MM: Sehr
geehrte Frau Bonath, ihnen wird nachgesagt, dass Sie eine kompromisslose
„Linke“ seien. Wird es Ihrem Image nicht schaden, ausgerechnet Anhängern
einer islamischen Befreiungstheologie ein Interview zu geben?
Bonath: Um mein Image habe ich mir bisher nie Gedanken gemacht, und
das wird auch so bleiben. Die ständige Sorge um Reputation führt von
Problem-Lösungen weg und ist nach meiner Ansicht eine Form von
unterwürfigem Verhalten gegenüber in der Hierarchie höher Gestellten.
Als Linke lehne ich natürlich Herrschaft von Menschen über Menschen
grundlegend ab. Nichts ist so wichtig wie der Diskurs innerhalb der
unterdrückten Klasse. Zu meiner Klasse gehören Arbeiter, Angestellte,
Erwerbslose, Geflüchtete und Obdachlose genauso wie Muslime, Christen,
Juden, Hindus oder Atheisten. Ich kann als Linke natürlich ein
bestimmtes Verhalten oder Denken von Angehörigen meiner Klasse
kritisieren. Es ist aber nicht Aufgabe der politischen Linken, hier
blind zu moralisieren, sondern zuallererst einen klaren
Klassenstandpunkt einzunehmen. Denn unser aller Problem ist es ja, dass
die Herrschenden ein sehr ausgeprägtes Klassenbewusstsein haben und
gegen uns verwenden. Das Gros der modernen Linken hat diesen leider
verloren, vermutlich, weil sie sich zunehmend selbst aus der sogenannten
Mittelschicht mit ganz eigenen Interessen rekrutieren. Die Herrschenden
freut das natürlich. Wenn wir uns aber von Herrschaft und Unterdrückung
befreien wollen, können wir das nur zusammen. Darum ist es mir eine
große Freude, mit Ihnen zu reden.
MM: Angesichts der aktuellen Weltlage
steigen wir direkt in das Thema ein: Arbeiten Sie für einen verbotenen
Feindsender und haben Sie keine Sorge, dass das gegen Sie verwendet
werden könnte?
Bonath: Ich schreibe Artikel für mehrere
Online-Medien, wie Rubikon, Multipolar und auch, seit sieben Jahren, für
RT DE. Letzterer ist der russische Auslandssender, den die EU nach dem
Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine ja inzwischen
verboten hat. Natürlich haben mich schon einige gefragt, warum ich das
jetzt weitermache. Der wichtigste Aspekt ist wohl, dass ich in deutschen
Mainstream-Medien schon vor Jahren nie so frei arbeiten konnte, wie bei
RT DE. Um es kurz zu machen: Ich bekomme keine Vorgaben aus dem Kreml
oder von der Chefredaktion. Niemand sagt mir, was ich schreiben darf und
was nicht. Voraussetzung ist nur, dass die journalistische Qualität
stimmt und ich saubere Quellen bringe.
MM: ... und was ist der zweitwichtigste
Aspekt?
Bonath: Der zweitwichtigste Aspekt ist:
Der Krieg in der Ukraine ist ja nicht vom Himmel gefallen. Der
Bürgerkrieg – maßgeblich forciert von der ukrainischen Regierung – tobt
in Wahrheit seit dem Maidan-Putsch. Und weder daran noch an dem
Einmarsch der russischen Armee sind meine Kollegen schuld. Sie und ich
und jeder vernünftige Mensch sind natürlich tief erschüttert über diesen
und jeden Krieg. Das Elend trifft immer die Ärmsten am Schlimmsten. Zu
Ihrem letzten Punkt der Frage: Wer etwas gegen mich verwenden, mich etwa
als Staatsfeindin darstellen will, wird ohnehin seit langem fündig im
Internet. Ich habe ja schon viele kritische Beiträge geschrieben. Jetzt
alles hinzuschmeißen, wäre blöd. Und das ist eigentlich auch nicht mein
Naturell. Journalisten müssen einfach manchmal vieles aushalten.
MM: Als jemand, der in der Endphase der
DDR groß geworden ist, wie kommt es Ihnen vor, wenn „Putins Lügensender“
verboten wird, damit im Tal der Ahnungslosen nicht unschuldige Bürger
Opfer einer Staatspropaganda werden?
Bonath: Na ja, in Kriegen tobt natürlich
die Propaganda von allen Seiten. Was sich die westlichen Medien derzeit
an Propaganda leisten, aber auch in der Vergangenheit, etwa im
Zusammenhang mit Corona, geleistet haben, macht mich tatsächlich
fassungslos. Da ist nichts Rationales mehr, sie spielen mit den
Emotionen der Menschen. Das Verbot der Gegenseite soll hier schlicht
dafür sorgen, dass die Menschen nur die NATO-Seite zu hören bekommen.
Und der Westen ist eben nicht „der Gute“ in diesem „Spiel“.
Mit der DDR ist das schwierig zu vergleichen.
Die DDR hatte massive Probleme: Der Kalte Krieg, die ökonomische
Abhängigkeit vom kapitalistischen Markt, die massenhafte Abwerbung von
in der DDR gut ausgebildeten Fachkräften durch die BRD bis 1961. Und sie
hatte im eigenen Land eines nicht: Kapitalisten, die sich die Profite
eingesteckt haben. Die realen diktatorischen Auswüchse hatten dort ganz
andere Ursachen als jene, die wir heute in Deutschland und anderen
imperialistischen und kapitalistischen Staaten beobachten können.
MM: Warum glauben Sie sind die Sachsen-Anhalter,
unter denen sie leben, besonders anfällig für „teilweise kruden Thesen"
nicht nur in Bezug auf Russland sondern auch Corona?
Bonath: Die Frage ist zunächst: Was
bedeutet hier „krude“? Das ist ja ein Framing-Begriff, den viele
Leitmedien seit Jahren rauf und runter spulen, und dies natürlich
letztlich im Interesse der Herrschenden. Demnach ist inzwischen fast
jede Abweichung vom offiziell vorgegebenen Leitnarrativ, jeder Kontakt
zu Menschen, die davon abweichen, „krude“. Diese Kontaktschuld-Vorwürfe
und gruppenbezogenen Pauschal-Unterstellungen kennen Sie als Muslime ja
auch.
MM: ... zweifelsohne, aber Ostdeutsche
sind skeptischer ...
Bonath: In der Tat sind viel mehr
Ostdeutsche skeptischer gegenüber der Regierung und ihren Erzählungen
als Westdeutsche – so nehme ich es jedenfalls deutlich wahr. Das hat
wohl weniger damit zu tun, dass sich die Älteren an die Staatspropaganda
in der DDR erinnern, als mit der Geschichte um und nach 1989. Die ersten
Demonstranten damals wollten keinen Anschluss an die BRD, sondern eine
demokratische DDR. Die Verlockungen D-Mark und Westprodukte waren am
Ende größer. Ich glaube, viele haben sich später überrumpelt gefühlt.
Man muss sich vorstellen: Das Leben der DDR-Bürger war ja von einem Tag
zum anderen über den Haufen geworfen, nichts war mehr wie vorher:
Millionen standen plötzlich zum ersten Mal in ihrem Leben arbeitslos auf
der Straße, waren gezwungen, sich bei Privatbetrieben zu verdingen.
MM: War das wirklich so überraschend?
Bonath: Viele hatten keine Ahnung von
der ausufernden westdeutschen Bürokratie, von den hohen Mieten und
merkten auf einmal: Wir haben jetzt zwar ein Westauto, sind aber ärmer
als vorher. Es ist vielleicht dieses – realistische – Gefühl,
überrumpelt worden zu sein. Und einer Regierung, die einen so
überrumpelt hat, traut man nicht blindlings über den Weg. Die
Westdeutschen haben eine andere Erfahrung, und zwar die vom guten
Kapitalismus, der soziale Marktwirtschaft spielt, der die Gewerkschaften
einbindet und die Löhne der Inflation entsprechend regelmäßig erhöht.
Und wenn man so sozialisiert ist, guckt man sich die Dinge natürlich
genauer an. Da würde ich mich einschließen. Aber davon abgesehen, ist es
ohnehin die Aufgabe von Journalisten, der Regierung kritisch auf die
Finger zu schauen und zu schreiben, was ist.
MM: Journalisten westlicher Mainstream-Medien
erhalten sehr strikte Vorgaben, die einzuhalten sind: So gibt es z.B.
gute Besatzer (Israel), die dürfen alles, und böse Besatzer (Russland),
die müssen mit allen Mitteln bekämpft werden. Welche Vorgaben bekommen
Sie von Ihrem Arbeitgeber RT?
Bonath: Also bisher habe ich noch nie
eine Vorgabe von RT DE oder aus dem Kreml bekommen. Ich durfte immer
alle Themen bearbeiten, die mir wichtig waren. Nun ist dazu zu sagen,
dass ich ausschließlich über deutsche Politik schreibe. Vielleicht lag
ich mit meinen Kollegen zufällig auf einer Wellenlänge? Ich weiß es von
Kollegen, etwa beim MDR oder bei der hiesigen Tageszeitung Volksstimme,
aber auch aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung, dass das in
deutschen Medien keineswegs der Normalstandard ist. Da grassiert schon
etwas mehr Angst unter Festangestellten und Freien, eine ungeschriebene
„Linie“ zu überschreiten und arbeitslos zu werden. Um es drastisch
auszudrücken: Dort trägt sich die Propaganda wohl am stärksten durch
vorauseilenden Gehorsam, und zum Teil natürlich auch, wie zum Beispiel
vom Springer-Verlag bekannt ist, durch strikte Positionierungen
bezüglich des Staats Israel etwa.
MM: Bei diesem Interview werden Sie
sicherlich gleich von zwei Seiten überwacht, sowohl von Seiten hinter
dem Interviewer als auch von Seiten hinter dem Interviewten. Mit welchen
Schwierigkeiten hat eine RT-Journalistin in Deutschland zu rechnen,
außer dass sie überwacht wird?
Bonath: Von der Überwachung merken wir
beide sicherlich nicht so viel, weil die schließlich geheim ist
(lachen). Ansonsten haben die deutschen Behörden RT DE ja schon auf dem
Kieker, seit ich dort 2015 angefangen habe. Geht es nach der deutschen
Politik und den Leitmedien, verbreiten wir am Fließband
„Desinformationen“. Das ist natürlich Unsinn, weil ich arbeite ganz
normal nach journalistischen Standards, wie zuvor auch. Aber die
Kampagne macht sich bemerkbar. Da wollen beispielsweise viele, die mir
Interessantes berichten könnten, nicht mit mir sprechen, weil sie Angst
um ihre eigene Reputation haben. Das finde ich oft sehr bedrückend. Ich
habe es aber auch erlebt, dass Behörden mir deshalb nicht antworten
wollten, obwohl ich einen Presseausweis habe. Aber wie lange ich diesen
noch von einem anerkannten Verband erhalte, ist nun wohl auch fraglich.
MM: Als bekennende Linke marxistischer
Prägung müssten Sie auf der Seite der Unterdrückten und Geknechteten,
also der Kriegsopfer stehen. Warum positionieren Sie sich also nicht
eindeutig gegen die russischen Invasoren?
Bonath: Natürlich stehe ich auf der
Seite der Kriegsopfer, so wie ich auf der Seite aller Opfer von Krieg,
Hunger und Unterdrückung stehe. Das betone ich ganz klar. Und ich bin
auch nicht Anhängerin irgendeiner imperialistischen oder
kapitalistischen Regierung. Auch Russland ist ein kapitalistischer
Staat, genau wie die Ukraine, genau wie Deutschland. Man muss aber
moralische Haltungen von politischen Analysen trennen. Und die
politische Analyse ist, dass er Einmarsch der russischen Armee eine sehr
lange Vorgeschichte hat. Hierzu nur einige Stichpunkte: beständige
Expansion des Westens im Rahmen der NATO-Osterweiterung, Maidan-Putsch
unter wohlwollender Unterstützung des NATO-Blocks, Nichteinhaltung von
Abkommen durch die Ukraine (Minsk II), ein seit acht Jahren währender
Bürgerkrieg in der Ukraine mit Tausenden Opfern, eine Regierung, die
rassistisches Vorgehen gegen den russischsprachigen Teil der Bevölkerung
und massive Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine fördert, und so
weiter.
MM: In der aktuellen Ukrainekrise ist
ein Präsident, der sein Volk um einige Milliarden erleichtert hat und
übelste Nazi-Truppen unterstützt, zum Kandidaten für den
Friedensnobelpreis aufgestiegen, während ein Präsident, der die Welt
möglicherweise vor einem Weltkrieg geschützt hat, zum Sinnbild des
Bösewichten wurde. Wir sehen hierbei die große Chance für die „Linke“,
sich einmal ernsthaft mit dem Vorgänger Putins in der Bösewichtrolle,
nämlich die Befreiungstheologie der Islamischen Republik Iran zu
beschäftigen, wie es z.B. die Arbeiterfotografie bereits intensiv getan
hat unter anderem mit dem Artikel
Land der Liebe. Worin sehen Sie die Haupthindernisse für einen
Dialog der echten „Linken“ (nicht der
Wir-möchten-unbedingt-regieren-Linken) mit Anhängern der islamischen
Befreiungstheologie?
Bonath: Ich muss zunächst gestehen: Ich
selbst habe hier Defizite und jetzt erst einiges darüber gelesen. Ich
stehe Religionen in einzelnen Aspekten durchaus kritisch gegenüber,
denke aber gleichwohl, dass der Mensch nicht allein ein materielles
Wesen ist und eine spirituelle Heimat braucht, um sich sozial entfalten
zu können. Eine Linke muss sich meiner Meinung nach diesem Aspekt
öffnen. Im Übrigen waren auch Karl Marx spirituelle und religiöse
Aspekte nicht fremd. Eine Linke darf sich dem nicht verschließen. Ich
denke, der fehlende Diskurs liegt vor allem daran, dass die Linke nicht
nur in Deutschland zutiefst gespalten und im Gros sogar fast nicht mehr
existent ist. Die herrschende Klasse hat in den vergangenen Jahrzehnten
leider nicht geschlafen und sich quasi einen weiten Teil der (ehemals)
Linken einverleibt. Es ist schon abenteuerlich, wie die deutsche Politik
mit linken Floskeln von Antirassismus, Gleichberechtigung,
Menschlichkeit, Solidarität und so weiter um sich wirft. Das ist
natürlich Heuchelei, hat aber einen weiten Teil der Linken vermutlich
arg gebauchpinselt.
MM: ... und die Corona-Maßnahmen?
Bonath: Im Zuge der autoritären
Corona-Maßnahmen hat sich nun die "Freie Linke" im gesamten
deutschsprachigen Raum gebildet, welche die staatstragenden „Linken“
massiv kritisiert. Ich wäre dafür, dass sie mit allen, die auf Seiten
der Unterdrückten stehen, Kontakt aufnimmt. Ich bin überzeugt, dass die
Freien Linken das auch wollen. Man müsste nur aufeinander zugehen. Hier
gilt es natürlich beidseitig, auch kulturelle Schranken zu überwinden.
Die sind ja real oft marginal. Die Vorsicht spüre ich auch sehr stark in
meinen Kontakten zu muslimischen, aber auch afrikanischen Communitys.
Die Menschen, in der Regel Geflüchtete oder Nachkommen von
„Gastarbeitern“, haben ja auch ihre Geschichte und die ist nicht geprägt
von rein positiven Erfahrungen mit Deutschen. Wir müssen alle
aufeinander zugehen, uns als Klassenschwestern und -brüder begreifen.
Denn das sind wir ja.
MM: Frau Bonath, wir danken für das
Interview? |