MM: Herr Suliman, was war ihre Motivation
über die Kriege in Westasien ein Buch zu schreiben?
Suliman: Worüber soll ein Araber aus dem
Nahen Osten sonst schreiben? Im Ernst: Was gab es in unserer Region in
den letzten Jahrzehnten außer Krieg. Ich meine nicht nur den konkreten
Krieg mit Panzern und Granaten, sondern auch den Krieg als
Begleitgedanke, als Angstgefühl, ja gar als Schicksal. Mit dreieinhalb
Jahren zog mich meine Mutter hastig an der Hand in unsrer Wohnung in
Damaskus und wir rannten mit vielen anderen verängstigten Menschen die
Treppe herunter in den Keller, begleitet vom ohrenbetäubenden Heulen der
Sirenen, die vor angreifenden israelischen Kampfjets warnten. Das war
der arabisch-israelische Krieg im Oktober 1973 – und meine erste
erschütternde Erkenntnis: Auch erwachsene können Angst haben.
MM: ... und es sollte nicht ihr einziger
Krieg in jungen Jahren bleiben ...
Suliman: Leider nicht, 1982 marschierte
die israelische Armee in den Libanon ein, in dem aufgrund des
Bürgerkrieges dort syrische Soldaten stationiert waren. Nachts brachten
Krankenwagen gefallene und verletzte Soldaten in das nahe gelegene
Militärkrankenhaus. 1987 brach die erste palästinensische Intifada gegen
die israelische Besatzung aus, mit schrecklichen Bilden von geschlagenen
und verhafteten palästinensischen Kindern im Fernsehen. In Europa zum
Studieren angekommen holte mich nur vier Jahre später ein anderer Krieg
ein: Der „Wüstensturm“ 1991 geführt von den USA gegen den Irak nach der
Besetzung von Kuweit. Dieser Krieg, änderte – und darauf gehe ich im
Buch ein - meinen beruflichen Werdegang. Ich entschied mich für
Journalismus und warf mein Informatikstudium hin. Diesmal handelte es
sich von Angst aus der Ferne, Angst um die Familie, Freunde und Heimat.
MM: Die persönlichen Erlebnisse und die
eigene Biographie beginnend mit den 90er Jahren machen aber nur einen
kleinen Teil des immerhin Sachbuches aus. Wie würden Sie den Rest
klassifizieren?
Suliman: Es ist eine gewollte Mischung
aus persönlichen und sachlichen Betrachtungen, denn zu der persönlichen
Motivation gesellte sich aufgrund meiner aktiven Jahren als
Korrespondent und Kriegsreporter eine journalistische hinzu. Ich durfte
weitere Kriege begleiten, mal aus sicherer Entfernung wie den
sogenannten Anti-Terror-Krieg in Afghanistan und anderswo auf der Welt
nach dem 11. September 2001, mal aus nächster Nähe, wie den Irak-Krieg
2003. Die TV-Beiträge, Nachrichten und Live-Übertragungen, so intensiv
ich das alles gemacht habe, schienen mir irgendwann zu wenig geeignet,
um Kriege - und was sie mit und aus Menschen machen – zu reflektieren.
Bei jemandem wie mir, der auch Politikwissenschaften studiert hatte, kam
schließlich verständlicherweise eine fachliche Motivation hinzu: Warum
analysiert uns der Westen dauernd? Es ist Zeit, dass wir unsere
analytische Sicht, auch im Westen, bringen. Als dann bei mir das Verlag
im Zusammenhang mit einem Nahost-Buch anfragte, sagte ich sofort zu.
MM: Der in Ihrem Buch als "Zweiter
Golfkrieg" bezeichnete Krieg der USA gegen den Irak wird in den
US-Medien ganz offiziell "First Gulf War" genannt. Das hat einige
deutsche Autoren dazu bewogen den Krieg Saddams gegen den Iran 1980-1988
als "nullten Golfkrieg" zu bezeichnen. Warum können Ihre westlichen
Journalistenkollegen nicht zählen?
Suliman: Zählen kann jeder. Die Frage
ist dennoch: Was zählt für einen Zählenden selbst - und vor allem warum?
Im arabischen Raum hat sich überwiegend die Bezeichnung „Zweiter
Golfkrieg“ durchgesetzt, weil man einfach nur die Kriege chronologisch
zählte. Im deutschsprachigen Raum auch, wahrscheinlich weil Deutschland
nicht beteiligt gewesen war. Ich glaube, die westlichen Journalisten,
allen voran die amerikanischen, die von einem „ersten Golfkrieg“ im
Zusammenhang mit dem Wüstensturm 1991 sprechen, haben die eigene
konkrete militärische Beteiligung vor Augen und weniger die Absicht, den
Krieg zwischen dem Irak und dem Iran unter den Teppich zu kehren. Jener
Krieg war trotz westlicher Unterstützung für den Irak durch
Waffenexporte und Geheimdienstinformationen, von der finanziellen
Unterstützung seitens der Golfstaaten und einzelnen Militäraktionen der
USA einmal abgesehen, ein Krieg ohne umfassendes und direktes Eingreifen
des Westens gewesen. Anders die darauf folgenden Kriege im Nahen und
Mittleren Osten. Das ist nicht unerheblich für die Wahrnehmung der
Betroffenen in der Region, nicht für die objektiv messbaren
Machtverhältnissen weltweit und somit auch nicht für eine Analyse aus
einer arabischen Sicht.
MM: Kann es nicht vielmehr sein, dass
Ihre US-Kollegen als eingebettete Journalisten, wie in Ihrem Buch
erwähnt, nur das schreiben konnten, was im Interesse des Militärs liegt
und die Erinnerung an den US-Einsatz im echten ersten Golfkrieg liegt
nicht in deren Interesse?
Suliman: Die Frage nach den Motiven, der
Arbeitsweise und Wirkung vom Journalismus ist immer sehr interessant.
Deswegen beschäftigt sich das Buch auch mit Bild, Sprache und Propaganda
in den westlichen, und teils in arabischen Medien seit 1991. Doch
offiziell eingebettete westliche Journalisten gab es in unserer Region
erst mit dem „Zweiten Golfkrieg“. Das hat mit Entwicklungen innerhalb
des Journalismus zu tun, etwa der Siegeszug der Live-Übertragungen und
die zunehmende Bedeutung von Bildern, die an der Front kaum zu bekommen
wären ohne mit den Herren der Front zu kooperieren. Es hat aber auch mit
der neuen politischen Zielsetzung der Kriegsmacher zu tun. So
entwickelten sich die Medien- bzw. Öffentlichkeitsabteilungen in den
westlichen Armeen immer mehr zu einer größeren Maschinerien, die nicht
nur etwa Informationen und Kriegsbilder verbreiten, sondern das „Bild
des Krieges“ bestimmen und die eigene Wahrheit als „Information“
vermarkten.
Das braucht man für die eigentliche Öffentlichkeit, um neue und
neuartige Krieg trotz Ende des „Kalten Krieges“ zu legitimieren und als
absolute Notwendigkeit , ja gar Verteidigungsakt darstellen zu können.
Und die nach Bildern, Informationen und Interviews hungernden
Journalisten ließen sich einfach und meist widerstandslos
instrumentalisieren. Doch da ist noch etwas: Auch die Journalisten, die
nicht mit den Truppen marschierten, waren nach und nach in der neu
entstandenen westlichen Resonanzwelt eingebettet. Eine Welt, in der kaum
jemand fragt, was die eigenen Truppen mit Demokratisierungs-, Regime-Change- und Anti-Terror-Einsätzen jenseits der eigenen Grenzen zu
tun haben.
MM: Sie sprechen in Ihrem Buch von
konkreter westlicher militärischer Beteiligung bzw. direktem Eingreifen
ab 1991 wie es seit der Kolonialzeit nicht mehr der Fall gewesen war.
Warum benahm sich der Westen plötzlich derart aggressiv?
Suliman: Das hatte einen einfachen
Grund: Weil es der Westen ab Anfang der 90er Jahren wieder konnte. Bis
in die 80er Jahre hatte die internationale Nachkriegsordnung noch
bestand. Eine direktes westliches Eingreifen in der Nahost-Region hätte
zur Zeit des Kalten Krieges eine sofortige Reaktion des ehemaligen
Ostblocks nach sich gezogen. Alles änderte sich zur Zeit vom Wüstensturm
1991. Das Ostblock war sichtlich am Wackeln und manch Ostblockstaaten
schlossen sich dem „US-Sturm“ mit dem Hinweis auf ein angebliches
UNO-Mandat an. Dabei sprachen die UNO-Resolutionen damals von der
Befreiung Kuwaits, nicht aber von der Zerstörung des Irak. In meinem
Buch kommt diesem Krieg eine Schlüsselrolle zu. Es beginnt mit ihm als
dem ersten plakativ globalisierten Krieg, der in einer neuen
Weltunordnung ausbrach und eine entfesselte westliche neuartige
Expansionspolitik widerspiegelt. Mit anderen Worten: Die USA läuteten
mit dem Zweite Golfkrieg den Beginn des sogenannten „Amerikanischen
Jahrhunderts“ ein, einem Ansatz, der nicht nur militärische, sondern
auch kurz später ideologische und akademische Ausdrucksformen in den
Medien und den sogenannten „Think Tanks“ fand. Man glaubte im Westen
allen Ernstes an das „Ende der Geschichte“ und an den endgültigen Sieg
des eigenen politischen Systems und erlaubte sich fortan, sich auf
internationaler Bühne entsprechend zu benehmen, auch und vor allem
militärisch, mal formal mit und mal ganz ohne Rücksicht auf das
Völkerrecht. Unser Anteil in der Arabisch-Islamischen Welt betrug mehr
als sieben Kriege.
MM: Anders als viele Ihrer Kollegen
betrachten Sie die Ereignisse in Westasien nicht punktuell - weder
zeitlich noch räumlich - sondern in einem größeren Zusammenhang und
verwenden dann auch den Begriff "Dritter Weltkrieg". Wie begründen Sie
das sachlich?
Suliman: Noch umfassender: Das Buch
versteht sich grundsätzlich als eines über den Westen und über
Deutschland genauso wie über den Nahen und Mittleren Osten. Nicht nur
die Ereignisse in Westasien dürfen meines Erachtens nach nicht punktuell
betrachtet werde, sondern die Ereignisse weltweit. Allerdings sind die
Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten im Besonderen separat von den
Weltkonstellationen und von einander für mich kaum einzuordnen, weil
sich dort sehr viele internationale Interessen kreuzen und weil sich
über 25 Jahre ein Muster des westlichen Eingreifens in der Region
gebildet hat. Ich muss aber zugeben, dass ich mich in der ersten Phase
des Schreibens nur auf die regionalen Ereignisse und ihre Wahrnehmung
aus arabischer Sicht konzentrieren wollte. Das habe ich in der
Einleitung den „Lebenslauf des Todes“ im Nahen und Mittleren Osten
genannt. Doch und bei allem Respekt vor Schicksalsschlägen und eigenen
Fehlern als Erklärungsmuster, blieb die Sinnfrage beim Konzept
„Lebenslauf des Todes“ unbeantwortet: Wie könnten die Ereignisse aus
einer nicht-westlicher Sicht nicht nur aufgelistet, sondern auch
alternativ definiert, analysiert und bezeichnet werden? Immerhin gab es
vier große Kriegsmomente mit Millionen Toten und Verletzten: den
„Wüstensturm“ 1991, den „Anti-Terror-Krieg“ nach dem 11. September 2001,
den Irak-Krieg 2003 und die Kriege in Libyen, Syrien und Jemen, die der
„Arabische Frühling“ nach sich zog.
MM: ... und wie lautet die Antwort?
Suliman: Ich habe in verschiedene
Richtungen gedacht und recherchiert, Thesen aufgestellt und wieder
fallengelassen: Kultur- und Religionskriege à la „Kampf der Kulturen“?
Wiedererwachen des Kolonialismus? Ehrlich gemeinte, aber missglückte
Demokratisierungs- und Antiterrorkriege? Anti-Islamismus? Weder auf
lokaler, noch auf regionaler Ebene der Analyse gab es befriedigende
Antworten. Nur auf einer internationalen Ebene ergab alles plötzlich für
mich einen Sinn: Demnach folgte auf das Ende der Nachkriegsordnung ein
neuer Krieg, eine Art Dritter Weltkrieg um Ressourcen, Einflusssphären
und sonstiger geostrategischer Interessen. Das ist keine Erfindung von
mir. Andere schrieben vor mir darüber, wie etwa der iranisch-stämmige
deutsche Autor Bahman Nirumand in seinem Buch „Der unerklärte Weltkrieg
– Akteure und Interessen in Nah- und Mittelost“. Noch wichtiger: Ein
Weltkrieg darf nicht nur deswegen un- oder umbenannt werden, nur weil
die Opfer überwiegend in der Arabisch-Islamischen Welt und nicht in
Europa fallen. Wenigstens nach deren Tod sollte man die Menschen als
gleichwertig betrachten, wenn das zu Lebzeiten - von Floskeln auf
Konferenzen einmal abgesehen – leider nicht der Fall war.
MM: Als einige Redaktionsmitglieder des
„Muslim-Marktes“ vor vielen Jahren Damaskus zu Pfingsten besucht haben,
trafen sie auf wunderbare Pfingstgesänge aus den orthodoxen Kirchen, die
sich mit dem Gebetsruf der Muslime vermischt hat. Als man den Schrein
der bei Schiiten so heiligen Zaynab nicht finden konnte, waren es
Sunniten, die den Weg gewiesen haben. Warum hat der Westen ausgerechnet
dieses multikulturelle Land ins Visier genommen?
Suliman: Hier hilft nur der aus der
westlichen Ecke sehr kritisierte Weltkriegsansatz. Ginge es den Westen
tatsächlich um die Kategorie Laizismus/Islamismus, wären z. B.
Saudi-Arabien oder Katar eher dran. Beide Länder sind nicht nur
islamistisch, sondern unterstützen direkt und indirekt die schlimmsten
Terrororganisation dieser Welt. Gleiches wäre das Ergebnis, wenn es um
die Kategorie Demokratie/Diktatur gegangen wäre. Anders als Syrien,
haben diese Golfstaaten weder Parlamente, noch Parteien oder Opposition.
Doch die westlichen Angriffe der letzten 25 Jahren galten in der
Arabischen Welt vor allem dem Irak, Libyen und Syrien, also Staaten mit
modernen ideologischen Ansätzen und halbwegs funktionierenden
Sozialsystemen. Die westlichen Widersprüche verleitete einige arabischen
Autoren zur Annahme, der Westen wolle per se keine starken arabischen
Staaten. Dieser Annahme bringt uns bei genauerer Betrachtung aber auch
nicht weiter. Wir müssen diese „arabozentristischen“ Blickweise
verlassen und die Welt um uns herum anschauen. Ein starkes Syrien etwa
wäre grundsätzlich kein Problem für den Westen, wenn Damaskus beim
Besuch von Colin Powell im Mai 2003, einen Monat nach dem Fall von
Bagdad, die Bedingungen der USA akzeptierte.
MM: Was waren denn die Bedingungen?
Suliman: Der amerikanische Außenminister
legte damals einen kategorischen Forderungskatalog vor, der unter
anderem einen radikalen „Rausschmiss“ von Anführern palästinensischer
Organisationen aus Syrien verlangte sowie eine massive politische
Distanz zum Iran einklagte. Syrien wäre auch kein Problem, wenn das Land
die Russen in den Rücken gefallen wäre und bestimmte Pipeline vom Golf
nach Europa vor der Krise 2011 zugelassen hätte. Klingt sehr weit
hergeholt? Nehmen Sie den Streit zwischen Saudi-Arabien und Katar als
Ersatzbeispiel: Eigentlich wäre dieser eine Superchance, um den
internationalen Terrorismus endlich aufzudecken und diesem einen Schlag
zu verpassen. Denn beide Golfstaaten machten öffentlich, was jeder über
den anderen auf diesem Gebiet wusste. Anstatt auf diese Informationen
einzugehen, versuchte der Westen diese zu beschwichtigen und
herunterzuspielen, ja zwischen den beiden Staaten zu vermitteln. Als
Afghanistan nach dem 11. September der Terrorunterstützung bezichtigt
wurde, brach aber ein Krieg, ein sogenannter Antiterror-Krieg, aus.
Kurzum: Wenn es den geostrategischen Interessen des Westens gegenüber
den anderen Hauptakteuren Russland und China dient, gewinnt das Thema
Terrorismus an Bedeutung und setzt ganze Armeen in Bewegung. Wenn nicht,
dann wird das gleiche Thema uninteressant. Gleich verhält es sich bei
Themen wie Völkerrecht, Menschenrechten und Demokratie – oder eben auch
Multikulturalismus, Moderne und Laizismus in Syrien.
MM: Einstmals galten Sie von den
Mainstream-Medien gefeiert als "Deutschlands Stimme in der arabischen
Welt". Jetzt sind Sie für die gleichen Medien wie ausgestorben. Was hat
sich geändert?
Suliman: Wir haben uns auseinander
gelebt (lächeln) - Aber im Ernst. Ich habe jene Zeit genossen, auch,
zwischen der neuen und der alten Heimat via Mainstream-Medien eine
vermittelnde Rolle einzunehmen. Ich bin aber kein Medien-Junkie und
verstehe sehr wohl den klugen Satz des französischen Philosophen Michel
Foucault: „Wir reden nicht, damit wir uns verstehen. Wir reden, weil wir
uns verstehen“. Die Mainstream-Medien und ich verstehen uns
offensichtlich immer weniger. Doch in Anbetracht der eben beschriebenen
schwierigen Lage für ganze Völker ist meine persönliche Medienpräsenz
das Letzte, was mich beschäftigen würde. Beim Schreiben des Buches, bei
dem Abrufen der persönlichen Erlebnisse etwa in Syrien, Ägypten und dem
Irak, schärfte sich mein Blick umso mehr für das Wesentliche und es ist
mir bewusster geworden, wie viel Blut und Tränen in den letzten 25
Jahren im Nahen und Mittleren Osten geflossen sind oder wie es der
irakische Dichter Muthaffar Al Nawwab einmal beschreiben hatte:
„Keine Erde, vermute ich,
wurde so sehr mit Sonne und Blut begossen
wie die meiner Heimat;
keine Trauer auf Erden ist so groß
wie die der Menschen dort“.
MM: Herr Sulimann, wir danken für das
Interview. |