MM: Sehr geehrter Prof. Stosch, worin
besteht die Herausforderung Islam für einen Katholiken?
Prof. Stosch: Der Islam konfrontiert
Katholiken mit Seiten der eigenen Religion und Spiritualität, die sie
gerade in Deutschland gerne vergessen. Er zeigt, dass Glaube nicht nur
für den Kopf da ist, sondern mit allen Sinnen gelebt werden will. Glaube
hat eben nicht nur mit Innerlichkeit und Gesinnung zu tun, sondern sucht
auch eine konkrete Gestalt. Die Ernsthaftigkeit, mit der viele Muslime
fasten, beten und pilgern erinnert Katholiken daran, wie sehr auch ihre
eigene Spiritualität konkrete rituelle Praxis braucht. Die Schönheit der
Rezitation des Korans macht sie darauf aufmerksam, wie wichtig Ästhetik
auch in den eigenen sakramentalen Vollzügen ist.
MM: Seit dem Werk "Korankunde für
Christen: ein Zugang zum heiligen Buch" von Prof. Paul Schwarzenau und
den Bemühungen von Prof. Annemarie Schimmel hat sich kaum ein
christlicher Theologe bzw. Theologiewissenschaftler so intensiv mit der
Ästhetik des Heiligen Koran beschäftigt wie Sie. Was war Ihre Motivation
dazu?
Prof. Stosch: Ich durfte schon früh in
meinem Leben Muslime kennen lernen, die ihren Glauben mit großer
Aufrichtigkeit und überzeugender Spiritualität leben. Auch in meinem
Arbeitsumfeld in Paderborn kooperiere ich mit muslimischen Theologinnen
und Theologen, die einfach durch ihre ganze Lebensart Lust auf den Islam
machen und zeigen, dass mehr in dieser Religion steckt, als wir durch
die gegenwärtige mediale Vermittlung merken. Immer wieder habe ich bei
diesen Begegnungen erfahren, wie sehr die Rezitation des Korans im
Mittelpunkt muslimischer Spiritualität steht. Der Koran fasziniert auch
mich durch seine Schönheit. Als Christ kann ich dieser
Schönheitserfahrung Wertschätzung zukommen lassen, ohne damit meinen
eigenen Glauben zu relativieren.
MM: Sie werfen die Frage auf, ob nicht
auch Christen den Propheten Muhammad als Gesandten Gottes in Betracht
ziehen könnten. Wäre das nicht eine Überforderung für Christen?
Prof. Stosch: Letztlich hängt das stark
von der Frage ab, wie man den Koran versteht. Denn die Sendung Muhammads
hat aus muslimischer Sicht ja erst einmal die Herabsendung des Korans
zum Ziel. Ich habe durch intensive Lektüre des Korans immer mehr den
Eindruck, dass man ihn auch christlicherseits durchaus als Wort Gottes
verstehen kann, also als ein Wort des Gottes Jesu Christi, das auch
Christen Entscheidendes zu sagen hat. Wenn man das ernst nimmt, kann man
auch Muhammad in einer apostolischen Sendung sehen. Sicher werde ich
diese Sendung als Christ dann immer von Christus her lesen und auf ihn
hin. Und ich werde von daher auch nicht den Endgültigkeitsanspruch
akzeptieren können, der gewöhnlich muslimischerseits mit der Sendung
Muhammads verbunden wird. Aber auch als Christ kann ich im Koran und der
Sendung Muhammads eine Bereicherung meines Glaubens sehen, wenn ich
beide in einer Weise interpretiere, die meinen eigenen Glauben nicht
kompromitiert. Und nach vielen Jahren intensiver Forschung habe ich den
Eindruck, dass das möglich ist – zumindest wenn man den Wortlaut des
Korans ernst nimmt.
MM: Sie haben einmal in einem
interessanten Interview zurecht gefordert die Auslegung der Scharia
nicht Terroristen zu überlassen. Das ist vor allem Aufgabe der Muslime!
Was aber kann die deutsche Wissenschaftslandschaft tun, um eine extrem
diskreditierende Missinterpretation des Islam nicht Islamhassern unter
Wissenschaftlern zu überlassen?
Prof. Stosch: Die deutsche
Wissenschaftslandschaft muss einfach zeigen, wie komplex die Scharia im
Islam diskutiert wird. Je mehr wir zeigen, wie vielfältig Muslime denken
und wie unterschiedlich die Scharia schon immer verstanden wird, desto
deutlicher wird, wie unangebracht es ist, dem Islam mit
Pauschalvorwürfen entgegenzutreten.
MM: Sie schreiben in Ihrem Buch: "wenn
auch Jesus Christus die einzige Mensch gewordene Gestalt des Logos
Gottes ist, schließt das nicht aus, dass im Koran die Schönheit dieses
Logos hörbare Wirklichkeit wird". Tatsächlich glauben manche Muslime,
wie Sie es in Qom erlebt haben, dass Muhammad die Vollendung dieses
Logos ist und der Prophet den Heiligen Koran bestätigt, aber ist Ihre
Aussage unabhängig von dem Dialogansatz nicht auch eine Absage an die
Dreieinigkeit in ihrer klassischen Form?
Prof. Stosch: Nein, die christliche
Lehre von der Dreieinigkeit Gottes setzt ja nicht den Menschen Jesus von
Nazaret unvermittelt mit Gott gleich. Vielmehr geht es ihr darum, dass
Gott sich in seinem Wort sagt und uns dabei mit seinem Heiligen Geist
erfüllt und so die Erkenntnis des Wortes ermöglicht. Christen bekennen,
dass dieses Wort in Jesus Christus eine unüberholbare und unüberbietbare
Gestalt gefunden hat. Aber dieses Bekenntnis schließt keineswegs die
Möglichkeit aus, dass das dasselbe Wort, das in Jesus Christus Mensch
geworden ist, auch in der Rezitation des Korans erfahrbare Wirklichkeit
wird.
MM: Nach schiitischer Lehre ist Muhammad
als bester Mensch absolut fehlerfrei, sündfrei und eben idealer Mensch,
sozusagen der ecce home aus der Bibel. Jeder Atemzug, den er atmet,
vollzieht er im Namen Gottes und jeder Gedanke ist Gedanke Gottes. Jedes
Wort, das er sagt - auch außerhalb des Heiligen Koran - ist ein Wort
Gottes. Denn als ultimativer Mensch sieht er mit den Augen Gottes, hört
mit den Ohren Gottes, spricht mit der Zunge Gottes usw., selbst wenn
Gott erhaben ist über unsere körperlich begrenzte Schilderung. Jeder
Mensch ist Träger des ausgeschütteten Geistes Gottes, der sich in der
Person von Muhammad vollständig entfaltet, weil dieser sich vollständig
hingegeben hat (arabische Stichworte: taslim/islam). In der Lehre der
Schia gilt das aber auch für Jesus und für Maria! Wenn man einmal den
Aspekt ausklammert, wer der "höher" stehende sei, worin unterscheidet
sich dann das Jesusbild, an das Sie glauben von demjenigen dieser
Muslime?
Prof. Stosch: Jesus ist für mich nicht
nur ein vollkommener Mensch, sondern auch die Selbstaussage Gottes. In
ihm erfahre ich definitiv und unüberholbar, wer Gott ist. Durch ihn weiß
ich im Leben und im Sterben, dass ich mich definitiv auf die
Menschlichkeit von Gottes Liebe verlassen darf. Eine solche Gewähr kann
mir kein Mensch geben – auch dann nicht, wenn er noch so vollkommen ist.
Letzte Gewissheit, dass Gott uns rettet, kann mir die Begegnung mit
Jesus nur geben, wenn er nicht nur ein Geschöpf ist. Für Schiiten sind
Jesus, Muhammad und der Koran aber alle nur geschaffener Ausdruck des
göttlichen Willens. Das ist mir als Christ zu wenig. In Jesus begegnet
mir die ungeschaffene Wirklichkeit Gottes selbst, eben sein
schöpferisches Wort und seine vergebende Barmherzigkeit. Das scheint mir
eine bleibende Differenz zwischen Islam und Christentum zu sein.
MM: Aus islamischer Sicht sind sowohl
Jesus als auch Muhammad gekommen, um den Weg zur unermesslichen Liebe
Gottes aufzuzeigen, der sich in der Nächstenliebe widerspiegelt. Das
beinhaltete vor allem die Verbrüderung aller Menschen. Welche
Verantwortung kann die Theologie in Deutschland in einer Zeit
übernehmen, in der offensichtlich viel zu viele Kräfte und Mächte die
Menschheit zu spalten suchen?
Prof. Stosch: Die Theologien beider
Religionen sollten nach Wegen suchen, die zeigen, wie wir eine
Wertschätzung der je anderen Religion gerade da entwickeln können, wo
diese anders ist als die eigene. Sicher gibt es auch viele
Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen. Aber gerade die Unterschiede
werden derzeit von fundamentalistischen Kräften genutzt, um die
Religionen gegeneinander auszuspielen und einen Kampf der Kulturen zu
beschwören. Gerade die Unterschiede sind es, die Islamkritiker nutzen,
um zu zeigen, dass der Islam nicht zu Europa gehört, und die der IS
benutzt, um zum Mord an Christen aufzurufen. Hier ist es wichtig, dass
wir diese Unterschiede nicht kleinreden, aber zugleich zu zeigen
versuchen, dass diese Unterschiede einen Wert haben, der uns bereichert.
Eben das versuche ich auch in meinem Buch zu zeigen. Und genau so
verstehe ich es, wenn der Koran in Sure al-Maida Vers 48 andeutet, dass
die Vielfalt unterschiedlicher Glaubenswege im Heilsratschluss Gottes
begründet ist.
MM: Was bedeutet das praktisch? Wie wäre
es mit einer gemeinsamen christlich-muslimischen Pilgerfahrt nach Fatima
in Portugal und Weiterflug von dort zum Arba'in-Marsch von Nadschaf nach
Kerbela; Fatima ist immerhin der heiligste muslimische Frauenname und in
Kerbela ist auch ein ehemaliger Christ an der Seite der Heiligen zum
Märtyrer geworden?
Prof. Stosch: Ich halte nichts davon die
Frömmigkeitstraditionen beider Religionen miteinander zu vermischen. Ich
kann das, was Muslime tun, auch wertschätzen, ohne es als mein Eigenes
zu tun. Aber natürlich ist es möglich, in zeichenhafter Weise durch eine
gemeinsame Pilgerfahrt zu zeigen, dass wir gemeinsam unterwegs sind und
uns in unserer Sehnsucht nach dem einen Gott gegenseitig begleiten und
bereichern können. Von daher könnte die von Ihnen vorgeschlagene Aktion
als Zeichenhandlung durchaus sinnvoll sein, nicht aber als regelmäßige
Veränderung der Frömmigkeitspraxis.
MM: Auf unserem letzten Arba'in Marsch
von Nadschaf nach Kerbela hat ein muslimischer Theologie aus dem Iran
uns dazu aufgefordert, dass wir der Minderheit der Christen in
Deutschland helfen müssen, Weihnachten wieder als Geburtstag Jesu zu
verstehen und nicht als Pilgerfahrt zu einem Konsumtempel oder
Geburtstag des Weihnachtsmannes. Was halten sie von der Idee eines
gemeinsamen christlich-muslimischen Weihnachtsfestes?
Prof. Stosch: Ein gemeinsames
Weihnachtsfest wäre mir wieder zu viel Vermischung. Aber natürlich freue
ich mich, wenn Muslime uns Christen helfen, den eigentlichen Wert von
Weihnachten zu verteidigen. Und ich finde ich es bereichernd, wenn auch
Muslime in ihrer Weise den Geburtstag von Jesus feiern. Das rührt mich –
genauso wie mich etwa die Sure Maryam rührt und bewegt. Zeichenhaft kann
es auch hier gut tun, unserer gemeinsamen Liebe zu Jesus auch in einer
gemeinsamen Feier Ausdruck zu verleihen. Aber letztlich wird Jesus für
Christen immer eine viel größere Bedeutung haben als für Muslime, so
dass die für sie an Weihnachten Wirklichkeit werdende
Menschenfreundlichkeit Gottes etwas bleibt, das sich nur begrenzt
interreligiös darstellen lässt.
MM: Welche Projekte planen Sie in naher
Zukunft?
Prof. Stosch: Ich arbeite zusammen mit
muslimischen Kollegen an einem Buch über Jesus im Koran. Außerdem fahre
ich Ende Februar nach Maschhad und Teheran, um dort über muslimische und
christliche Wege der Schrifthermeneutik zu diskutieren. Schließlich
versuche ich mehr junge Leute auf muslimischer, jüdischer und
christlicher Seite zu finden, die mit meinem Team und mir zu
komparativen theologischen Themen forschen wollen.
MM: Herr Prof. Stosch, wir danken für
das Interview. |