Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Ulrich Tilgner

 

Muslim-Markt interviewt
Ulrich Tilgner, Journalist, Auslandskorrespondent und Sachbuchautor
4.10.2018

Ulrich Tilgner (Jahrgang 1948) hat nach seinem Wehrdienst sein Studium der Kulturwissenschaften, der Politischen Wissenschaften und der Wirtschaftsgeschichte an den Universitäten Freiburg und Tübingen mit dem Magister abgeschlossen. Im Anschluss war er drei Jahre lang Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks. 1979–1980 arbeitete er als Chef vom Dienst im dpa-Landesbüro Südwest. Kurz nach der Islamischen Revolution im Iran reist er nach Teheran und arbeitete für die Rundfunk- und Fernsehanstalten der ARD, den Schweizer Rundfunk (DRS), die dpa und mehrere Tageszeitungen. Ab 1982 erfolgten zudem Berichte für das ZDF und das Schweizer Fernsehen (DRS) über den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Ab 1986 war er 14 Jahre im Büro Amman (Jordanien). Besonders bekannt wurde er durch seine Berichte über den Kuwait-Krieg und den Irak-Krieg aus Bagdad (1991 u. 2003). Für seine Berichterstattung über den Irak-Krieg erhielt Ulrich Tilgner den Hanns-Joachim-Friedrich-Preis für Fernsehjournalismus 2003. Von 2002 – 2008 war er Leiter des ZDF-Büros in Teheran und Sonderberichterstatter für den Mittleren Osten und bis 2014 berichtete er für das Schweizer Fernsehen (DRS).

Tilgner ist Autor mehrere Bücher, u. A.: Die Logik der Waffen (2014), Zwischen Krieg und Terror (2006), Der inszenierte Krieg (2003), Umbruch im Iran (1979) und hat mehrere Dokumentarfilme gedreht, darunter: Schah Matt (1981), Die Kurden – ein Volk, das es nicht geben darf (1983).

Tilgner ist mit einer Journalistin verheiratet und hat aus erster Ehe zwei erwachsene Kinder.

MM: Sehr geehrter Herr Tilgner, was war der Auslöser, dass Sie Ihre Zusammenarbeit mit den öffentlich-rechtlichen Sendern im Jahr 2010 beendet haben, um keinen eingebetteten Journalismus mehr betreiben zu müssen, war es denn früher anders?

Tilgner: Unter „eingebettet sein“ habe ich bisher immer die Situation der Korrespondentinnen oder der Korrespondenten am Einsatzort verstanden. Sie haben Recht. Journalisten sind bei ihrer Arbeit immer doppelt eingebettet. Zum einen an dem Einsatzort: Mal ist man auf der einen und mal auf der anderen Seite „embedded“ – beim Embedding bei Streitkräften handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs. Alle – ich wiederhole – alle Seiten versuchen, Medienschaffende zu manipulieren und so weit wie möglich für ihre Interessen zu nutzen oder sie zumindest zu neutralisieren. Dies zu leugnen, ist für mich ein Zeichen, die Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit nicht begriffen zu haben oder nicht begreifen zu wollen.

MM: Und wie ist es unterhalb der Spitze des Eisberges namens Embedded?

Tilgner:  Embedded – also eingebettet – ist man nur mehr oder weniger offensichtlich. Wenn man mit Soldaten unterwegs ist, wird das eingebettet sein ganz offensichtlich. Deshalb ist es wichtig, dass aus Berichten oder Interviews hervorgeht, wo man eingebettet ist. Genau hier ist der heikle Punkt: Nur zu oft wird das „Eingebettet sein“ verschwiegen. Meist wird – jedenfalls bei Fernsehberichten - an der Art der Aufnahmen deutlich, dass die Autorin oder der Autor eines Beitrages eingebettet ist. Das sind Irreführungen, die nicht einmal böswillig sein müssen, denn oft fehlt das Bewusstsein über ein Embedding. Dies liegt entweder daran, dass ein bestimmter Typus der Medienschaffenden fast ausschließlich mit Militärs arbeitet und dies verschweigt oder dass Journalistinnen oder Journalisten kein Bewusstsein für die Übergänge von einem normalen zu einem militärischen Embedding entwickeln. Wenn das Auftreten in militärischen Verbänden verschwiegen wird, kann man in der Regel Absicht unterstellen. Wichtig ist der zentrale Punkt: Wenn ich mich in einem bestimmten Umfeld befinde, bin ich automatisch „embedded“ – eingebettet – sei es nun in die westliche oder in die orientalische Kultur. Leider gilt man gemeinhin nur als „embedded“, wenn man sich auf der sogenannten Gegenseite befindet.

MM: Wie ist es mit der Einbettung in den Arbeitgeber?

Tilgner: Sie haben völlig Recht: zusätzlich eingebettet ist man in dem Medium, für das man berichtet: Das kann weitreichende Konsequenzen haben. Die Einbindung in einen westlichen Sender kann die Berichterstattung nachhaltiger prägen, als das Umfeld, aus dem jemand berichtet. Auf die Konsumentin oder den Konsumenten kommt also eine doppelte Schwierigkeit zu: Es geht darum, die Darstellung doppelt zu filtern.

MM: ... und das alles zusammen hat dazu geführt, dass Sie die öffentlich-rechtlichen Sender verlassen haben?

Tilgner: Meine Kündigung beim ZDF im Herbst 2007 (nicht wie vom Sender suggeriert im Winter oder sogar erst 2008) hatte unterschiedliche Gründe, die vor allem aus der Afghanistanberichterstattung resultierten. Für das Land war ich beim ZDF zuständig. Die Berichterstattung über das Land wurde nicht mit mir diskutiert und mehr und mehr mit Kollegen abgedeckt, die mit der Bundeswehr ins Land kamen oder die zumindest in einem Fall sogar von der Bundeswehr angefordert wurden. Ich habe vergeblich versucht, anders als andere Kolleginnen und Kollegen in der deutschen Berichterstattung, mich dem Einfluss des Einsatzfühungskommandos der Streitkräfte in Potsdam und des Auswärtigen Amtes zu entziehen und den Einsatz der Bundeswehr und die gesamte Afghanistan-Politik nicht zu beschönigen. Mein späterer Arbeitgeber (das Schweizer Fernsehen SRF) war deutlich neutraler. Nicht zufällig hat der Schweizer Bundesrat (vergleichbar mit der Bundesregierung) den militärischen Beitrag des Landes zum Afghanistaneinsatz zeitgleich mit meinem Ausscheiden beim ZDF beendet und das vom Parlament gebilligte Kontingent von vier Stabsoffizieren in den Reihen der ISAF zurückgezogen.

MM: Sie haben den Anfang der Islamischen Republik Iran Vorort miterlebt, sie haben die Reste der Slums aus der Schah-Zeit gesehen und durch Ihre langjährige Tätigkeit auch die Entwicklung verfolgt. In der westlichen Welt wird seit nunmehr fast vier Jahrzehnten darüber berichtet, dass der Iran wirtschaftlich am Boden zerstört sei. Warum fällt eine differenzierte Betrachtung so schwer?

Tilgner: Um dieses zweifellos existierende Problem besser zu verstehen, sollte man mit der Berichterstattung in der Zeit der Pahlavi-Herrschaft beginnen. Der Vater des 1979 gestürzten Schahs hatte Sympathie für den deutschen Faschismus. Sein Sohn konnte nach einer Phase des Exils die Herrschaft mit einem vom britischen Geheimdienst und der CIA organisierten Staatsstreichs 1953 wiedererringen. Er wurde auch wegen seiner Frauen zum Liebling der deutschen Regenbogenpresse. Die islamische Bewegung im Iran hatte aus diesen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland zusätzliche Probleme akzeptiert zu werden.

Im Iran fand mit dem Sturz der Schahdiktatur erstmals ein Regimewechsel in Friedenszeiten statt. Die Staaten des Westens und deren Industrie setzten auf einen schnellen wirtschaftlichen Zusammenbruch der jungen Islamischen Republik. Ich erinnere mich noch, dass die westlichen Erdölfirmen ihre Spezialisten nach deren Abzug Ende 1978 und Anfang 1979 auf Mittelmeerinseln einquartierten, um ihre Mitarbeiter nach einem von ihnen angestrebten Zusammenbruch der Republik möglichst schnell wieder in den Erdölgebieten Südirans einsetzen zu können. Die Medien verbreiteten Negativmeldungen über die Entwicklungen der Islamischen Republik, um die öffentliche Atmosphäre für ein Rollback zu schaffen.

MM: ... kurze Zeit später griff Saddam die noch junge Islamische Republik Iran an...

Tilgner: Die Parteinahme des Westens für Irak im ersten Golfkrieg war eine logische Konsequenz, die sich bis heute in vielen antiiranischen Berichten fortsetzt. Vor allem die deutschen Medien zeichneten nach dem Sturz des Schah ein negatives Iran-Bild, das sich besonders in der Darstellung der wirtschaftlichen Probleme zeigte. Die bis heute anhaltende mediale Kampagne über die wirtschaftliche Schwäche Irans widerspricht insbesondere in den vergangenen Jahren der Darstellung Irans als Gefahr für die regionale Stabilität.

Dass Iran wegen der von den USA seit 1980 verhängten Wirtschaftssanktionen eine relative wirtschaftliche Eigenständigkeit entwickeln konnte, wird systematisch übergangen. Die Sanktionen haben Iran gezwungen, sich selbständig zu entwickeln und die Rahmenbedingungen für eine verzerrte Entwicklung gebildet. Iran wurde vom Weltmarkt abgekoppelt. Die relativ große Bevölkerung und die trotz der Sanktionen bestehenden Öleinnahmen waren die Bedingungen für eine derartige selbständige Entwicklung. Eine differenzierte Betrachtung fällt so schwer, weil sie US-Wirtschaftsinteressen und auch europäischen Wirtschaftsinteressen widerspricht. Zwar äußern Politiker Westeuropas immer wieder die Absicht, eine eigenständige Iran-Politik zu entwickeln, faktisch folgt die europäische Politik jedoch den Vorgaben der USA. Das hat sich insbesondere in den vergangenen Monaten wieder gezeigt.

MM: Als Sie sozusagen ausgestiegen sind, war das Verhältnis zu den USA zumindest für westliche Politiker noch intakt. Inzwischen hat sich die Lage drastisch verändert. Dennoch scheinen viele Journalisten nicht die notwendige Freiheit zur Kritik an kriegerischen US-Interventionen zu haben. Liegt das wirklich nur an der Politik, oder denken nicht viele Journalisten selbst so unkritisch?

Tilgner: Fehlende Kritik in der Berichterstattung hat unterschiedlichste Elemente. Zum einen hat sich die Form der militärischen US-Interventionen geändert. Demokratisierung durch Krieg wird nicht mehr angestrebt. Auch begrifflich hat dies Konsequenzen. Es wird heute im Gegensatz zum Beginn der Kriege in Afghanistan und Irak schneller von Krieg geredet. Heute wird über Kriege berichtet, ohne die Gründe für ihr Scheitern zu benennen. Die Lage in Mali und Niger wird auch beschönigt, um das Scheitern deutscher Soldaten zu verschweigen. Statt in diesen Kriegen und in dem gleichzeitigen Scheitern der Globalisierung (als Mittel zur weltweiten Wirtschaftsentwicklung) zentrale Ursachen für die Ausbreitung des Terrorismus zu sehen, wird diese in der Regel allein dem Islam angelastet. Das journalistische Umdenken wird erschwert, weil die hochindustrialisierte Welt nicht die Verantwortung für wirtschaftliches, politisches und militärisches Scheitern übernehmen und die Folgen tragen will und zunehmend glaubt, die eigenen Privilegien durch Abschottung sichern zu können. Journalismus ist nicht erst heute, sondern war schon immer ein Mittel zur Beeinflussung von Untertanen.

MM: "Der inszenierte Krieg", wie Ihr Buch über die Täuschungen zum Irak-Krieg heißt, hat nie zu irgendwelchen Konsequenzen bei den Menschen geführt, die für den Tod von einer Million Menschen verantwortlich oder mitverantwortlich sind. Welche Auswirkungen haben diese moralischen Verwerfungen in der Politik auf den Journalismus?

Tilgner: Nicht der Journalismus hat sich geändert, sondern die Politik wird heute von vielen Menschen anders gesehen. Die Medien stehen so schlecht da, weil nur ein kleiner Teil von ihnen die katastrophale Entwicklung darstellt und dargestellt hat. Statt die zusätzlichen Probleme mit dem ausländischen Eingreifen zum Beispiel im Orient zu erklären, wird einer ganzen Region und den dort lebenden Menschen die Fähigkeit abgesprochen, sich demokratisch zu entwickeln. Ein wichtiger Teil der Leitmedien übernimmt diese Sicht und produziert Berichte, die das Scheitern beim Erreichen von westlichen Politikern genannter Ziele mit einer falschen Darstellung begründet, z.B. mit in der Region existierender Korruption, mit nicht mehr bezahlbare Kriegskosten oder sogar mit der fehlenden Lernbereitschaft der dort lebenden Menschen.

MM: Sie haben bereits im Jahr 2006 über den Zusammenprall von Islam und westlicher Politik im Mittleren Osten geschrieben. Inzwischen findet der Zusammenprall in viel näheren Regionen bis hin vor unserer Haustür statt. Was kann Journalismus dazu beitragen, dass wir aus dieser teuflischen Spirale ausbrechen?

Tilgner: Journalismus kann Probleme nicht lösen und sollte darin bestehen, sie zu beschreiben und zu erklären. Darunter verstehe ich, die Wurzeln des Terrors und das Scheitern westlicher Politik zu zeigen. Islam und Christentum ähneln sich stark, wenn heute der Untergang der christlichen abendländischen Kultur beschworen wird, ist dies lächerlich. Wenn Einwanderer nicht die gleichen Chancen haben wie Menschen, deren Vorfahren angeblich schon in dem Lande lebten, dann darf sich niemand wundern, wenn das Zusammenleben nicht funktioniert. Wenn unter Integration Assimilation verstanden wird, darf sich niemand wundern, wenn in Ghettos Kleinkriminelle zu Terroristen werden. Journalismus kann Terror nicht verhindern, aber er kann dazu beitragen, dass Menschen eine Politik stärken, die dem Terror die Grundlage entzieht. Nur sind die Leitmedien nicht in der Lage, einen derartigen Journalismus zu fördern und zu stärken.

MM: Wenn nicht die Leitmedien, wer dann?

Tilgner: Einzelne Journalistinnen oder Journalisten können ihren Beitrag leisten. Allerdings wird es schwer, in einer Welt der Neuen Medien mit Verschwörungstheorien und Fake News durchzudringen. Das Problem ist alt. Die neuen Medien haben nur die Bedingungen verändert. Es ist heute leichter, Meinungen kundzutun, aber es ist schwieriger, die Lage zu verstehen. Noch vor 30 Jahren war es relativ einfach, Falschmeldungen oder die Hetze in der Bild-Zeitung zu durchschauen. Heute ist es auch wegen der in den neuen Medien verbreiteten Flut der Informationen mit haltlosen Behauptungen von Politikern schwieriger geworden, sich ein Bild der Wirklichkeit zu machen. Letztlich kommt es auf die Einzelne oder den Einzelnen an, ob sie oder er in der Lage ist, sich nicht Irre führen zu lassen. Aufklärung und das Verstehen der Wirklichkeit ist die Aufgabe von Individuen und kann nicht von Institutionen übernommen werden.

MM: Welche Projekte können wir von Ihnen in Zukunft erwarten?

Tilgner: Keine. Ich bin zu alt. Möglicherweise wird in der Schweiz eine Kino-Dokumentation über meine Arbeit im Orient und aktuelle Schlussfolgerungen entstehen. Da bin ich dann physisch und intellektuell gefordert. Danach werde ich wohl nur noch Einzelne aufrütteln können. Letztlich werde ich wie so viele in der Ecke des "skurrilen Alten" enden.

MM: Herr Tilgner, wir danken für das Interview?

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