Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Iris Hefets

 

Muslim-Markt interviewt
Iris Hefets, Mitbegründerin von „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“
3.2.2017

Iris Hefets, eine israelische Jüdin, ist Psychoanalytikerin und Autorin. Sie ist Mitbegründerin der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden im Nahost“ und sitzt im Vorstand.

Hefets verließ Israel 2002 aus politischen Gründen und kam nach Deutschland. Im Jahr 2010 verfasste sie einen Artikel in der taz, der große Diskussionen auslöste. Sie lebt in Berlin.

MM: Sehr geehrte Frau Hefets, die Organisation „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ unterstützt Boykottbewegungen gegen Waren aus den besetzten Gebieten in Palästina, um ein Zeichen zu setzen gegen Besatzung und Apartheid. Gegner werfen Ihnen vor, sie würden zum Boykott jüdischer Waren aufrufen. Was antworten Sie darauf?

Hefets: Ich antworte, dass es so etwas wie eine jüdische bzw. christliche oder muslimische Ware nicht gibt. Menschen können eine solche Identität haben, Waren aber nicht. Sind "Ahava" Kosmetikprodukte jüdisch? Wenn das Territorium eine so aufgeladene Bedeutung hat, dann ist es besonders für das Judentum fatal. Juden entwickelten die Bindung zu einem Ort bis zu einer besonderen Form der Abstraktion (Gott wird auf Hebräisch auch "der Ort" genannt), vor allem durch die Erfahrung und Tradition, die Kultur überall hin tragen zu können, ohne an einen bestimmten konkreten Ort gebunden zu sein. Als Ersatz etablierte sich Zion bzw. Jerusalem als abstrakter Ort der Sehnsucht. Leider hat das nationalistische Judentum in Israel und in vielen Orten der Diaspora die Oberhand gewonnen, so dass man heute sogar bei israelischen Produkten (die ja keineswegs immer von jüdischen Israelis produziert werden) von einer "jüdischen Ware" spricht. Es ist ein Bild der jüdischen Tragödie, was aus dem Judentum geworden ist.

MM: Die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden“ setzt sich für eine Zweistaatenlösung ein. Wie soll das möglich sein angesichts von ca. 20 % nichtjüdischen Einwohnern mit israelischem Pass? Sollen diese Bürger ausgewiesen werden?

Hefets: Wir haben bei der Gründung der Organisation diese Lösung befürwortet, sagen aber auch immer, dass es den dort lebenden Menschen selbst zusteht zu bestimmen, wie sie leben wollen. Ich persönlich glaube nicht, dass diese Lösung oder irgendeine andere momentan realisierbar ist. Die israelischen Palästinenser, wie man sie heute nennt, dürfen natürlich nicht ausgewiesen werden: Das wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Fortsetzung der Nakba. Sie sind die Eingeborenen und haben eine wichtige Stimme bei der Suche nach einer Lösung. Leider hat aber Israel keine Motivation zu einer Lösung, weshalb die BDS-Kampagne nötig ist.

MM: Was sind die Gründe dafür, dass Juden sich nicht eine Einstaatenlösung vorstellen können wie z.B. die Weißen in Südafrika?

Hefets: Israel ist darauf gebaut, dass Juden in Israel privilegiert sind. Juden dürfen sofort nach Israel auswandern und einen israelischen Pass bekommen, auch Nachkommen von Juden, die selbst nicht Juden sind, dürfen es unter bestimmten Bedingungen. Palästinenser, die im gleichen Territorium geboren sind, dürfen sich nicht einmal frei bewegen und beim Auswandern riskieren sie manchmal ihre Rückkehrmöglichkeit. Israel will so wenig Palästinenser wie möglich auf so viel Boden wie möglich haben. Nach Jahren von Unterdrückung haben die Israelis Angst vor dem Verlust ihrer Machtposition und vor der Rache der von ihnen unterdrückten Menschen, und das ist verständlich. Wenn man Unterdrückung, Demütigung und Zerstörung sät, erntet man Destruktion, Attentate und gewaltsame Angriffe. Wenn es nur einen Staat geben würde, würde es keine jüdische Mehrheit mehr geben. Schon heute leben zwischen Jordanien und dem Mittelmehr etwa 10 Million Menschen und mindestens 5 Millionen davon sind Palästinenser. Zählt man die Araber im Lande, dann haben die aus Europa stammenden Juden guten Grund, Angst zu haben. Etwa 40% der Juden sind arabische Juden. Täten sie sich zusammen mit den Palästinensern, um ihre arabische Kultur ausleben zu dürfen, wäre es wie in Südafrika. Auch die Weißen dort gaben erst nach, nachdem die Schwarzen einen blutigen Kampf in Kombination mit einem gewaltfreien Boykott aus dem Ausland durchgeführt haben. Die Weißen waren so isoliert in der Welt, dass sie die Motivation für eine Änderung - die wir in Israel herbeizuführen wollen - entwickeln mussten.

MM: Im Dezember 2016 hat die Bank für Sozialwirtschaft ihr Vereinskonto gekündigt. Unseres Wissens nach ist es die erste Kontenkündigung für Juden in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Warum haben die Medien den Skandal nicht hinreichend thematisiert?

Hefets: Die Medien, also die dort arbeitenden Journalisten und Redakteure, haben Angst beim Thema Israel. Wenn man z.B. das Wort Boykott gegen israelische Institutionen und Produkte in Deutschland ausspricht, sehen die meisten Deutschen die Rückkehr der Nazis und bekommen Angst. Israel wird oft als eine Art Naturreservat gesehen, in der die übrig gebliebenen Juden geschützt werden müssen. Das ist ja Deutschlands "Staatsräson". Und aus dieser Angst heraus sehen viele Deutsche bei jedem Begriff, der mit der Nazizeit assoziiert wird, den Anfang der Vervollständigung der Vernichtung der Juden. Demzufolge sahen viele Deutsche und die Medien hier den damaligen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad als Hitlers Nachfolger. Noch vor ein paar Jahren waren die Medien voll davon und Iran wurde als die große Bedrohung des Weltfriedens gesehen. Was ist daraus geworden? BDS ist der neue Ahmadinedschad. Viele ängstliche Deutsche, mit enormer Hilfe und Unterstützung der israelischen politischen Klasse, brauchen eine Projektionsfläche für ihre Ängste vor sich selbst. Sie haben die Illusion, dass, wenn man die Boykott-Kampagne bekämpft, man dann gegen den "Nazi-Opa" Widerstand und gleichzeitig für brutale deutsche Verbrechen an den Juden Wiedergutmachung leistet. Das ist für viele natürlich sehr verführerisch. Sie versuchen 70 Jahre zu spät "die Juden" zu retten, in dem sie "Israel", wie sie es sich vorstellen, retten. Der stete Versuch einer nachträglichen Korrektur der Vergangenheit ist aber selbstverständlich zum Scheitern verdammt. Deshalb müssen sie immer wieder neue Feinde suchen. Die Angst vor der Fortsetzung des begangenen Verbrechens haben auch die Redakteure, die sich selbst zensieren. Wenn sie aber die freie Meinungsäußerung zulassen, wie z.B. bei der Beschneidungs-Diskussion, dann kann man leichter die Gegenreaktion spüren. Es werden Beiträge gedruckt, die auch antisemitische Töne beinhalten. Auf diesem Feld wird der Maulkorb abgenommen und es wird dann auch als Konsequenz gebissen.

MM: ... und wie ist das mit der Bank?

Hefets: Im Falle unserer Kontokündigung war die Begründung der Bank für Sozialwirtschaft politisch. Sie rettet Israel angeblich gegen solche Juden und Israelis wie uns, die anscheinend eine existentielle Bedrohung für Israel darstellen. Das ist das Perverse daran. Am Ende werden die Israelis und Juden, die anders denken, zur Bedrohung für die israelische "Demokratie". Wenn man in Deutschland mit Israel zu tun hat, dann haben die meisten Deutschen - natürlich aus verständlichen Gründen - immer noch doppelte Standards für Juden. Es gibt auf diesem Gebiet keine Normalität.

MM: Obwohl es hinreichend UN-Resolutionen gegen die Besatzungspolitik Israels gibt, scheint die Mehrheit der israelischen Bevölkerung immun dagegen zu sein. Wie ist das zu erklären?

Hefets: Die Stimmung in Israel ist eher paranoid, was man auch verstehen kann, wenn man die jüdische Geschichte kennt. Wir sprechen einerseits von einem souveränen Staat. Er verhält sich aber wie ein kleines Stedtl in Osteuropa vor 200 Jahren, als ob die Juden in Israel ohne Armee und Territorium dastünden. Im Laufe der Zeit lernten auch die Israelis, dass "anything goes". Israel kann alles machen, weil es die Unterstützung der USA und Europas hat, und verhält sich grenzenlos. Auch in Israel selbst hat das Gesetz keinen hohen Wert. Ich würde zuerst erwarten, dass die israelischen Staatsbürger von ihrem Ministerpräsidenten und anderen Ministern einfordern, ihre eigenen Gesetzt zu respektieren, bevor sie sich mit der UNO oder dem Völkerrecht beschäftigen. Die israelische Bevölkerung - und das macht Israel auch zu einem attraktiven Party-Ort - lebt wie auf der Titanic. Die Verleugnung der Gefahr und der düsteren Zukunftsperspektive ermöglicht den Zustand dieser Immunität gegen die massiven weltweite Proteste gegen die israelische Politik. In so einer Welt kann einem die UNO-Resolution wirklich egal sein. Daneben gibt es aber auch viel Angst und Depremiertheit in Israel. Das Medikament, das in letzter Zeit die größte Popularität gewinnt, ist Ritalin für Erwachsene - letztendlich ein "upper".

MM: Das heißt, ihr Boykottaufruf dient letztendlich nicht nur den unterdrückten Palästinensern, sondern auch zum Schutz der Juden?

Hefets: Selbstverständlich. Es gibt auch in Israel Boykott-Aktivisten, die sich trotz Verfolgung in der Gruppe "Boykott from within" organisieren und israelische Intellektuelle, die zum Boykott und Sanktionen durch die internationale Gemeinschaft aufrufen. Sie appellieren z.B. an Musik-Bands, die Auftritte in Israel planen, um sie - mit zunehmendem Erfolg - davon abzubringen "den Apartheidsstaat zu unterhalten". Da Israel das Völkerrecht missachtet und sich grenzenlos verhält, bietet der Boykott die Möglichkeit, Israel Grenzen zu setzen. Und Grenzen bedeuten auch Halt. Die große Gefahr für Israel ist heutzutage die israelische Gesellschaft selbst. Ohne den äußeren Feind - mal "die Araber", mal Iran, mal BDS - wären der innere Druck und Hass, vor allem zwischen aus Europa und aus arabischen bzw. muslimischen Ländern stammenden Juden zu stark und destruktiv. Der Boykott zeigt den Israelis, dass ihre Aktionen Reaktionen bei den anderen hervorrufen, dass es den anderen nicht egal ist, ob sie sich wie Machtsüchtige verhalten. Der israelische Psychoanalytiker Prof. Eran Rolnik vergleicht Israel mit einem Mädchen mit Essstörung, das ohne Hilfe von Außen sterben würde. Wenn man z.B. einem Drogensüchtigen die Grenzen zeigt, ihm Halt gibt, keine Drogen liefert und bereit ist, seine aggressive Reaktion auszuhalten, ist es eine Art Schutz, weil er sonst daran sterben würde. Und das gilt auch, wenn Israel am Sterben ist , selbst wenn es gerade wie eine große Party aussieht. Es ist kein Zufall, dass es in den letzten Jahren einen Anstieg von 450 % bei der Ausstellung ausländischer Pässe in Israel gab. Viele junge Leute wandern aus, u.a. nach Berlin. Was kann die Zukunft einer Geschichte von fast 70 Jahren Unterdrückung der Palästinenser und arabischer Juden sein? 

MM: Was kann der Einzelne tun, um ihrem Boykottaufruf zu folgen?

Hefets: Das geschieht bereits. Das ist, was der israelischen Regierung Sorgen bereitet, weshalb sie versuchen, mit totalitären Mitteln Angst zu verbreiten, wie z.B. mit der Kündigung unseres Kontos, die durch einen israelischen Agitator bewirkt wurde, der bei der Bank anrief und über unsere Unterstützung von BDS sprach. Der israelischen Minister für innere Sicherheit, Gilad Erdan, erklärte bereits im Juni 2016 der BDS-Initiative den Krieg. Weil Boykott unbewusst funktioniert: Wenn Menschen sehen und wissen, wie destruktiv und aggressiv Israel z.B. den Gazastreifen bombardiert, dann wirkt das Etikett "Israel" auf einer Avokado nicht so appetitlich. Seitdem Netanyahu und seine rechtsextreme Regierung an die Macht kamen, hat es sogar Deutschland schwer, Israel zu unterstützen. Der einzelne soll - wie immer und bei jeder Sache - moralisch einkaufen und konsumieren. Wenn ich weiß, dass meine Anziehsachen durch Kinderarbeit hergestellt werden, kaufe ich sie nicht. Genauso kaufe ich kein Basilikum aus Israel - und es ist hart, ich hatte ja dort Basilikum im Garten - weil ich weiß, dass er mit von den Palästinensern gestohlenem Wasser wächst, und dass meine Schwester in Gaza sich nicht immer duschen kann. Juden wie Muslime kennen es gut: Man darf nicht alles essen und trinken - es muss koscher sein.

MM: Mit ihrem taz-Artikel "Pilgerfahrt nach Auschwitz" haben Sie für viel Ärger unter pro-israelischen Juden gesorgt. Was spricht dagegen, sich an die geschichtlichen Gräueltaten mit einer Reise zu erinnern?

Hefets: Es spricht viel dafür, nur die Frage ist, wie? Und was ist das Ziel der Reise? Der Artikel hieß in der Druckversion "Nur auf Zehenspitzen gehen" - ein Titel, der meine Intention besser wiedergibt. Die Auschwitz-Reisen israelischer Jugendlicher werden vor der Armeezeit unternommen, um die Opferidentität der zukünftigen Soldaten zu festigen und sie zu dem "Opfer, dem alles zusteht" zu machen. Diese Jugendlichen werden in einer psychische Lage versetzt - und das kann man gut in dem Film "Defamation" des israelischen Regisseur, Yoav Shamir, sehen - die das möglich macht. Dazu kommt eine bestimme Gruppendynamik und ein massiver sozialer Druck. Der Holocaust wird zum gemeinsamen Nenner aller jüdischen Israelis, der wie ein Mythos gelebt wird: Er steht über Zeit und Ort und kann deshalb immer und überall passieren. Das rechtfertigt einen Überfall auf Gaza, weil Hamas oder der Mufti als Nazis stilisiert werden. Es handelt sich letztlich um eine Art Holocaust-Verleugnung. Wenn der Holocaust zum Mythos wird, dann tritt in den Hintergrund, dass er durch Deutsche und ihre Helfer und vor allem in Europa passierte. Das ist natürlich eine große Entlastung für die Täter und auch für die israelischen Juden, die sich weiter in der Opferrolle sehen. Dadurch werden diese Reisen nicht als ermahnende Erinnerungskultur betrieben, sondern als Motor für die Fortsetzung einer Destruktion. 

MM: Wenn sie irgendwo in Deutschland auftreten, um zum Boykott Israels aufzurufen, gibt es heftige Gegenwehr einiger weniger, was zuweilen auch im Gerichtssaal endet. Und manchen Ihrer Kollegen erging es ähnlich. Offensichtlich verfügen Ihre Gegner über hinreichende Mittel, auch Prozesse immer wieder zu verlieren, um zumindest Ihresgleichen einzuschüchtern und Ihre Zeit zu rauben. Lassen Sie sich einschüchtern?

Hefets: Es ist natürlich sehr unangenehm, dieser totalitären Angstmacherei ausgeliefert zu sein. Es ist aber auch eine große Herausforderung für mich. Ich bin Jüdin und das bedeutet, vor allem in einer christlichen Gesellschaft, Widerstand zu leisten. Ich komme aus einer jüdischen Familie, die 1492 Spanien verlassen hat, weil sie sich nicht konvertieren ließ. Das ist also ein wesentlicher Teil meiner Identität. Bevor ich vor Gericht gewann, bekam ich viel Unterstützung durch viele junge Israelis, die viel Erfahrung in Widerstandsbewegungen haben. Wir gewinnen vor Gericht mit der Hilfe vieler aufrichtiger Menschen aus der Zivilgesellschaft in Deutschland und haben viel Unterstützung auch im Ausland. The Jewish Voice of Peace in den USA und England z.B. sind viel größer und agieren freier, weil sie in Gesellschaften aktiv sind, deren Antisemitismus nicht so mörderisch war wie der deutsche Antisemitismus. Ich sehe mich also in einer Gruppe respektabler Menschenrechtler, Juden und Nichtjuden. Wenn man zum Boykott aufruft und sich von Vorbildern wie Nelson Mandela, Desmond Tutu, Judith Butler und Angela Davis inspirieren lässt, dann gibt man so leicht nicht auf. Das ist ein sehr wertvoller Schatz.

MM: Frau Hefets, wir danken für das Interview.

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