Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit F.E.Kirner

 

Florian Ernst KirnerMuslim-Markt interviewt
Florian Ernst Kirner, Journalist, Kabarettist, Liedermacher und Unterstützer von Rubikon
7.8.2018

Florian Ernst Kirner (Jahrgan 1975) ist als Sohn friedensbewegter, sozialdemokratischer Eltern in München geboren. Kirner besuchte das Luisengymnasium in München und legte dort 1995 das Abitur ab. Im folgenden Jahr zog er nach Hamburg und wurde dort Mitbegründer der trotzkistischen Organisation Linksruck sowie ab 1996 Chefredakteur von deren gleichnamiger Monatszeitung, die er später verlassen hat.

Unter dem Namen Prinz Chaos II. ist er seit 1999 als Liedermacher und Kabarettist bekannt. 2001 zog er nach Köln und studierte an der Universität zu Köln Anglo-Amerikanische Geschichte, Mittlere und Neuere Geschichte und Japanologie. Von 2004 bis 2006 hielt war er in Japan und studierte dort Internationale Beziehungen an der Sophia-Universität Tokio. 2006 schloss er sein Studium als Magister Artium ab. 2007 zog er nach Berlin und schrieb unter anderem für Tageszeitung junge Welt. In Südthüringen entwickelt er seit 2008 ein Kultur- und Gemeinschaftsprojekt auf Schloss Weitersroda. Zusammen mit Konstantin Wecker veröffentlichte er 2013 die Streitschrift Aufruf zur Revolte. Er tritt auch für ein breites „antifaschistisches Bündnis gegen Rechts“ ein.

MM: Sehr geehrte Kirner, Sie arbeiten sehr intensiv und mit beim Online-Magazin Rubikon. Viele Leser dürften den Begriff Rubikon erstmals im Zusammenhang des Rücktritts des Bundespräsidenten Wulff gelesen haben. Was soll er hier im Magazintitel bedeuten?

Kirner: Historisch ist der Rubikon ein Grenzfluss gewesen, an dem im Jahr 49 vor Christus Caeser mit seinen Legionen aus dem gallischen Krieg stand. Als er den Fluss überquerte, sagte er nach der Überlieferung: alea iacta est - der Würfel ist gefallen. Mit dem seither sprichwörtlich gewordenen „Überschreiten des Rubikon“ eröffnete er den Bürgerkrieg um Rom. Wir wollen unsererseits nun keineswegs einen Bürgerkrieg auslösen, ganz im Gegenteil: wir wollen einen verhindern und uns für eine vernünftige, solidarische und nachhaltige Lösung der aktuellen Weltprobleme einsetzen. Aber die Haltung der Entschlossenheit, der Kühnheit und durchaus auch einer prinzipienfesten Kompromisslosigkeit gefällt uns. Das wollen wir stark machen bei allen, die für eine bessere Welt eintreten. Daher heißt es im Untertitel: Magazin für die kritische Masse.

MM: Wie kam es, dass Sie Schlossbesitzer geworden sind?

Kirner: Ich habe lange in in den Innenstädten von Großstädten gelebt. In München, Hamburg, Köln und ein bisschen in Berlin. Nach eineinhalb Jahren in Tokio hatte ich dann genug vom Leben im Moloch. Ich wollte raus und ein Projekt starten. Mit vielen Leuten, mit einem Gartenprojekt, mit politischer Wirkung und ökologischer Vernunft. Das mache ich jetzt seit zehn Jahren und natürlich gibt es immer wieder jede Menge Probleme. Aber es hat sich auch viel Gesundes entwickelt und die aktuelle Entwicklung in Richtung eines ökologischen Desasters gibt meiner Entscheidung recht, befürchte ich.

MM: Auf Schloss Weitersroda fand erst jüngst die zweite Rubikon-Autorenkonferenz statt. Was wurde da besprochen?

Kirner: Wir haben uns zum zweiten Mal auf dem Schloss getroffen. Erst einmal ist es ganz wichtig, dass sich auch gerade bei einem Online-Magazin nicht alle nur auf der Ebene von Emails oder Telefonkonferenzen kennen. Das persönliche Kennenlernen kann nichts ersetzen und unser Herausgeber, Jens Wernicke, legt darauf zurecht sehr großen Wert. Wir hatten dann auch zehn Leute von unserer Jugendredaktion vor Ort. Die ist unser ganzer Stolz. Eine großartige Truppe, die schreibt wie der Teufel, recherchiert und dabei total authentisch ist. Am anderen Ende stand mit Dirk Fleck ein Veteran des alten Alphajournalismus, 75 Jahre alt. Das war unglaublich spannend, und wir sind alle sehr beseelt gewesen voneinander. Thematisch ging es um alles Mögliche: um die Weiterentwicklung unserer Homepage www.rubikon.news, um den Aufstieg Chinas und die Lage in Israel, um Traumatherapie, die UNO, aber auch darum, wie wir intern besser arbeiten können, wie wir unsere Kommunikation verschlüsseln können oder um eine Werbekampagne, um den Rubikon noch bekannter zu machen.

MM: Sie treten für eine menschenwürdige friedliche Welt ein, warum erweckt aber ausgerechnet Ihre Alterklasse den Eindruck, als wenn sie mehr an Geld und Karriere interessiert sei?

Kirner: So ein Interview folgt der Idee, dass ich Ihre Fragen beantworte. Aber diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich stehe da ratlos vor Ihnen. Ich bin in den westdeutschen 80er Jahren aufgewachsen. Es ging damals um die gleichen Themen: um die Abholzung der Regenwälder, erneuerbare Energien, die Gefahren der Atomkraft, den Zustand der Wälder, den Plastikwahnsinn, Abrüstung. Ich renne auch tatsächlich seit meinem 8. Lebensjahr auf Friedensdemos, damals mit meinen Eltern. Vierzig Jahre später sind all die Probleme schlimmer geworden. Ich mache weiter und schaffe es - auch dank der Leute, mit denen ich im Rubikonteam arbeite - komischerweise immer wieder, Hoffnung und Kraft zu schöpfen. Aber eine Antwort habe ich nicht, warum der natürliche Überlebensinstinkt nicht längst zu einer weltweiten, massenhaften, entschlossenen Ökologie- und Friedensbewegung geführt hat. Wie es der Mehrheit gelingt, weiterhin die Augen zu verschließen vor dem Offensichtlichen: mir ist es ein Rätsel.

MM: Ihr Einsatz für Frieden und Völkerverständigung beinhaltet auch, dass Sie zuweilen die Ausweisung des israelischen Botschafters aus Deutschland verlangt haben. Wie begegnen Sie dem Vorwurf des Antisemitismus?

Kirner: Ich bin von Juden politisch erzogen worden, von Leuten wie Tony Cliff, der eigentlich Ygael Gluckstein hieß und in London lebte. Diese Leute waren Marxisten, glühende Antifaschisten und hatten selbst große Teile ihrer Familie im Holocaust verloren. Aber sie waren eben auch Internationalisten und glasharte Kritiker der israelischen Besatzungspolitik. Irgendwann habe ich zu diesem Thema dann den Mund gehalten, muss ich zugeben. Der ganze Nahostkonflikt war in der deutschen Debatte toxisch geworden und hatte ein unerträgliches Maß an Feindseligkeit zwischen den jeweiligen Positionen entwickelt. Nach dem Karfreitagsmassaker dieses Jahres aber, als die israelische Armee mit Scharfschützen unzählige, friedlich demonstrierende Palästinenser erschossen hat, ist mir der Kragen geplatzt. Da wenige Wochen zuvor vier russische Diplomaten wegen eines bis heute ungeklärten Novichok-Attentats in London aus Deutschland ausgewiesen worden waren, fand ich nur natürlich, die Ausweisung des israelischen Botschafters zu fordern. Denn das Karfreitagsmassaker liegt für mich auf einer Ebene mit Derry, Amritsar, Soweto und anderen schrecklichen Massakern, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.

MM: Sie selbst sehen sich als "Linken", der gleichzeitig die Linkspartei als Vogel mit zwei lahmen Flügeln darstellt. Ist eine wahre antikapitalistische Bewegung in Deutschland politisch nicht vertreten?

Kirner: Zunächst: ich bin kein Parteimitglied. Und ich lebe in Thüringen. Dieses Land hat mit Bodo Ramelow einen linken Ministerpräsidenten und die LINKE ist stärkste Partei. Ich erlebe von daher genau, was die LINKE in der Regierung bedeutet und was nicht. Das müsste man jetzt sehr differenziert darstellen, denn natürlich gibt es in einer insgesamt enttäuschenden Bilanz auch sehr positive Maßnahmen. Unterm Strich bleibt für mich aber die Erkenntnis, dass die LINKE hier zwar an der Regierung ist, aber deswegen noch lange nicht an der Macht. Wir betreiben im Rubikon ja sehr viel Herrschaftskritik und auch das, was man früher Parlamentarismuskritik genannt hat. Uns ist klar, dass wir im 21. Jahrhundert völlig neuartige Organe der Demokratie entwickeln müssen, wenn wir weiterkommen wollen. Aber diese Organe können sich nur von unten und von außerhalb des etablierten politischen Betriebs entwickeln, davon bin ich - leider - überzeugt.

Antikapitalismus gibt es in Deutschland derzeit nun ziemlich viel, würde ich sagen. Aber er fließt eben nicht zusammen zu einer vernetzten und gemeinsam handlungsstarken Bewegung. Es ist alles noch sehr zersplittert und gerade die Linkspartei mit ihrem never ending Dauerfraktionskampf drückt aus, wie erneuerungsbedürftig die Linke nicht nur als Partei ist. Ich sehe aber ganz gute Ansätze. Ich glaube, der Rechtsruck der letzten Jahre bleibt nicht unbeantwortet und langsam aber sicher ist der Umgruppierungsprozess fortschrittlicher Kräfte abgeschlossen.

MM: Diese neuartigen Organe müssen sich auch mit dem Phänomen auseinandersetzen, dass ein zunehmender Teil der deutschen Bevölkerung muslimisch lebt. Wie gehen Sie damit um?

Kirner: Ich persönlich mag das. Ich habe viele Jahre in Stadtvierteln mit starker muslimischer Bevölkerung gelebt, wie Köln-Mühlheim. Und ich bin heilfroh, dass ein neues kurdisches Restaurant bei uns in Hildburghausen endlich auch Linsensuppe anbietet, die für mich überlebenswichtig ist. Die Welt ändert sich. Wir können nicht globalen Handel, globales Wirtschaften, globale Mobilität und globale Kommunikation haben und erwarten, dass sich nichts ändert dadurch. Aber ich erlebe hier in Südthüringen durchaus, wie Leute, die das nicht kennen, auch überfordert sind mit der Rasanz der Veränderung. Da kommen Ängste hoch und Abwehrreflexe.

Der Rubikon trägt dem unter anderem durch unsere Weltredaktion Rechnung. Wir wollen die intellektuelle Debatte anreichern mit Beiträgen aus aller Welt. Dazu gehören dann auch Autoren wie Nafeez Ahmed. Karin Leukefeld, die in Beirut wohnt, übersetzt neuerdings für uns Artikel aus dem Arabischen. Am Ende ist das eine zentrale Herausforderung für die Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert: wir wissen doch inzwischen, dass Menschen verschieden sind, dass sie Männer, Frauen, schwul, schwarz, muslimisch, buddhistisch, Brillenträger, groß- oder kleingewachsen sein können. Damit sollten wir endlich klarkommen und dafür braucht es einen globalen Humanismus und gleiche Menschenrechte für alle. Dazu gehört dann auch Religionsfreiheit. Aber auch die Trennung von Staat und Religion.

MM: Herrschaftskritik ist heutzutage nicht mehr ganz so einfach. Wenn man z.B. den türkischen Präsidenten Erdogan kritisiert, hat man zwar den türkischen Herrscher kritisiert, unterstützt aber die Linie der westlichen Weltherrscher, die ihn nicht mehr haben wollen. Kritisiert man die immerhin auch gewählte Regierung der Islamischen Republik Iran, hat man wiederum die Herrscher vorort kritisiert aber unterstützt damit den weltweiten Imperialismus. Wie gelingt es Ihnen diesen Spagat vernünftig auszuüben und wie weit lassen Sie z.B. Befürworter Erdogans oder der islamischen Demokratie, wie es es die Anhänger Iran verstehen, zu Wort kommen?

Kirner: Mir ist nicht klar, was da immer so schwierig sein soll. Ich kann den Iran verteidigen gegen drohende Angriffe imperialistischer Hauptmächte und gleichzeitig die innenpolitischen Zustände oder die Rolle des Iran als Regionalimperialist kritisieren. Was spricht dagegen, die doppelte Heuchelei der Bundesregierung anzugreifen, die Erdogan massiv mit Waffen beliefert und gleichzeitig so tut, als wäre sie ganz entsetzt von dessen diktatorischer Machtausübung?

Man muss halt differenzieren und sollte sich nicht immer rückhaltlos und mit Hurra auf eine Seite werfen. Eine Analyse, die uns weiterbringt, muss Widersprüche analysieren. Das versuchen wir im Rubikon, auch wenn das natürlich mal besser und mal weniger gut gelingt. Was die Demokratie im Iran angeht, habe ich vermutlich eine etwas andere Auffassung als Sie. Ich bin seit meiner Jugend mit den Kindern iranischer Emigranten befreundet und lehne das iranische Regime eindeutig ab. Das hält mich aber keine Sekunde davon ab, die schreckliche Kriegstreiberei von Trump oder Netanyahu gegen den Iran laut und deutlich zu benennen. Der Feind meines Feindes ist eben nicht automatisch mein Freund.

MM: Sind Sie ein Verschwörungstheoretiker und haben Sie auch abgeschworen?

Kirner: In einem neuen Lied mit Anna Katharina, die gerade mit der Band Schandmaul ihre dritte Goldene Platte eingeheimst hat, habe ich satirisch abgeschworen. Denn ich finde es inzwischen grotesk, wie selbst das Offensichtlichste mit der Keule „Verschwörungstheorie“ abgekanzelt wird, wenn es einigen Machtstrukturen nicht in den Kram passt. Über die Rolle von Geheimdiensten und den sogenannten „tiefen“ oder auch „permanenten“ Staat muss beispielsweise dringend geredet werden. Und wenn man sich ansieht, wie dieser NSU-Prozess vor allem dazu diente, die Rolle des Verfassungsschutzes zu vertuschen, sehen wir, wie tief dieser Sumpf ist.

Rubikon hat da, meine ich, einen sehr souveränen und offensiven Umgang. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund. Wir decken die Lügen im Syrienkrieg auf, untersuchen die Rolle der Weißhelme und lassen Leute, die beispielsweise die offizielle Version des 11. Septembers 2001 ablehnen, zu Wort kommen. Aber wir sind der Wissenschaft und den Fakten verpflichtet und stellen uns nicht jeder Absurdität, die im Internet herumfliegt, zur Verfügung. Ich denke, es gelingt uns recht gut, die Waage im Gleichgewicht der Vernunft zu halten.

MM: Wie kann man mir Rubikon konstruktiv und kritisch kooperieren?

Kirner: Wir sind ausgesprochene Fans von Kooperation und gegenseitiger Werbung. Wir tun das mit vielen Publikationen, dass wir sie auch über unsere Kanäle pushen, denn wir stehen dem Konkurrenzgedanken mit einer gewissen Verständnislosigkeit gegenüber. Wir brauchen doch viel mehr gute, kritische, fortschrittliche Publikationen, offline und online. Wir brauchen mehr echten, solidarischen Meinungs- und Gedankenaustausch.

Deswegen ist es sehr einfach, mit uns zu kooperieren. Man braucht nur einen Vorschlag zu machen. Wenn wir es irgendwie hinkriegen, sind wir eigentlich immer dafür, sofern uns die jeweilige Publikation und ihr Anliegen sympathisch ist. Wir kooperieren ständig, auch sehr oft mit Verlagen, aus deren Büchern wir Vorabdrucke bringen oder, wie gesagt, auch mit Webseiten in anderen Sprachen, von denen wir Texte in deutscher Übersetzung bringen.

MM: Herr Kirner, wir danken für das Interview.

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