
voller Früchte, das die Heilige Maria zuvor erhalten hat und welches
ihren Onkel Zacharias in Erstaunen versetzt hatte. Wie kommt es, dass
die Anhänger des Abendmahls heute ausgerechnet die größte Abneigung
gegenüber Muslimen verspüren, die ihnen am nächsten im Glauben sind?
Dr. Drewermann: Das
ist eine vielschichtige Frage. Zunächst einmal handelt es sich bei dem
Tisch, der vom Himmel kommt, um eine eigene Begebenheit in der
Apostelgeschichte im Neuen Testament. Es ging um die Frage, wie man die
rituelle Abgrenzung voneinander aufgrund bestimmter Speisearten der
Juden zu überwinden vermochte. Das war für die frühen Christen ein
großes Problem gegenüber den Juden. Die Frage lautete, ob man Menschen,
die nicht jüdischen Herkunft sind, einladen konnte an Jesus zu glauben,
indem man die Speisegebote aufhebt: Man darf z.B. kein Schweinefleisch
essen, aber man darf Rindfleisch essen, und derartige Unterschiede. Der
Apostel Petrus sieht, wie ein großes Tuch herabkommt vom Himmel, und
darin sind alle möglichen zum Essen angeboten Speisen (Apg. 10,9-16).
Die Unterschiede rein kultureller Herkunft darf man nicht mit Gottes
Gesetzgebung verwechseln. Auch hier gilt „Allahu Akbar“. Das ist ein
Satz, der uns durch dieses ganze Gespräch begleiten wird.
MM: … und das
Abendmahl …?
Dr. Drewermann: Im
Abendmahl hat Jesu selber in eine ähnliche Richtung gezeigt. Jesus hat
die Menschen eingeladen, die draußen standen. Es waren zum Beispiel
Samariter, ein Volk, das von den Juden missachtet und geächtet wurde. Er
hat sie eingeladen. Auch hat er die Zöllner eingeladen. Das waren
Kollaborateure des Besatzungsregimes der Römer in Palästina. Er hat
Menschen eingeladen, die nicht entsprechend den bürgerlichen Regeln
lebten. Eine Dirne konnte zu ihm kommen und ihn die Füße salben. Eine
Ehebrecherin sollte verurteilt und gesteinigt werden. Jesus hat das
Recht gegeben, sie zu steinigen, wenn jemand nur glaubt, dass er ohne
eigene Schuld sei. Einen solchen gibt es nicht. Das ist eine Vertiefung
und Veränderung der menschlichen Einstellung zu sich selber, zu den
anderen Menschen, zu der Kulturüberlieferung, zu den gesellschaftlichen
Reglements. Das ist eine Einladung an alle, am meisten an diejenigen,
die nie daran glauben konnten, dessen würdig zu sein. Jesus wollte das
sogenannte Böse nicht mit Gesetzen, mit Ausgrenzung und Strafpraktiken
abwehren, unterdrücken, niederkämpfen. Er wollte die inneren Gründe der
Verlorenheit, der Hoffnungslosigkeit aufarbeiten durch Zuwendung,
Begleitung, Verstehen, Geduld. „Ich lade euch ein, ihr seid nicht länger
die Ausgegrenzten. Ihr begreift am allermeisten, wie nötig ihr Güte und
Gnade habt, ein Ende der Vorurteile und der Verurteilungen. Und ich lade
euch ein an einen Tisch ohne Grenzen.“ Das ist der Ursprung des
Abendmahls Jesu. Dann kam allerdings die verfasste Kirche, die
Christenheit, die viele Gründe gefunden hat, die Botschaft zu
moralisieren. Man durfte nur an den Tisch des Herrn, wenn man dessen
würdig war, man musste bestimmte Vorleistungen erfüllen und die lagen
dann vor allem in der Lebensführung und in der Korrektheit des
orthodoxen Glaubens.
MM: … und die
spätere Abneigung gegenüber Muslimen …?
Dr. Drewermann:
Genau die genannten Gründe waren später in Bezug zu den Muslimen ein
Grund, sie auszusperren. Sie waren keine Christen. Warum das so ist, ist
ein Paradoxon. Ich sagte eben, Muhammad wollte von Gott so reden, dass
es alle Menschen erreicht. Das hat er getan in einer Weise, welche die
Formeln der kirchlichen Lehrregulierung reduziert hat. Man kann sprechen
auf vielerlei Weise von Gott, aber all das sind nur Teile der Hundert
Namen Gottes. Das alles ist relativ. Kein Name ist wirklich das, was
Gott ist. So etwas steht auch schon im dritten Kapitel des zweiten
Buches Moses in der Bibel. Im Buch Exodus fragt Moses Gott bei seiner
Erscheinung: „Was ist dein Name, wie soll ich von dir reden zu den
Leuten?“ Und der Gott Israels, der Einzige, der Eine, antwortet
sinngemäß: „Was soll das? Du fragst mich nach meinem Namen? Ich bin da,
als der ich da sein werde. Das ist mein Name.“ Es gibt keine Formel,
kein Begriff, kein Dogma. Wenn du am Boden liegst, bin ich da als
derjenige, der dich aufrichtet. Wenn du hochmütig bist und dein Haupt
zum Himmel streckst, bin ich derjenige, der dir beibringt, wie deine
eigene Größe in einem bestimmten Maß völlig ausreicht, um geliebt und
akzeptiert zu werden. Wenn du dich verirrst, steh ich dir im Wege und
verhindere, dass du immer weiter in die Irre gehst. Wenn du lahm
geworden bist und gar nicht mehr gehen kannst, nehme ich dich bei der
Hand und stärke dich. Ich werde da sein, als der ich da sein werde. Das
ist die Erfahrung, die du immer machen kannst. Und das ist der einzige
Name Gottes, der in der Bibel steht in der Überlieferung des Moses.
Eigentlich sollte man mit dem, was Muhammad bringen wollte, genau das
Gleiche verbinden. Und dann ist das Erste, was man lernt als Israelit:
„Höre Israel. Der Herr unser Herr ist ein einiger Herr.“ Ich sag das mal
in den biblischen Original auf Hebräisch, es klingt ein bisschen wie im
Arabischen: „Schma Israel, Adonai Eloheinu, Adonai Echad!“ Gott, unser
Herr ist ein einziger Gott. Das ist, was Muhammad bringen wollte. Die
Zersplitterung in den Vorstellungen zählen zu den 1001 Namen, die man
nicht absolut setzen darf, sondern die nur hilflose Formeln sind, um
sich verständlich zu machen. Goethe, der hier bestimmt nicht im Verdacht
steht, ein Anti-Christ zu sein, hat einmal sehr schön den Auftrag des
Moses mit der Botschaft Jesu verbunden. Ich zitiere das einfach:
Jesus
fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
kränkte seinen heil’gen Willen.
Und so
muss das Rechte scheinen
Was auch Mahomet gelungen:
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen.
Dahinter steht der Gedanke,
dass die Christen Jesus selber vergöttlicht haben, was dieser eigentlich
nicht wollte. Er wollte nicht, dass man ihn anbetet, er wollte, dass man
seinen Worten folgt, die wiedergeben, was Gott in unser Herz geschrieben
hat. An dieser Stelle liegt eigentlich die Trennung zwischen Christen
und Muslimen, aber auch zwischen Christen und Juden. Ein bedeutender
jüdischer Theologe und Autor Schalom Ben-Chorin hat einmal gesagt. „Gott
anzubeten, einigt Christen und Juden“. Und ich füge hinzu: Christen,
Juden und Muslime. Wir heben gemeinsam unsere Augen zum Himmel, reichen
einander die Hände und beten gemeinsam das Vaterunser, das können wir
alle. „Aber zu Jesus beten trennt Christen von Juden“ und es trennt auch
die Christen von den Muslimen. Ich halte das für einen wichtigen
Anspruch an die christliche Theologie, dass sie den Ursprung des
Vertrauens, den Jesus uns schenken wollte, gemeinsam an seiner Seite zu
leben, lehrt. Dann hören wir auf mit Dogmen so von Gott zu reden und
auch von der Person Jesu, dass man es auf Hebräisch oder Arabisch gar
nicht ausdrücken kann. Die Christologie ist ein kompliziertes
Gedankengebilde, das Jesus selbst so nicht verstanden hätte, geschweige
denn, dass er es für gut befunden hätte. Da muss das Christentum lernen
von dem Propheten aus Mekka und dann sicher von dem Propheten aus dem
Sinai und von dem Propheten aus Nazareth. Sie alle haben dieselbe
Absicht, den einen Gott allen Menschen gleichermaßen zu schenken und die
Grenzen aufzuheben, die sich nur in Formelversen verfestigt haben. Einem
Christen bedeutet Jesus alles, weil er die absolute Güte Gottes den
Menschen in seiner Person geschenkt hat; er ist wie das Licht der Sonne,
von dem alles lebt. Aber das ist ein persönliches Verhältnis, kein
ontologisches. Wer sagt: ich glaube Jesus als Gott, der sagt im Grunde:
für mich steht die Person und Botschaft Jesu im Zentrum meines Lebens;
von ihm und auf ihn lebe ich. „Wer mich sieht, sieht den Vater“, sieht
Gott als Vater, sagt Jesus im Johannes-Evangelium (Joh. 14,9). So zu
vertrauen ist etwas anderes als eine metaphysische Interpretation als
Dogma zu erklären.
MM: Sowohl Christen
als auch Muslime glauben an den Geist Gottes, der in jedem Herzen ruht
und wirken kann, wenn das Ich, also die eigene Seele, aufgegeben wird.
Wie kommt es, dass in Deutschland der christliche Glaube so extrem in
die Defensive geraten ist?
Dr. Drewermann: Mit
dem Ich und der Seele müsste ich noch ergänzen: Wenn wir nur auf uns als
Person schauen, werden wir uns in lauter Angst und Schuldgefühlen
verengen, dann leiden wir an uns selber, und dann denken wir nur noch an
uns selber. Das sieht dann aus wie Egoismus, ist aber lediglich eine
Reaktion auf eine Art seelischer Erkrankung. Davon sollten und müssten
wir geheilt werden durch ein sich vertiefendes Vertrauen, das uns
Menschen schenken, in deren Hintergrund Gott selber mit uns redet.
Warum im vermeintlich
christlichen Abendland nur noch so wenig geglaubt wird, hat Gründe, die
nicht ganz einfach zu erläutern sind und die mittelbar auch die
Interpretation des Quran und die Lehrtradition des Islam betreffen
werden. In Europa haben wir seit dem 16. Jahrhundert drei kulturelle,
große Bewegungen erlebt. Das ist in der Renaissance die Wiederentdeckung
der griechisch-römischen Antike, in der Reformation, die
Wiederentdeckung des Neuen Testamentes, der Botschaft Jesu gegen die
Überlieferung des Papsttums der römischen Kirche; und dann die
Französische Revolution, die Befreiung von politischer Unterdrückung und
Diktatur. Das alles kann man am besten zusammenfassen in der Bewegung
der Aufklärung im 18. Jahrhundert, vor allem in Deutschland verbunden
mit dem Namen Immanuel Kant. Dabei herausgekommen sind zwei Ergebnisse,
die geistesgeschichtlich außerordentlich wichtig geworden sind. Das eine
ist: Wir haben in Wiederentdeckung der Griechen, unter Anregung auch der
arabischen Kultur, im Abendland die Naturwissenschaften entwickelt. Von
den Arabern haben wir gelernt, dass man Experimente machen muss und die
Interpretation der Experimente mit mathematischen Formeln zum besten
Verständnis der Natur betreiben kann. Vor allem haben wir gelernt, dass
wir die Natur als eine Einheit verstehen müssen. Sie folgt ihren eigenen
Gesetzen, sie lässt keine Lücken, sie ist rational durch den Kausalsatz
geregelt. Das ist das eine: Dieses Dogma der Naturwissenschaftlichen
Denkweise, der Methodologie, die im 16. Jahrhundert beginnt. Daraus, um
1620 mit René Descartes, ist im Abendland – ohne dass man es
beabsichtigt hätte – etwas eingetreten, das dem überlieferten Glauben,
wie man ihn aus der Bibel entnehmen zu können meinte, diametral
widerspricht.
Die Probleme sieht man
heute in jedem Schulunterricht: Woran glaubst du: an den Urknall oder an
die Schöpfung Gottes? Stammt der Mensch vom Affen ab oder hat Gott ihn
unmittelbar geschaffen? Das sind nur zwei Fragen von vielen. Ist das
Leben spontan aus der Evolution entstanden oder ist das ein besonderer
Eingriff Gottes? Was ist davon zu halten, dass die Bibel, aber auch der
Quran immer wieder davon spricht, dass Gott eingreift in die menschliche
Geschichte? Dass er dies und das punktuell bewirkt hat, um seinen Willen
durchzusetzen? An all diesen Stellen sagt die Naturwissenschaft: Es gibt
kein Eingreifen von außen. Es gibt in diesem Sinne keine Wunder; die
ganze Veranstaltung der Natur ist ein einziges Wunder. Aber es ist nicht
denkbar, dass durch immer wieder neue Korrekturen wir besser verstehen
könnten, wie die Welt abläuft. Wir müssen sie erklären entsprechend den
Gesetzen, die wir in ihr finden und die wir nach unserem Verständnis zur
Erklärung brauchen können. Daraus folgt, dass die Theologen, ob im
Christentum, Judentum, Islam, die Aufgabe hätten, ihren Glauben so
auszulegen, dass er nicht länger im Widerspruch zu den
Naturwissenschaften steht. Wann immer das nicht passiert, spaltet sich
das Bewusstsein. Man hat auf der einen Seite entweder den Unglauben zur
Folge – man hat nur noch die Naturwissenschaften und braucht keine
Religion mehr. Oder man verfälscht den Glauben zu einer Art von
Aberglauben. Dann muss man alles Mögliche für möglich halten. Immer
wieder greift Gott ein; die ganze Welt ist unbegreifbar, weil von Gott
her immer Neues gewirkt wird. Man begründet nicht mit der Kausalität,
sondern durch den Willen Gottes – Das geschieht heute in unserer Kultur
in Deutschland zum Beispiel durch die Esoterik. Da beruft man sich
freilich nicht mehr auf Gott, sondern macht die Natur selber zum
Fantastischen. Es ist alles möglich. Man beruft sich sogar auf
Naturgesetze, die man missversteht, auf die Quantenphysik etwa. Das
Ganze ist im Grunde ein reiner Aberglaube. Wir müssen auf zwei
verschiedenen Ebenen zu einer Gemeinsamkeit finden von Wissen und
Glauben, von Naturwissenschaft und Religion, und das ist dringlich
nötig, weil die gesamte Naturwissenschaft nicht eine einzige Frage
unseres menschlichen Daseins beantworten kann. Sie erklärt die äußere
Natur. Sie gibt aber dem menschlichen Leben keinen Sinn. Sie tröstet
nicht gegen den Tod. Sie trocknet nicht die Tränen der Traurigkeit, sie
gibt uns keinen Halt inmitten einer Welt, in der es so viele
Katastrophen gibt, dass die Berufung auf einen Gott, der dauernd
eingreifen und helfen könnte, zu einem Trug führt und zum Atheismus
drängt.
Deshalb glaube ich generell
sagen zu sollen: Wenn wir von Gott sprechen, können wir das nicht anders
als im Rahmen der 1001 Namen, die wir Allah geben. All dies sind Bilder.
Wir können von Gott nicht anders reden als in der Sprache des Mythos.
Gott greift ein, wie wenn da etwas Gegenständliches wäre. Diese Sprache
aber ist innerlich symbolisch, bildhaft zu nehmen. Sie verändert unser
Existenzverständnis, unsere Lebensführung. Sie verändert unser Dasein.
Aber sie arrangiert nicht irgendetwas draußen, damit es uns dann besser
ginge. Sie bewahrt uns nicht vor Schwierigkeiten und Katastrophen, doch
sie kann uns innerlich stärken, um durchzuhalten und uns selber als
Menschen zu bewahren und zu bewähren. Das ist die Art, wie Gottes Gnade
mächtig ist in unserem Herzen. Und diese Leistung, die religiösen
Traditionen als Symbole zu interpretieren, steht noch an. Das ist ein
riesiges Spannungsfeld, das nicht gelöst worden ist im 19. Jahrhundert,
nicht mit Darwin im 20. Jahrhundert, nicht mit der Physik und der
Biologie. Mit dem durchgehenden Anspruch der Naturwissenschaften, die
Welt erklären zu können, ist ja nicht gegeben, dass wir die Welt
wirklich verstehen würden, dass wir uns selber inmitten der Welt
verstehen könnten. Dafür brauchen wir die Religion. Nur: Das ist eine
ganz andere Ebene der Deutung, des Zugangs zur Wirklichkeit. Immanuel
Kant, der Hauptvertreter der Aufklärung im deutschen Sprachraum, hat
beides zu Recht unterschieden: Die Naturwissenschaften brauchen die
Kategorien des Verstandes. Die Religion basiert auf den Ideen der
Vernunft. Beides ist methodisch streng zu unterscheiden, ist aber nötig
in Wechselwirkung, damit wir richtig leben können.
Ein anderes kommt noch
hinzu, das wir im 19. Jahrhundert gelernt haben – eigentlich noch bevor
die Evolutionstheorie Darwins Einzug gehalten hat in die Lehrbücher: Das
ist: historisch zu denken. Das ist eine Entdeckung, die wir auch der
Renaissance mit verdanken, im 16. Jahrhundert schon. Es ist nicht egal,
in welcher Zeit, in welcher Kultur, unter welchen Denkbedingungen, von
welchen Autoren, in welcher Sprache etwas gedacht und geschrieben wird;
ob das Griechen sind 400 vor Christus oder Römer 300 nach Christus, ob
es Sachsen sind unter Karl dem Großen im 8. und 9. Jahrhundert. Wir
müssen berücksichtigen, in welcher Zeit historisch etwas geäußert wird,
und deshalb alles, auch die Bibel, auch den Quran, auch das Neue
Testament historisch zu verstehen lernen. Angesprochen wurde das im 19.
Jahrhundert auch in der Pädagogik. Pestalozzi entdeckt, dass Kinder
nicht einfach kleine Erwachsene sind, sondern dass sie langsam reifen.
Jeder könnte das wissen. Aber natürlich müssen wir uns in ein Kind
hineindenken und mitfühlen, um zu begreifen, wie es denkt, um dem Kind
gerecht zu werden. Wie reden wir mit einem Kind, so dass es verstehen
kann? Wir erzählen ihnen Märchen, die haben eine Wahrheit, es sind
kindesgemäße Erzählungen. Später können wir das Kind begleiten,
erwachsen zu werden in all dem, was es gelernt hat, und erläutern, was
gemeint ist. Und wir können deshalb historisches Denken und die Suche
nach Wahrheit miteinander verschmelzen.
Auch das war eine große
Auseinandersetzung, die dahin geführt hat, dass viele im sogenannten
christlichen Abendland gar nicht mehr glauben. Man hat gesehen, dass in
der Bibel keine historisch korrekten Berichte abgeliefert werden, keine
Informationen, sondern Erzählungen, die unser Leben verändern wollen.
Wenn da erzählt wird, wie Jesus Kranke heilt, ist das eigentlich ein
Bericht, der uns zeigt, wie wir mit Menschen, die an sich leiden,
umgehen sollten, wie wir sie bei der Hand nehmen, ihnen die Hand auf die
Stirn legen, ihre Augen berühren, sie aufrichten in Ihren
Verkrümmtheiten und Gelähmtheiten. Wie gehen wir so miteinander um, dass
Gottes Macht in seiner Güte über die Ängste, die Gehemmtheiten, die
Selbst-Unterdrückungsform uns hinausreifen lässt. Das sind die
wirklichen Wunder, von denen da erzählt wird, und dann müssten wir sie
auch so interpretieren. Stattdessen ist daraus geworden, dass die Bibel
unwahr ist, weil sie nicht historisch korrekt berichtet. Man hat
verleugnet, dass sie in Bildern erzählt. Man wollte sie festschreiben
auf Tatsachen in Raum und Zeit, die man historisch fixieren könnte, und
hat dann das Ergebnis dogmatisiert. So musste man dann glauben oder man
wäre ein Ungläubiger.
Ich glaube, man muss diese
Gegensätze überwinden, man muss lernen von Gott zu sprechen mit den 1001
Namen Allahs. Man muss von Gott sprechen dürfen so poetisch wie in der
Sprache der Musik, in der Sprache der Malerei, vor allem in der Sprache
der Dichtung. Dann ist man frei, dann redet man so, dass es Menschen
nicht einengt unter kirchlicher oder lehramtlicher Kontrolle, sondern
dass man die Seele zum Himmel erhebt und berühren lässt in den
Anschauungsformen, die uns helfen Gott zu sehen. Was wir sehen, ist
nicht Gott, aber Bilder als die einzige Weise, in der wir ihn sehen
können. Und die Symbolsprache des Mythos ist international, sie lebt in
jedem Menschen.
Der Unterschied ist
absolut: In den Dogmen trennen wir entlang den Glaubenslinien der
zuständigen Religionsformen Menschen von Menschen und machen aus Gott
selber den Lieferanten von Stacheldraht. Wir trennen sogar innerhalb
derselben Religion immer wieder voneinander; dann ist es unendlich
wichtig, ob jemand sunnitisch, schiitisch oder sonstwie religiös ist.
Das alles gehört aber in gewisser Weise zusammen und ist eine Einheit
unter den Augen Gottes. Reden wir von Gott in Bildern, regen wir in
allen die gleichen Schwingungen an. Die Bilder versteht jeder, die Musik
begreift jeder, die Dichtung fühlt jeder im eigenen Herzen. Das versöhnt
die Menschen miteinander. Und so sehen wir im Neuen Testament, dass
Jesus auch selber in Bildern von Gott redet in Gleichnissen. Dichterisch
spricht er von Gott. Das sollten wir wieder lernen. So gewinnen wir die
Einheit, die auch im Abendland aus dem Atheismus zurückführen kann
entlang den wichtigen Fragen, die sich dem menschlichen Leben stellen.
Ob in der Bibel oder im Neuen Testament, ob im Quran – das Problem
stellt sich in allen Religionsformen.
MM: Auch Muslime
glauben, dass das Wunderwirken Gottes nicht willkürlich ist, sondern
bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt, die Gott sich selbst auferlegt hat.
So besteht ein wichtiger Bestandteil der Geburt Jesu in der Wundergeburt
durch die Heilige Maria, die zuvor keinen Mann berührt hat. Es ist wohl
kaum übertrieben zu behaupten, dass es inzwischen mehr Muslime in
Deutschland gibt als Christen, die an jene Wundergeburt glauben. Auch
Sie vertreten die Ansicht, dass dieses Wunder nicht wörtlich zu
verstehen sei, was ja Teil ihres Bruches mit der katholischen Kirche
gewesen sein soll. Kann Gott Ihrer Ansicht nach nicht auch durch Wunder
wirken?
Dr. Drewermann: Wenn
wir Wunder wollen, denken wir wie Papst Benedikt. Das steht im 3. Band
seines Jesus-Buches, in dem er schreibt, dass Gott machen kann, was er
will, weil er allmächtig ist, also auch die Natur an jeder Stelle
beeinflussen und ändern kann in ihrem Verlauf. Dann muss man in diesem
Sinne an Wunder glauben. Ich glaube aber, man missversteht Gott in
dieser Weise. Epikur hat schon 300 v.Chr. das Problem auf eine ganz
einfache Formel gebracht. Ist Gott gütig und allmächtig? Dann müsste er
die Übel in der Welt ändern. Warum aber bestehen sie dann? Oder aber
Gottes ist zwar gütig, aber nicht allmächtig, er möchte die Übel ändern,
aber er kann es nicht. Dann fehlt ihm etwas von dem, was dazu gehört,
dass er Gott sei. Oder aber Gott ist gar nicht gütig, wohl aber mächtig.
Dann wäre er bösartig. Auch das kann nicht mit Gott vereinbart werden.
Oder er ist weder gültig noch mächtig. Dann ist er gar kein Gott – Aus
der Vorstellung, Gott kann machen, was er will in der Welt, würde die
Pflicht folgen, als erstes die Katastrophen, die furchtbaren Ereignisse
in der Welt zu verhindern, zu vermeiden und aufzuheben. Es passiert aber
nicht. Stattdessen geschieht etwas, das niemandem hilft, und das man nun
zum Dogma erhebt, weil man die symbolische Erzählungsweise bei Matthäus
und Lukas, gattungsgeschichtlich eine Legende, fälschlich als einen
Tatsachenbericht liest.
MM: Aber ist das
nicht eine zu naive Theologie? Denn unabhängig davon, ob Gott „direkt“
eingreift, oder die Katastrophe die Folge der Schöpfung ist, so oder so
ist es die Folge der Schöpfung Gottes.
Dr. Drewermann:
Tatsächlich kann man beispielsweise ein Erdbeben wie jetzt im Südosten
der Türkei am simpelsten erklären durch die Plattentektonik. Und Gott
greift nicht ein. Warum sollte er etwas Fantastisches wie eine
Jungfrauengeburt tun, das lediglich, weil es bei Matthäus und Lukas
bildhaft erzählt wird, als historisches Faktum geglaubt werden muss?
Allerdings wird das Bild auch im Quran aufgegriffen. Aber es ist ein
Bild. Schon im alten Ägypten ist der Pharao in dem Sinne jungfräulich,
als er am Tage seiner Thron-Besteigung erkannt wird als jemand, der
nicht von einem irdischen Vater gezeugt ist, sondern unmittelbar vom
Gott des Windes und des Lichts. Weil das so ist, hat man im Abstand von
etwa 2000 Jahren vor Christus diese Tradition, wie man einen König
verehrt, den jüdischen Messias mit dieser Symbolsprache verbunden. Man
braucht da keine Wunder-Erklärungen, wie Gott eingreift in die normale
Biologie bei der Erzeugung von Menschen. Es ist eine
Existenz-Beschreibung dessen, was Jesus uns zu sagen hat. So möchte ich
das jetzt am einfachsten wiedergeben: Wenn ich sage, Sie sind das Kind
von Vater und Mutter, kommen sofort die Biologen und sagen, das können
wir genetisch erklären. Dann kommen die Neurologen und sagen, wir
interessieren uns für die embryologische Entwicklung vor der Geburt.
Welche Einflüsse waren da? Dann kommen die Psychologen, die
Psychoanalytiker und sagen: Wir interessieren uns jetzt für die
Einflüsse, unter denen Vater und Mutter Sie erzogen haben. Die
Soziologen kommen und sagen, wir werden erklären, dass Ihre Eltern
Kultur-Agenten der Gesellschaft waren. Das ist es, was Sie heute an der
Universität über sich selber in den verschiedenen Fächern lernen können:
Biologie, Neurologie, Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie und noch
hinzugefügt Ökonomie: Die Gesellschaft formt sich entlang den
kapitalistischen Gesetzen. Das alles zusammen definiert Sie als Kind
Ihrer Eltern, im Grunde als Sklaven äußerer Kausalität. Wir haben es zu
tun mit lauter Naturwissenschaften. So werden Sie nie dahin
herauszufinden, wer sie gegenüber Gott sind. Das aber wäre jetzt der
Satz einer wirklich im Bilde gesprochen jungfräulichen Geburt. Es
beschreibt, was Sie vor Gott sind. Um zu begreifen, was mit Ihnen
gemeint ist, was Gott mit Ihnen gesehen und vorgesehen hat, müssen Sie
sich ihm gegenüber definieren, als sein Geschöpf interpretieren. Dann
ist jedes Menschenleben ein reines Wunder, das hervorgegangen ist einzig
aus den Händen Gottes, bestimmt zu einer Freiheit, die sich der
Außenlenkung in den Gesetzen der Naturwissenschaft entzieht; eine
Unmittelbarkeit in ihrer persönlichen Begründung. Das hat Jesus uns
vermitteln wollen. Das war die Art, in der er sich als Kind Gottes
interpretiert, als Sohn Gottes. Aber das ist nicht Physik, das ist ein
Relationsverhältnis, das uns im Rahmen des Vertrauens unseres eigenen
Lebens zur Nachahmung und zum Selbstverständnis übergeben worden ist.
Der Unterschied ist
deutlich. In einem Fall haben wir ein Wunder, das sich vor 2000 Jahren
spektakulär, einmal und völlig überflüssig ereignet hat. Im anderen Fall
haben wir eine bildhafte Beschreibung, wie wir leben sollten in einer
Form, die alles verändert, die uns endgültig befreit, die unser kleines
Ich Gott gegenüberstellt und die ganze Welt für uns verändert. Ich
glaube, diese letzte Interpretation ist die religiös richtige und an die
hätte auch Jesus selber geglaubt. Er hätte es abgelehnt zu sagen: Du
bist auf wunderbare Weise in einer Form entstanden, die etwas macht, das
in jedem Sinne physikalisch oder biologisch einzigartig ist. So hat
Jesus nie geredet. Er konnte aber sagen – das steht im 2. Kapitel des
Lukas-Evangeliums – als Maria ihn suchen kam in Jerusalem im Tempel:
Wusstet ihr denn nicht, dass ich da sein muss, wo das Haus meines Vaters
ist? Da definiert Jesus sich als Kind seines Vaters unmittelbar und hört
auf, das Kind seiner Eltern zu sein. Das ist in etwa, was gemeint ist
mit dem Bild der jungfräulichen Geburt. Wir sind Königskinder,
Gotteskinder, souverän und einzig Gott verpflichtet.
MM: Wir haben unsere
Probleme mit der Behauptung Ihrer Interpretation. Und im Islam ist die
Wundergeburt weder überflüssig noch einzigartig, sondern geradezu eine
Notwendigkeit im historischen Kontext.
Dr. Drewermann: Das
kann ich nachvollziehen, denn schließlich betrachten Sie die Dinge aus
einer anderen Perspektive. Aber auch Quran-Interpreten werden lernen
müssen, die religiösen Urkunden historisch in ihrer kulturellen Herkunft
und vor allem entsprechend ihrer Erzählform zu verstehen: Man kann die
Wahrheit von Mythen, Legenden, Märchen und Sagen nicht finden, wenn man
sie als Nachrichten von Ereignissen im Raum und Zeit interpretiert.
Diese Erzählungen sind nicht historisch, sondern wollen unser
Verständnis von Historie ändern.
MM: Für Muslime ist
der Heiligen Quran weder eine Sammlung von Mythen, Legenden, Märchen und
Sagen, noch eine historische Erzählung, sondern das unverfälschte Wort
Gottes, welches in das Herz des besten Aller Menschen herabgesandt
worden ist. Und Quran-Interpreten berücksichtigen seit 1400 Jahren
historische, kulturelle und andere Kontexte. Aber sie haben ein anderes
Verständnis von Wundern – die im Übrigen auch Gesetzmäßigkeiten
unterliegen – als Ihr Verständnis. Da es in diesem Interview aber nicht
um den Islam, sondern um Ihr Verständnis gehen soll, hier die vielleicht
bedeutsamste religiöse Frage aus islamischer Sicht an einen Christen:
Ist für Sie der irdische Jesus Geschöpf? Oder anders gefragt: Im
schiitischen Islam heißt es, dass es keinen Unterschied zwischen Gott
und Muhammad gibt, außer dass der eine Schöpfer ist und der andere
Geschöpf, aber jeder Atemzug Muhammads erfolgte im Namen Gottes. Wäre
solch eine Vorstellung über Jesus im Christentum akzeptabel?
Dr. Drewermann: Für
mich absolut. Es gibt keinen Unterschied. Ich glaube, was Sie über
Muhammad beschreiben, ließe sich eins zu eins auch auf Jesus übertragen.
Und ich denke, dass die beiden sich als Propheten gut verstehen. Wenn
wir im Christentum Jesus metaphysisch als Gottes Sohn erklären, erhalten
wir eine sehr komplizierte Dogmatik. Wir müssen jetzt sagen,
entsprechend der christlichen Lehre nach dem Glaubensbekenntnis von
Nizäa und Chalcedon: Dass Jesus die zweite Person einer dreifaltigen
Gottheit ist, die in zwei Naturen, einer göttlichen und menschlichen,
kraft ihrer göttlichen Person, diese beiden Naturen vereint hat. So
können Sie, wenn Sie das nachsprechen, in der Theologie mit „sehr gut“
bei der Prüfung durchkommen. Aber ich behaupte, Sie sprechen lediglich
nach, was Sie selber nicht verstehen. Da sind Unterschiede zwischen
Person und Natur, von Person und Relation, die zu endlosen
Streitigkeiten geführt haben. An jeder dieser Schritte der
Dogmatik-Entwicklung wurden ganze Völkergruppen ausgegrenzt. Die
Wahrheit ist: Wir alle sind Kinder Gottes. Mitten in den Basaren konnte
Jesus mit den Menschen, die Bettler waren, reden, so dass sie ihre Würde
wiederbekamen in den Händen Gottes. Das heißt doch, Geschöpf Gottes zu
sein, eine unverbrauchbare Würde zu haben. Aber das ist jetzt keine
Frage mehr der Metaphysik und der Sprachregelung mit Begriffen und
Worten, in denen kein Vater, keine Mutter ihren Kindern sagen könnten,
was sie tröstet, wenn ihre eigenen Angehörigen gestorben sind, in denen
kein Lehrer in der Schule sagen kann, was die Schüler lernen sollen,
wenn sie ins Leben treten. Wir müssen wieder die einfache Sprache
lernen, die Jesus geredet hat im Neuen Testament, eine dichterische
Sprache, und uns selber dementsprechend interpretieren.
Dann heben sich diese
Unterschiede zwischen den monotheistischen Religionen auf. Mit Jesus
beten, sagte ich eben, vereinigt die verschiedenen biblischen Religionen
Judentum, Christentum und Islam. Und so könnten wir jetzt auch sagen.
Mit Jesus, mit Gott versöhnt zu sein, vereinigt alle Anhänger der
biblischen Religion. Christen müssen in diesem Sinn lernen, sich neu
einzulassen mit den Muslimen. Dass sie das nicht tun, ist eine der
folgenschweren Differenzen, die wir heute noch haben. Was Muhammad
angeboten hat, war es, an den einen Gott zu glauben. Er hat immer wieder
gesagt: „Gott zeugt nicht“. Ich würde gerne sagen, dass Muhammad uns die
Existenzialisierung geschenkt hat, mit denen wir die Bilder des Neuen
Testamentes oder der Bibel insgesamt, aber dann auch des Quran
interpretieren, so dass sie uns im Leben verändern, aber nicht in
falscher Weise an Magie und Wunder und fantastische Dinge glauben
lassen, die das Leben nicht interpretieren, sondern verfälschen. Das ist
das Geschenk Muhammads an alle Menschen, insbesondere an die Christen.
Er hat die Schriftbesitzer Lügner genannt, weil sie ihre eigenen
Überlieferungen auf falsche Weise wörtlich nehmen. Und im Quran steht
immer wieder: Gott zeugt doch nicht Kinder! Wie soll denn das gehen? Das
ist ein Mythos, aber im Mythos finden wir Bilder, die zeigen, wie wir
selber leben. Es ist korrekt zu sagen, dass wir geboren sind aus
Heiligem Geist. Aber dann müssen wir es geistig interpretieren.
MM: Auch wenn das
Thema wirklich sehr spannend ist, kommen wir jetzt zu einem doch
thematischen Bruch. Kommen wir zu einer aktuellen Frage. Sind Sie immer
noch für den Austritt Deutschlands aus der Nato?
Dr. Drewermann: Das scheint
eine politische Frage zu sein, und dann ist sofort eine machtpolitische
Streiterei im Gange. Muss man nicht Russland bekämpfen? Brauchen wir
nicht die Nato? Müssen wir nicht Waffen liefern? Brauchen wir nicht
Raketen? Wie viele hunderttausend Tote bedürfen wir, um Russland zu
besiegen? Wir sind voll im Kampfmodus. Mein Anliegen aber ist kein
politisches, sondern ein zutief religiöses. Es kann nicht richtig sein,
dass wir Achtzehnjährige dahin trainieren, wie sie das Töten lernen
unter Befehl auf den Kasernen aller Staaten dieser Welt. Gott ist größer
als alle Staaten dieser Welt, auch das ist ein Bekenntnis, von dem
eigentlich Muhammad geprägt war. Und es wäre ein Bekenntnis zum Frieden,
wirklich zum „Islam“. Wenn Sie die wunderschöne Alhambra betreten in
Granada, steht da immer wieder geschrieben auf Arabisch: Es gibt nur
einen Sieger, einen Eroberer, das ist Gott selber. Also hat es doch
keinen Sinn, Menschen niedertreten zu wollen in Berufung auf Gott. Zum
Himmel aufzuschauen bedeutet – ich spreche jetzt mit den Worten Jesu –
dass Gott regnen lässt über Gute und Böse und die Sonne scheinen lässt
über Gerechte und Ungerechte. Auch geht es darum, die Fehler des anderen
näher zu verstehen und zu überlieben, indem man begreift, was ihn dahin
getrieben hat, wieviel Angst man ihm beigebracht hat, dass er so
handelte; und es hinwegzustreichen aus seiner Seele, zu überwinden durch
Güte ist die eigentliche Aufgabe religiös. Also müssten wir abrüsten
statt aufzurüsten, die Militärblöcke auflösen anstatt sie
weiterzuführen. Und das hätten wir in Europa sogar haben können. 1989
gab es das Friedensangebot Gorbatschows. Dadurch haben wir in
Deutschland die Wiedervereinigung geschenkt bekommen von den Russen. Und
statt daraus eine Kultur des Friedens abzuleiten entgegen dem Wahnsinn,
sich wechselseitig zu bedrohen mit der Ankündigung: Wir haben
Wasserstoffbomben, wir können beim Austrag eines Kegels im
Anfangsstadium bereits nach Belieben zehn Millionen Tote, 100 Millionen
Tote produzieren, und das zeigt unsere Macht, unsere Größe, unsere
Würde, unser Einschüchterungspotenzial. In Wirklichkeit zeigt es nur
unsere Niedrigkeit und Gemeinheit, Menschen einschüchtern zu können,
indem man sie mit Angst immer wieder knechtet. Das zeigt nicht Größe,
sondern Niedrigkeit, Angst, Gemeinheit, Herrschsucht, Unmenschlichkeit.
Wie kann man eine Politik richtig finden, die mit der Ausrottung von
Hunderttausenden von Menschen glaubt, einen Sieg zu erringen? Dieses
ganze Denken ist Wahnsinn. Genau das aber machen wir uns zu eigen in
ganz großem Stil, indem wir weiter Nato-Mitglieder sein wollen und mal
eben 100 Milliarden für die Aufrüstung zur Verfügung stellen. Kein
Problem der Erde lösen wir damit wirklich, weder den Hunger noch die
Krankheit noch die Armseligkeit ganz großer Bereiche dieser Welt noch
die Verwüstung der Natur noch vermeintlich die Rettung des Klimas. Ein
Wahnsinnsprogramm ist das, an dem wir scheitern müssen, wenn wir so
weitermachen, wie wir gerade wollen. Das hört ja nicht auf.
Ich bin nicht nur gegen die
Nato oder für den Austritt aus der Nato. Ich bin gegen die
Militarisierung der Politik im Ganzen. Ich will, dass mein Land wieder
von den Gedanken meines Freundes Mahatma Gandhi mit Berufung auf den
Mann aus Nazareth regiert wird. Nur Gewaltfreiheit führt zum Frieden,
das sind die Worte Jesu in der Bergpredigt: Glücklich nenne sich die
Menschen, die es wagen, wehrlos zu bleiben in dieser Welt. Denen gehört
das verheißene Land Gottes. Sie werden heimisch werden unter den Händen
Gottes. Und wenig später: Glücklich nenn ich die Menschen, die Frieden
bereiten. Sie sind Kinder Gottes.
Da sind wir bei dem Wort,
auf das wir eben zu sprechen kamen. Wie verfährt man als gezeugt von
Gott, indem man friedensfähig wird im Vertrauen zur Überwindung der
Angst. Wie versöhnt man Menschen miteinander? Indem man nicht im
Kampfmodus gegeneinander antritt, sondern abgerüstet Vertrauen bildet,
nicht Macht durchsetzen will, sondern Interessengegensätze ausgleicht
durch Verständigung. Das alles wäre doch möglich. Dann brauchen wir
keine Nato mehr; ganz einfach. Sie ist das Gegenteil von Frieden.
Seitdem sie existiert, seit 1949, parallel zur Gründung der
Bundesrepublik West, haben wir Krieg, Krieg und Aufmarsch gegen
Russland. Und jetzt schon wieder! Ich will nicht, dass man 70 Jahre
später genau das wieder macht, was 1952 in Deutschland West begonnen
wurde: Krieg gegen Russland – Wir Deutschen hätten im übrigen Grund,
darüber nachzudenken. Wir haben uns verabschiedet 1945 aus Russland mit
sage und schreibe 27 Millionen toten Sowjetbürgern. Das ist das
Vierfache dessen, was wir angerichtet haben in der Shoa, dem Massenmord
an den Juden. Das eine tut uns mit Recht bitterleid, das andere
scheinbar überhaupt nicht. Da können wir ohne Skrupel irgendwie so
weitermachen. Immer ist der Russe gefährlich. Das war er aber nie. Die
Deutschen hatten es nötig, allein im 20. Jahrhundert, zweimal nach
Russland einzufallen. Ausgerechnet wir Deutschen verweigern uns dem, was
im Angebot war, dem Friedensschluss zwischen Deutschland und Russland.
Das hätten wir 1989 in Dankbarkeit für die Wiedervereinigung tun müssen.
Aber dann hätten wir den Vormachtansprüchen der Amerikaner nicht nur mit
Skepsis, sondern auch mit Widerstand entgegentreten müssen. Dann hätten
wir zum Beispiel die Nord-Stream 2 Pipeline. Wir hatten keine Inflation,
keine wahnsinnigen Preise bei den Mietkosten, bei den Heizkosten, bei
den Nahrungsmittelkosten, eine Abspaltung des unteren Drittels der
Bevölkerung von der Oberschicht, die immer reicher wird. Wir hätten so
vieles anders, wenn wir wirklich Frieden wollten. Dann müssten wir die
Machtpolitik – wir sind die einzigen, die Sieger im Kalten Krieg, uns
gehört unipolar die Welt, wir müssen erst Russland niederzwingen und
anschließend China in die Mangel nehmen – ein für alle Mal aufgeben. Sie
ist weder ein religiöses noch ein menschliches Programm. Dann ist Gott
größer als all dieser Wahn, den die Staaten über ihre Bürger verhängen –
Auch das wäre schön, wenn es im Islam mal gelernt würde. Auch da haben
wir denselben Unfug. Gott wird reklamiert von den Umayyaden, den
Abbasiden, von den Mamelucken, von wem Sie wollen. Jeder hat da seinen
Gott; obwohl Er immer größer ist, machen alle sich größer im Namen
Gottes. Auch diesem widersinnigen Unsinn sollte man in der islamischen
Kultur keinen Raum mehr geben. Wenn Gott immer größer ist, dann sollten
wir immer kleiner werden und uns miteinander an die Hände nehmen und zum
Himmel gemeinsam lernen aufzuschauen. Und vor allem gilt für alle
Kriegsbereitschaft im Quran: Wer eines Menschen Leben nimmt, ist wie
einer, der aller Menschen Leben nimmt.
MM: Ja, inschallah.
Sicherlich wissen Sie, wie meine Wenigkeit als konvertierter Schiit zu
Umayyaden, Abbasiden usw. steht. Aber bleiben wir in der aktuellen
Politik. Ein kaum zu übersehendes Problem der aktuellen westlichen Welt
besteht in der Finanzwirtschaft, die sich die göttliche Eigenschaft zu
eigen machen wollte, indem sie „Es werde“ sagt und das Geld meint. Bei
der „Verteidigung“ der Ukraine ist es kein Problem, aus dem Nichts
hunderte Milliarden zu „erschaffen“, aber bei der Versorgung der Armen,
Obdachlosen, Alleinerziehenden und so weiter scheint es unmöglich. Warum
ist der Kapitalismus so herzlos?
Dr. Drewermann:
Auch, da hätte die westliche Welt vom Islam etwas lernen können.
Muhammad hat im Erbe des Judentums und das wieder im Erbe schon der
mesopotamischen Keilschrift-Gesetzgebung die Zinsnahme verboten. Man hat
bereits 2000 vor Christus gelernt, dass eine Gesellschaft nicht stabil
verbleiben kann, wenn die Schulden bis zum Widerspruch der
Lebensfähigkeit der Schuldner hochgetrieben werden. Also hat man sich
überlegt, dass spätestens nach sieben Jahren so etwas wie ein
Insolvenzrecht nötig ist. Die Art, wie die Schulden hochgetrieben
werden, liegt gerade darin, dass die Kreditgeber bei den Schuldnern
Zinsen erheben, um ihren Reichtum zu vermehren. Das ist unmenschlich,
und es ist im Ganzen auch sozial ungünstig. Es spaltet die Gesellschaft,
statt sie zu vereinen. Auch das ist ein ganz wichtiges Erbe des Islam:
Man darf keine Zinsen nehmen. Daraus ergibt sich idealerweise ein
Unterschied im Bankengeschäft.
Ein ganzes großes Übel im
Kapitalismus liegt in der Ausbeutung der Armen zum Geldgewinn in den
Händen der Reichen. Und das geschieht eben über die Zinsschraube. Auch
da kann man sich berufen auf das Neue Testament. Gebt jedem, der euch
bittet, sagt Jesus mal. Soll heißen: Achtet nicht auf eure Gewinne,
sondern auf die Not, die der andere hat. Und gebt ihm, was er zum Leben
braucht – Ich übersetze das jetzt mal ein Stück: Der andere hat wirklich
kein Geld mehr, um seine Miete zu bezahlen. Er droht vor die Tür gesetzt
zu werden; er hat kein Geld, um seine Stromrechnung zu bezahlen. Er
droht mitten im Winter keine Heizung mehr zu haben. Er hat kein Geld, um
seine Kinder richtig zu erziehen. Also: Er braucht dringlich Geld. Und
was machst du jetzt? Du kannst sagen: Eine ganz günstige Gelegenheit!
Ich gebe Geld, aber das muss er mir zurückzahlen. Die Weltbank schraubt
sich langsam wieder auf 3% Zinsen hoch, und das ist für die meisten
verschuldeten Staaten zu viel. Aber wenn Sie als Privatperson ihren
Kredit überziehen, auf Ihrem Girokonto, sind Sie bei 10 bis 14% Zinsen.
Das ist die Logik der Banken. Ein gutes Geschäft ist da zu wittern: Wir
geben dir gerne das Geld, das du brauchst, bezahle ruhig deine
Stromrechnung und die nächste Miete, weil dann bist du in der Pflicht:
Zu einem bestimmten Zahltag wollen wir das Geld zurückgezahlt haben. Und
wenn das nicht geht, kassieren wir alles, was du je dein Eigentum
genannt hast, deine Bonität, mit der wir überhaupt gewagt haben, dir
Geld in die Hand zu geben.
Die Frage Jesu ist ganz
simpel: Was bist du für ein Mensch, wenn du in die Augen eines
leidenden, hilfsbedürftigen Hilfesuchenden schaust und nur daran denkst,
ihn mit Zinsen zu erpressen? Wenn Du nur darauf sinnst, wie mache ich
mein Geschäft, wie werde ich an seiner Armut nur selber noch viel
reicher? – Wovon ich da spreche, ist der Fingerabdruck des Kapitalismus
im Ganzen. Wir haben im kommenden Sommer mit aller Wahrscheinlichkeit
wieder eine Dürre-Katastrophe, die von Südafrika den ganzen Osten bis
nach Somalia hinauf sich ausdehnen wird. Daraus wird hervorgehen
Knappheit der Nahrungsmittel, verstärkt noch jetzt durch die
Lieferschwierigkeiten aus der Ukraine, weil wir ja gerade Krieg führen
müssen. Was wird die Folge sein? Es wird das Angebot der Nahrungsmittel
reduziert werden, es wird die Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigern.
Jeder Papagei, wenn er bei der Volkswirtschaftslehre zuhört, wird das
nachsprechen können und sagen: Angebot und Nachfrage diktieren den
Preis. Und was lernt er dabei, wenn er als Papagei sitzt bei der
Nahrungsmittel-Börse in Chicago? Ein richtiger Money-Maker hat jetzt
seine Chance. Wenn er jetzt nicht zugreift, müsste er ein Idiot sein.
Weil Nahrungsmittel-Knappheit droht, weil Millionen Hungernde zubuche
schlagen, haben wir ein Riesengeschäft. Die Nahrungsmittel Preise
steigen, und darauf spekulieren wir noch im Voraus, bevor das passiert,
treiben wir durch die Spekulationsgewinne die Preise für die
Nahrungsmittel noch ein Stück höher, um selber daran zu verdienen. Das
kostet Millionen Tote. Aber es ist unser Geld, und also wird das der
Kapitalismus machen. Und das ist lediglich im Zins Geschäft so, dem der
Islam widerspricht, wie ich gerade sage, jedenfalls, wenn man ihn
korrekt auslegt.
Dazu kommt noch, um den
Kapitalismus zu verstehen, die ständige Konkurrenz-Wirtschaft im Kampf
der einen Unternehmer gegen die anderen Unternehmer. Das führt dahin,
dass man sich durchsetzen muss auf dem Markt, eigentlich
neodarwinistisch: Wen kann man an die Wand drücken? Das kann man nur
durch zwei Methoden: Man muss zum einen den Zugriff auf die Ressourcen
möglichst billig halten. Das bedeutet die Ausbeutung der Länder der
Dritten Welt, wo die Ressourcen lagern – In Ihrem Handy werden Sie
Coltan haben in den Akkus, importiert aus dem Kongo. Der Kongo ist reich
an Bodenschätzen, und deshalb eines der ärmsten Länder der Welt,
ausgebeutet von denjenigen, die als Kapitaleigner an die Ressourcen
heranwollen. Die beuten sie jetzt genauso aus wie eben noch die
Chicago-Nahrungsmittelbörse den Notstand von Hungernden. Der eine Weg
ist also die Unterdrückung der Länder der Südhalbkugel. Das hat
politisch enorme Konsequenzen: Regime-Change, Umsturz der Regierung,
Durchsetzung der Kultur, die sich politisch gebildet hat. Das hat eine
lange Spur: Krieg in Somalia, Krieg im Irak, Krieg in Libyen, Krieg in
Syrien, Krieg in Afghanistan. Endlose Kriege alleine seit 1991 in den
Händen der Amerikaner rein kapitalistisch. Wieder Millionen Tote, über
die wir hinweggehen. Das andere ist, wir können billiger produzieren,
indem wir die Lohnkosten senken. Das bedeutet Ausbeutung der
Arbeitskräfte. Karl Marx vor allem hat das beschrieben schon im 19.
Jahrhundert. Die beiden Methoden sind also: Unterdrückung der Länder der
Südhalbkugel zur Ausbeutung der Ressourcen und Lohndumping zur
Ausbeutung der Arbeiter. Das führt dahin, dass wir die
Entwicklungsländer inzwischen dahin treiben, mit Billiglohn-Angeboten
gegeneinander Konkurrenz zu machen. Auch das ist typisch kapitalistisch.
Ich sag das jetzt ganz einfach im Sinne Jesu 6. Kapitel bei Matthäus:
Ihr könnt nur eins von beiden haben, ihr müsst euch entscheiden, Gott
oder der Mammon!
Und dann stellen wir fest,
dass wir im sogenannten christlichen Abendland kein Christentum haben,
sondern den Kapitalismus als Religion verehren. Der Kapitalismus
beantwortet all die Fragen, die wir als Menschen haben und die mal
ursprünglich von der Religion beantwortet wurden – Wer bist du
eigentlich? Gerade noch sagten wir, ein Kind Gottes wäre die Antwort der
Religion. Nein, nur wenn du reich bist, dann bist du etwas, dann hast du
Macht, dann kannst du dich vorzeigen, wenn du erfolgreich wirst, wenn du
anderen auf den Kopf trittst, dann bist du jemand, dann achtet man dich,
dann bist du groß, dann kommst du in den Medien vor, dann stellst du
etwas dar. Dein Einkommen wird aus dir den Menschen machen, als den wir
dich formen. Wie wirst du gesund? Du brauchst die richtigen Ärzte dazu,
du brauchst die richtigen Versicherungen dazu. Wenn du Geld hast, kannst
du alles haben und dir alles leisten, was bist du dann? Nur: Wie arm
sind wir als Menschen, wenn wir den Reichtum brauchen, der uns zu
Menschen machen soll? Wir versklaven uns dabei selber. Wir glauben nicht
an Gott, wir glauben an das Geld. Und auch das sage ich nochmal gerne
mit Mahatma Gandhi: „Es hat ein Christentum im Abendland nie gegeben,
sonst wären von dort nicht ständig immer neue Kriege ausgegangen“,
spricht er; „man glaubt dort nicht an Gott, man glaubt einzig ans Geld.“
Das ist die Erklärung.
MM: Was wäre denn
die Alternative?
Dr. Drewermann: Wir
könnten zum Anfang unseres Interviews zurückkehren: Wir könnten
begreifen buchstäblich, dass wir nichts sind: nur geformt als Staub in
den Händen Gottes. Wie armselig wir alle sind, wie sehr wir gemeinsam
bedürfen der Güte, des Verstehens, der Gnade als des Geschenks unseres
Lebens aus den Händen Gottes, in der Verpflichtung, das bisschen, was
wir haben, selber zu begreifen als Geschenk zum Weitergeben. Das wäre
das Ende des Kapitalismus. Man darf nicht mit der Armut anderer
Geschäfte machen, man muss mit dem, was wir selber haben, als Geschenk
den anderen beschenken, um ihn zu befreien von der Knechtschaft seiner
Armseligkeit. Das gilt moralisch und seelisch als Vergebung und das gilt
durch Schuldenreduktion im wirtschaftlichen und Finanzpolitischen.
Beides ist ein Hauptanliegen der Botschaft Jesu gewesen, und das hat
manche Anknüpfung mit dem, was auch Muhammad im Quran beschreibt.
MM: Meinen sie
nicht, dass wir alle einen Art Great Reset im Herzen brauchen?
Dr. Drewermann:
Genau das meine ich.
MM: Aus Ihren
Vorlesungen wissen wir, dass Sie auch im Iran waren. Was haben Sie dort
erlebt?
Dr. Drewermann: Ich
liebe den Iran sehr und habe ihn mindestens zweimal besucht. Ein
persisches Sprichwort besagt: Isfahan ist die halbe Welt. Es ist ein
wunderbarer Ort. Ich habe bereits in der Schule bei der Lektüre des
Herodot erste gedankliche Beziehungen zu den Persern aufgebaut. Die
alten Perser waren die ersten, die Menschheitsrechte eingeführt haben
und einführen mussten entsprechend der unglaublichen Ausdehnung ihres
Reiches mit den verschiedenen Kulturen. Dieses Kulturerbe müssten wir
berücksichtigen, anstatt den Iran zu bekämpfen. Dann kommen hinzu die
Mystiker, die im Iran gewirkt haben.
Ich weiß nicht, was Sie in
der Vorlesung gehört haben. Einstmals war ich im Iran untergebracht in
einer Jugendherberge, in der auch eine Truppe iranischer Soldaten
untergebracht war. Und sie brachten mir bei, was für sie Frömmigkeit
ist. Was mich traurig macht, ist, dass ich glauben muss, dass nach dem
wahnsinnigen Krieg, der von Amerika angezettelt wurde zwischen Irak und
Iran, die meisten dieser jungen Leute getötet worden sind. Ich habe den
Iran lieben gelernt, doch er steht da als Zielscheibe amerikanischer
Politik. Auch das ist ein Wahnsinn. Man hat 1953 den damaligen
iranischen Präsidenten Mossadegh, weil er das persische Erdöl
verstaatlichen wollte, vom CIA stürzen lassen, und seitdem gilt der Iran
als Feindnation im Kampf beim Zugriff ums Erdöl gegen Sowjet-Russland.
Ohne jedes Verständnis hat man das Schah-Regime eingesetzt. Man hat
natürlich nie verstanden, wie ein alter Mann aus Paris kommt, um als
Ayatollah vor allem die Landbevölkerung zu faszinieren. Amerika hat den
Iran nie verstanden, aber es macht den Iran zum Kampfobjekt
schlechterdings, und man verfälscht die Texte. Angeblich hätte der
ehemalige Präsident Ahmedinedschat gesagt, der Staat Israel sollte
ausgerottet werden. Tatsächlich hatte er gesagt: Israel soll von der
Landkarte verschwinden. Das ist etwas ganz anderes. So etwas haben wir
in Westdeutschland auch gesagt: Die DDR muss verschwinden. Das ist ein
Regime, das in dieser Weise nicht Bestand haben darf in der Geschichte.
Dafür brauchen wir keinen Krieg, dafür bräuchten wir Verständigung. Man
hat den Satz aber als Ausrottungsbefehl gegen Israel missinterpretiert,
und das nutzt man, um endlos weiter zu rüsten gegen den Iran.
MM: Unsere
abschließende Frage ist: An welchen Projekten arbeiten Sie aktuell?
Dr. Drewermann: Es
ist gerade rausgekommen der dritte Band eines Buches, das den Titel hat:
„Richtet nicht“. Das ist das Wort Jesu am Ende der Bergpredigt im 7.
Kapitel des Matthäus. Und es gibt wieder, was Jesus im Ganzen sagen
wollte: Wir alle leben von Vergebung. Aber nicht, indem wir uns auf den
Thron setzen und uns anmaßen über Menschen zu richten, sie schuldig zu
sprechen und sie zu bestrafen, sie abzuurteilen, sie hinzurichten, statt
sie aufzurichten. So machen wir Menschen nicht gütiger, nicht
menschlicher. So flößen wir Ihnen Angst ein, so schreiben wir sie fest
in den Verwirrungen ihrer Seele. So helfen wir nicht, sondern
unterdrücken andere zum Machtgewinn. Und davon müssen wir lassen. Das
habe ich mit vielen Fragen zu belegen versucht, die auch im Islam eine
große Aufmerksamkeit haben: Gibt es wirklich die Unterstellung, Menschen
sind frei, so dass man sie für schuldfähig erklären kann. Wie versteht
man den Glauben an die Führung Gottes? Ich habe versucht, die
Rechtsphilosophie mit der Theologie im Christentum zu verbinden, vor
allem aber mit den Problemen der Psychoanalyse und der
Naturwissenschaften. Gibt es für Neurologen Willensfreiheit, gibt es
Freiheit, wenn unser Willen selber in seiner Freiheit eine Angst
auferlegt, die neue Zwänge bedingt? Können wir im Raum der Politik und
der Gesetzes-Wahrnehmung von einer Freiheit sprechen, wenn wir bis zum
Atomkrieg unsere Unfreiheit zelebrieren nach dem Motto: Wir müssen
handeln, wir brauchen Krieg, wir brauchen Militär, wir brauchen
Sicherheit, und dabei vergessen wir, dass unsere Sicherheit
grundsätzlich nur die Sicherheit des anderen sein kann? Und dann kommt
ein zweites Büchlein Anfang Juni heraus. Das trägt den Titel. „Nur im
Frieden gehören wir uns selber“, untertitelt „die Bergpredigt als
Zeitenwende“. Das ist eine Herausforderung dessen, was Olaf Scholz
politisch gerade definiert. Am 27. Februar des letzten Jahres fügte er
den Begriff „Zeitenwende“ in das politische Narrativ ein. Doch was er
damit meint, ist keine Zeitenwende, sondern ein barbarischer Rückfall um
Jahrtausende in eine Kultur, die wir eigentlich gehofft hatten, mal
hinter uns zu lassen: Wie bedroht man sich wechselseitig mit
militärischer Macht immer abscheulicher, immer grausiger in Akzeptanz
millionenfachen Mordens. Indem man die Angst hochtreibt und die
Menschlichkeit verliert. Das ist keine Zeitenwende. Das ist ein Salto
Mortale zurück in jede beliebige Form der Vorzeit. Die eigentliche
Zeitenwende wäre die Bergpredigt. Sie ist ein wirklich seelisches
Rezept, das ein Umdenken im Ganzen begründet im Vertrauen auf die Hände,
aus der die Formungskraft unseres Daseins stammt. Und so mache ich
weiter.
MM: Inschaallah.
Herr Drewermann, wir danken Ihnen ganz herzlich für dieses Interview.
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