MM: Sehr geehrte Kirner, Sie arbeiten sehr
intensiv und mit beim Online-Magazin Rubikon. Viele Leser dürften den
Begriff Rubikon erstmals im Zusammenhang des Rücktritts des
Bundespräsidenten Wulff gelesen haben. Was soll er hier im Magazintitel
bedeuten?
Kirner:
Historisch ist der Rubikon ein Grenzfluss gewesen, an dem im Jahr 49 vor
Christus Caeser mit seinen Legionen aus dem gallischen Krieg stand. Als
er den Fluss überquerte, sagte er nach der Überlieferung: alea iacta est
- der Würfel ist gefallen. Mit dem seither sprichwörtlich gewordenen
„Überschreiten des Rubikon“ eröffnete er den Bürgerkrieg um Rom. Wir
wollen unsererseits nun keineswegs einen Bürgerkrieg auslösen, ganz im
Gegenteil: wir wollen einen verhindern und uns für eine vernünftige,
solidarische und nachhaltige Lösung der aktuellen Weltprobleme
einsetzen. Aber die Haltung der Entschlossenheit, der Kühnheit und
durchaus auch einer prinzipienfesten Kompromisslosigkeit gefällt uns.
Das wollen wir stark machen bei allen, die für eine bessere Welt
eintreten. Daher heißt es im Untertitel: Magazin für die kritische
Masse.
MM: Wie kam es, dass Sie Schlossbesitzer
geworden sind?
Kirner: Ich
habe lange in in den Innenstädten von Großstädten gelebt. In München,
Hamburg, Köln und ein bisschen in Berlin. Nach eineinhalb Jahren in
Tokio hatte ich dann genug vom Leben im Moloch. Ich wollte raus und ein
Projekt starten. Mit vielen Leuten, mit einem Gartenprojekt, mit
politischer Wirkung und ökologischer Vernunft. Das mache ich jetzt seit
zehn Jahren und natürlich gibt es immer wieder jede Menge Probleme. Aber
es hat sich auch viel Gesundes entwickelt und die aktuelle Entwicklung
in Richtung eines ökologischen Desasters gibt meiner Entscheidung recht,
befürchte ich.
MM: Auf Schloss Weitersroda fand erst
jüngst die zweite Rubikon-Autorenkonferenz statt. Was wurde da
besprochen?
Kirner: Wir
haben uns zum zweiten Mal auf dem Schloss getroffen. Erst einmal ist es
ganz wichtig, dass sich auch gerade bei einem Online-Magazin nicht alle
nur auf der Ebene von Emails oder Telefonkonferenzen kennen. Das
persönliche Kennenlernen kann nichts ersetzen und unser Herausgeber,
Jens Wernicke, legt darauf zurecht sehr großen Wert. Wir hatten dann
auch zehn Leute von unserer Jugendredaktion vor Ort. Die ist unser
ganzer Stolz. Eine großartige Truppe, die schreibt wie der Teufel,
recherchiert und dabei total authentisch ist. Am anderen Ende stand mit
Dirk Fleck ein Veteran des alten Alphajournalismus, 75 Jahre alt. Das
war unglaublich spannend, und wir sind alle sehr beseelt gewesen
voneinander. Thematisch ging es um alles Mögliche: um die
Weiterentwicklung unserer Homepage
www.rubikon.news, um den Aufstieg Chinas und die Lage in Israel, um
Traumatherapie, die UNO, aber auch darum, wie wir intern besser arbeiten
können, wie wir unsere Kommunikation verschlüsseln können oder um eine
Werbekampagne, um den Rubikon noch bekannter zu machen.
MM: Sie treten für eine menschenwürdige
friedliche Welt ein, warum erweckt aber ausgerechnet Ihre Alterklasse
den Eindruck, als wenn sie mehr an Geld und Karriere interessiert sei?
Kirner: So
ein Interview folgt der Idee, dass ich Ihre Fragen beantworte. Aber
diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich stehe da ratlos vor
Ihnen. Ich bin in den westdeutschen 80er Jahren aufgewachsen. Es ging
damals um die gleichen Themen: um die Abholzung der Regenwälder,
erneuerbare Energien, die Gefahren der Atomkraft, den Zustand der
Wälder, den Plastikwahnsinn, Abrüstung. Ich renne auch tatsächlich seit
meinem 8. Lebensjahr auf Friedensdemos, damals mit meinen Eltern.
Vierzig Jahre später sind all die Probleme schlimmer geworden. Ich mache
weiter und schaffe es - auch dank der Leute, mit denen ich im
Rubikonteam arbeite - komischerweise immer wieder, Hoffnung und Kraft zu
schöpfen. Aber eine Antwort habe ich nicht, warum der natürliche
Überlebensinstinkt nicht längst zu einer weltweiten, massenhaften,
entschlossenen Ökologie- und Friedensbewegung geführt hat. Wie es der
Mehrheit gelingt, weiterhin die Augen zu verschließen vor dem
Offensichtlichen: mir ist es ein Rätsel.
MM: Ihr Einsatz für Frieden und
Völkerverständigung beinhaltet auch, dass Sie zuweilen die Ausweisung
des israelischen Botschafters aus Deutschland verlangt haben. Wie
begegnen Sie dem Vorwurf des Antisemitismus?
Kirner: Ich
bin von Juden politisch erzogen worden, von Leuten wie Tony Cliff, der
eigentlich Ygael Gluckstein hieß und in London lebte. Diese Leute waren
Marxisten, glühende Antifaschisten und hatten selbst große Teile ihrer
Familie im Holocaust verloren. Aber sie waren eben auch
Internationalisten und glasharte Kritiker der israelischen
Besatzungspolitik. Irgendwann habe ich zu diesem Thema dann den Mund
gehalten, muss ich zugeben. Der ganze Nahostkonflikt war in der
deutschen Debatte toxisch geworden und hatte ein unerträgliches Maß an
Feindseligkeit zwischen den jeweiligen Positionen entwickelt. Nach dem
Karfreitagsmassaker dieses Jahres aber, als die israelische Armee mit
Scharfschützen unzählige, friedlich demonstrierende Palästinenser
erschossen hat, ist mir der Kragen geplatzt. Da wenige Wochen zuvor vier
russische Diplomaten wegen eines bis heute ungeklärten
Novichok-Attentats in London aus Deutschland ausgewiesen worden waren,
fand ich nur natürlich, die Ausweisung des israelischen Botschafters zu
fordern. Denn das Karfreitagsmassaker liegt für mich auf einer Ebene mit
Derry, Amritsar, Soweto und anderen schrecklichen Massakern, die sich
ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.
MM: Sie selbst sehen sich als "Linken",
der gleichzeitig die Linkspartei als Vogel mit zwei lahmen Flügeln
darstellt. Ist eine wahre antikapitalistische Bewegung in Deutschland
politisch nicht vertreten?
Kirner:
Zunächst: ich bin kein Parteimitglied. Und ich lebe in Thüringen. Dieses
Land hat mit Bodo Ramelow einen linken Ministerpräsidenten und die LINKE
ist stärkste Partei. Ich erlebe von daher genau, was die LINKE in der
Regierung bedeutet und was nicht. Das müsste man jetzt sehr
differenziert darstellen, denn natürlich gibt es in einer insgesamt
enttäuschenden Bilanz auch sehr positive Maßnahmen. Unterm Strich bleibt
für mich aber die Erkenntnis, dass die LINKE hier zwar an der Regierung
ist, aber deswegen noch lange nicht an der Macht. Wir betreiben im
Rubikon ja sehr viel Herrschaftskritik und auch das, was man früher
Parlamentarismuskritik genannt hat. Uns ist klar, dass wir im 21.
Jahrhundert völlig neuartige Organe der Demokratie entwickeln müssen,
wenn wir weiterkommen wollen. Aber diese Organe können sich nur von
unten und von außerhalb des etablierten politischen Betriebs entwickeln,
davon bin ich - leider - überzeugt.
Antikapitalismus gibt es in Deutschland derzeit
nun ziemlich viel, würde ich sagen. Aber er fließt eben nicht zusammen
zu einer vernetzten und gemeinsam handlungsstarken Bewegung. Es ist
alles noch sehr zersplittert und gerade die Linkspartei mit ihrem never
ending Dauerfraktionskampf drückt aus, wie erneuerungsbedürftig die
Linke nicht nur als Partei ist. Ich sehe aber ganz gute Ansätze. Ich
glaube, der Rechtsruck der letzten Jahre bleibt nicht unbeantwortet und
langsam aber sicher ist der Umgruppierungsprozess fortschrittlicher
Kräfte abgeschlossen.
MM: Diese neuartigen Organe müssen sich
auch mit dem Phänomen auseinandersetzen, dass ein zunehmender Teil der
deutschen Bevölkerung muslimisch lebt. Wie gehen Sie damit um?
Kirner: Ich
persönlich mag das. Ich habe viele Jahre in Stadtvierteln mit starker
muslimischer Bevölkerung gelebt, wie Köln-Mühlheim. Und ich bin
heilfroh, dass ein neues kurdisches Restaurant bei uns in Hildburghausen
endlich auch Linsensuppe anbietet, die für mich überlebenswichtig ist.
Die Welt ändert sich. Wir können nicht globalen Handel, globales
Wirtschaften, globale Mobilität und globale Kommunikation haben und
erwarten, dass sich nichts ändert dadurch. Aber ich erlebe hier in
Südthüringen durchaus, wie Leute, die das nicht kennen, auch überfordert
sind mit der Rasanz der Veränderung. Da kommen Ängste hoch und
Abwehrreflexe.
Der Rubikon trägt dem unter anderem durch
unsere Weltredaktion Rechnung. Wir wollen die intellektuelle Debatte
anreichern mit Beiträgen aus aller Welt. Dazu gehören dann auch Autoren
wie Nafeez Ahmed. Karin Leukefeld, die in Beirut wohnt, übersetzt
neuerdings für uns Artikel aus dem Arabischen. Am Ende ist das eine
zentrale Herausforderung für die Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert:
wir wissen doch inzwischen, dass Menschen verschieden sind, dass sie
Männer, Frauen, schwul, schwarz, muslimisch, buddhistisch,
Brillenträger, groß- oder kleingewachsen sein können. Damit sollten wir
endlich klarkommen und dafür braucht es einen globalen Humanismus und
gleiche Menschenrechte für alle. Dazu gehört dann auch
Religionsfreiheit. Aber auch die Trennung von Staat und Religion.
MM: Herrschaftskritik ist heutzutage
nicht mehr ganz so einfach. Wenn man z.B. den türkischen Präsidenten
Erdogan kritisiert, hat man zwar den türkischen Herrscher kritisiert,
unterstützt aber die Linie der westlichen Weltherrscher, die ihn nicht
mehr haben wollen. Kritisiert man die immerhin auch gewählte Regierung
der Islamischen Republik Iran, hat man wiederum die Herrscher vorort
kritisiert aber unterstützt damit den weltweiten Imperialismus. Wie
gelingt es Ihnen diesen Spagat vernünftig auszuüben und wie weit lassen
Sie z.B. Befürworter Erdogans oder der islamischen Demokratie, wie es es
die Anhänger Iran verstehen, zu Wort kommen?
Kirner: Mir
ist nicht klar, was da immer so schwierig sein soll. Ich kann den Iran
verteidigen gegen drohende Angriffe imperialistischer Hauptmächte und
gleichzeitig die innenpolitischen Zustände oder die Rolle des Iran als
Regionalimperialist kritisieren. Was spricht dagegen, die doppelte
Heuchelei der Bundesregierung anzugreifen, die Erdogan massiv mit Waffen
beliefert und gleichzeitig so tut, als wäre sie ganz entsetzt von dessen
diktatorischer Machtausübung?
Man muss halt differenzieren und sollte sich
nicht immer rückhaltlos und mit Hurra auf eine Seite werfen. Eine
Analyse, die uns weiterbringt, muss Widersprüche analysieren. Das
versuchen wir im Rubikon, auch wenn das natürlich mal besser und mal
weniger gut gelingt. Was die Demokratie im Iran angeht, habe ich
vermutlich eine etwas andere Auffassung als Sie. Ich bin seit meiner
Jugend mit den Kindern iranischer Emigranten befreundet und lehne das
iranische Regime eindeutig ab. Das hält mich aber keine Sekunde davon
ab, die schreckliche Kriegstreiberei von Trump oder Netanyahu gegen den
Iran laut und deutlich zu benennen. Der Feind meines Feindes ist eben
nicht automatisch mein Freund.
MM: Sind Sie ein
Verschwörungstheoretiker und haben Sie auch abgeschworen?
Kirner: In
einem neuen
Lied mit Anna Katharina, die gerade mit der Band Schandmaul ihre
dritte Goldene Platte eingeheimst hat, habe ich satirisch abgeschworen.
Denn ich finde es inzwischen grotesk, wie selbst das Offensichtlichste
mit der Keule „Verschwörungstheorie“ abgekanzelt wird, wenn es einigen
Machtstrukturen nicht in den Kram passt. Über die Rolle von
Geheimdiensten und den sogenannten „tiefen“ oder auch „permanenten“
Staat muss beispielsweise dringend geredet werden. Und wenn man sich
ansieht, wie dieser NSU-Prozess vor allem dazu diente, die Rolle des
Verfassungsschutzes zu vertuschen, sehen wir, wie tief dieser Sumpf ist.
Rubikon hat da, meine ich, einen sehr
souveränen und offensiven Umgang. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund.
Wir decken die Lügen im Syrienkrieg auf, untersuchen die Rolle der
Weißhelme und lassen Leute, die beispielsweise die offizielle Version
des 11. Septembers 2001 ablehnen, zu Wort kommen. Aber wir sind der
Wissenschaft und den Fakten verpflichtet und stellen uns nicht jeder
Absurdität, die im Internet herumfliegt, zur Verfügung. Ich denke, es
gelingt uns recht gut, die Waage im Gleichgewicht der Vernunft zu
halten.
MM: Wie kann man mir Rubikon konstruktiv
und kritisch kooperieren?
Kirner: Wir
sind ausgesprochene Fans von Kooperation und gegenseitiger Werbung. Wir
tun das mit vielen Publikationen, dass wir sie auch über unsere Kanäle
pushen, denn wir stehen dem Konkurrenzgedanken mit einer gewissen
Verständnislosigkeit gegenüber. Wir brauchen doch viel mehr gute,
kritische, fortschrittliche Publikationen, offline und online. Wir
brauchen mehr echten, solidarischen Meinungs- und Gedankenaustausch.
Deswegen ist es sehr einfach, mit uns zu
kooperieren. Man braucht nur einen Vorschlag zu machen. Wenn wir es
irgendwie hinkriegen, sind wir eigentlich immer dafür, sofern uns die
jeweilige Publikation und ihr Anliegen sympathisch ist. Wir kooperieren
ständig, auch sehr oft mit Verlagen, aus deren Büchern wir Vorabdrucke
bringen oder, wie gesagt, auch mit Webseiten in anderen Sprachen, von
denen wir Texte in deutscher Übersetzung bringen.
MM: Herr Kirner, wir danken für das Interview. |