MM: Sehr geehrte Frau Hefets, die
Organisation „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“
unterstützt Boykottbewegungen gegen Waren aus den besetzten Gebieten in
Palästina, um ein Zeichen zu setzen gegen Besatzung und Apartheid.
Gegner werfen Ihnen vor, sie würden zum Boykott jüdischer Waren
aufrufen. Was antworten Sie darauf?
Hefets: Ich antworte, dass es so etwas
wie eine jüdische bzw. christliche oder muslimische Ware nicht gibt.
Menschen können eine solche Identität haben, Waren aber nicht. Sind "Ahava"
Kosmetikprodukte jüdisch? Wenn das Territorium eine so aufgeladene
Bedeutung hat, dann ist es besonders für das Judentum fatal. Juden
entwickelten die Bindung zu einem Ort bis zu einer besonderen Form der
Abstraktion (Gott wird auf Hebräisch auch "der Ort" genannt), vor allem
durch die Erfahrung und Tradition, die Kultur überall hin tragen zu
können, ohne an einen bestimmten konkreten Ort gebunden zu sein. Als
Ersatz etablierte sich Zion bzw. Jerusalem als abstrakter Ort der
Sehnsucht. Leider hat das nationalistische Judentum in Israel und in
vielen Orten der Diaspora die Oberhand gewonnen, so dass man heute sogar
bei israelischen Produkten (die ja keineswegs immer von jüdischen
Israelis produziert werden) von einer "jüdischen Ware" spricht. Es ist
ein Bild der jüdischen Tragödie, was aus dem Judentum geworden ist.
MM: Die „Jüdische Stimme für einen
gerechten Frieden“ setzt sich für eine Zweistaatenlösung ein. Wie soll
das möglich sein angesichts von ca. 20 % nichtjüdischen Einwohnern mit
israelischem Pass? Sollen diese Bürger ausgewiesen werden?
Hefets: Wir haben bei der Gründung der
Organisation diese Lösung befürwortet, sagen aber auch immer, dass es
den dort lebenden Menschen selbst zusteht zu bestimmen, wie sie leben
wollen. Ich persönlich glaube nicht, dass diese Lösung oder irgendeine
andere momentan realisierbar ist. Die israelischen Palästinenser, wie
man sie heute nennt, dürfen natürlich nicht ausgewiesen werden: Das wäre
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Fortsetzung der Nakba. Sie
sind die Eingeborenen und haben eine wichtige Stimme bei der Suche nach
einer Lösung. Leider hat aber Israel keine Motivation zu einer Lösung,
weshalb die BDS-Kampagne nötig ist.
MM: Was sind die Gründe dafür, dass
Juden sich nicht eine Einstaatenlösung vorstellen können wie z.B. die
Weißen in Südafrika?
Hefets: Israel ist darauf gebaut, dass
Juden in Israel privilegiert sind. Juden dürfen sofort nach Israel
auswandern und einen israelischen Pass bekommen, auch Nachkommen von
Juden, die selbst nicht Juden sind, dürfen es unter bestimmten
Bedingungen. Palästinenser, die im gleichen Territorium geboren sind,
dürfen sich nicht einmal frei bewegen und beim Auswandern riskieren sie
manchmal ihre Rückkehrmöglichkeit. Israel will so wenig Palästinenser
wie möglich auf so viel Boden wie möglich haben. Nach Jahren von
Unterdrückung haben die Israelis Angst vor dem Verlust ihrer
Machtposition und vor der Rache der von ihnen unterdrückten Menschen,
und das ist verständlich. Wenn man Unterdrückung, Demütigung und
Zerstörung sät, erntet man Destruktion, Attentate und gewaltsame
Angriffe. Wenn es nur einen Staat geben würde, würde es keine jüdische
Mehrheit mehr geben. Schon heute leben zwischen Jordanien und dem
Mittelmehr etwa 10 Million Menschen und mindestens 5 Millionen davon
sind Palästinenser. Zählt man die Araber im Lande, dann haben die aus
Europa stammenden Juden guten Grund, Angst zu haben. Etwa 40% der Juden
sind arabische Juden. Täten sie sich zusammen mit den Palästinensern, um
ihre arabische Kultur ausleben zu dürfen, wäre es wie in Südafrika. Auch
die Weißen dort gaben erst nach, nachdem die Schwarzen einen blutigen
Kampf in Kombination mit einem gewaltfreien Boykott aus dem Ausland
durchgeführt haben. Die Weißen waren so isoliert in der Welt, dass sie
die Motivation für eine Änderung - die wir in Israel herbeizuführen
wollen - entwickeln mussten.
MM: Im Dezember 2016 hat die Bank für
Sozialwirtschaft ihr Vereinskonto gekündigt. Unseres Wissens nach ist es
die erste Kontenkündigung für Juden in Deutschland seit dem Zweiten
Weltkrieg. Warum haben die Medien den Skandal nicht hinreichend
thematisiert?
Hefets: Die Medien, also die dort
arbeitenden Journalisten und Redakteure, haben Angst beim Thema Israel.
Wenn man z.B. das Wort Boykott gegen israelische Institutionen und
Produkte in Deutschland ausspricht, sehen die meisten Deutschen die
Rückkehr der Nazis und bekommen Angst. Israel wird oft als eine Art
Naturreservat gesehen, in der die übrig gebliebenen Juden geschützt
werden müssen. Das ist ja Deutschlands "Staatsräson". Und aus dieser
Angst heraus sehen viele Deutsche bei jedem Begriff, der mit der
Nazizeit assoziiert wird, den Anfang der Vervollständigung der
Vernichtung der Juden. Demzufolge sahen viele Deutsche und die Medien
hier den damaligen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad als Hitlers
Nachfolger. Noch vor ein paar Jahren waren die Medien voll davon und
Iran wurde als die große Bedrohung des Weltfriedens gesehen. Was ist
daraus geworden? BDS ist der neue Ahmadinedschad. Viele ängstliche
Deutsche, mit enormer Hilfe und Unterstützung der israelischen
politischen Klasse, brauchen eine Projektionsfläche für ihre Ängste vor
sich selbst. Sie haben die Illusion, dass, wenn man die Boykott-Kampagne
bekämpft, man dann gegen den "Nazi-Opa" Widerstand und gleichzeitig für
brutale deutsche Verbrechen an den Juden Wiedergutmachung leistet. Das
ist für viele natürlich sehr verführerisch. Sie versuchen 70 Jahre zu
spät "die Juden" zu retten, in dem sie "Israel", wie sie es sich
vorstellen, retten. Der stete Versuch einer nachträglichen Korrektur der
Vergangenheit ist aber selbstverständlich zum Scheitern verdammt.
Deshalb müssen sie immer wieder neue Feinde suchen. Die Angst vor der
Fortsetzung des begangenen Verbrechens haben auch die Redakteure, die
sich selbst zensieren. Wenn sie aber die freie Meinungsäußerung
zulassen, wie z.B. bei der Beschneidungs-Diskussion, dann kann man
leichter die Gegenreaktion spüren. Es werden Beiträge gedruckt, die auch
antisemitische Töne beinhalten. Auf diesem Feld wird der Maulkorb
abgenommen und es wird dann auch als Konsequenz gebissen.
MM: ... und wie ist das mit der Bank?
Hefets: Im Falle unserer Kontokündigung
war die Begründung der Bank für Sozialwirtschaft politisch. Sie rettet
Israel angeblich gegen solche Juden und Israelis wie uns, die
anscheinend eine existentielle Bedrohung für Israel darstellen. Das ist
das Perverse daran. Am Ende werden die Israelis und Juden, die anders
denken, zur Bedrohung für die israelische "Demokratie". Wenn man in
Deutschland mit Israel zu tun hat, dann haben die meisten Deutschen -
natürlich aus verständlichen Gründen - immer noch doppelte Standards für
Juden. Es gibt auf diesem Gebiet keine Normalität.
MM: Obwohl es hinreichend
UN-Resolutionen gegen die Besatzungspolitik Israels gibt, scheint die
Mehrheit der israelischen Bevölkerung immun dagegen zu sein. Wie ist das
zu erklären?
Hefets: Die Stimmung in Israel ist eher
paranoid, was man auch verstehen kann, wenn man die jüdische Geschichte
kennt. Wir sprechen einerseits von einem souveränen Staat. Er verhält
sich aber wie ein kleines Stedtl in Osteuropa vor 200 Jahren, als ob die
Juden in Israel ohne Armee und Territorium dastünden. Im Laufe der Zeit
lernten auch die Israelis, dass "anything goes". Israel kann alles
machen, weil es die Unterstützung der USA und Europas hat, und verhält
sich grenzenlos. Auch in Israel selbst hat das Gesetz keinen hohen Wert.
Ich würde zuerst erwarten, dass die israelischen Staatsbürger von ihrem
Ministerpräsidenten und anderen Ministern einfordern, ihre eigenen
Gesetzt zu respektieren, bevor sie sich mit der UNO oder dem Völkerrecht
beschäftigen. Die israelische Bevölkerung - und das macht Israel auch zu
einem attraktiven Party-Ort - lebt wie auf der Titanic. Die Verleugnung
der Gefahr und der düsteren Zukunftsperspektive ermöglicht den Zustand
dieser Immunität gegen die massiven weltweite Proteste gegen die
israelische Politik. In so einer Welt kann einem die UNO-Resolution
wirklich egal sein. Daneben gibt es aber auch viel Angst und
Depremiertheit in Israel. Das Medikament, das in letzter Zeit die größte
Popularität gewinnt, ist Ritalin für Erwachsene - letztendlich ein "upper".
MM: Das heißt, ihr Boykottaufruf dient
letztendlich nicht nur den unterdrückten Palästinensern, sondern auch
zum Schutz der Juden?
Hefets: Selbstverständlich. Es gibt auch
in Israel Boykott-Aktivisten, die sich trotz Verfolgung in der Gruppe
"Boykott from within" organisieren und israelische Intellektuelle, die
zum Boykott und Sanktionen durch die internationale Gemeinschaft
aufrufen. Sie appellieren z.B. an Musik-Bands, die Auftritte in Israel
planen, um sie - mit zunehmendem Erfolg - davon abzubringen "den
Apartheidsstaat zu unterhalten".
Da Israel das Völkerrecht missachtet und sich grenzenlos verhält, bietet
der Boykott die Möglichkeit, Israel Grenzen zu setzen. Und Grenzen
bedeuten auch Halt. Die große Gefahr für Israel ist heutzutage die
israelische Gesellschaft selbst. Ohne den äußeren Feind - mal "die
Araber", mal Iran, mal BDS - wären der innere Druck und Hass, vor allem
zwischen aus Europa und aus arabischen bzw. muslimischen Ländern
stammenden Juden zu stark und destruktiv. Der Boykott zeigt den
Israelis, dass ihre Aktionen Reaktionen bei den anderen hervorrufen,
dass es den anderen nicht egal ist, ob sie sich wie Machtsüchtige
verhalten. Der israelische Psychoanalytiker Prof. Eran Rolnik vergleicht
Israel mit einem Mädchen mit Essstörung, das ohne Hilfe von Außen
sterben würde. Wenn man z.B. einem Drogensüchtigen die Grenzen zeigt,
ihm Halt gibt, keine Drogen liefert und bereit ist, seine aggressive
Reaktion auszuhalten, ist es eine Art Schutz, weil er sonst daran
sterben würde. Und das gilt auch, wenn Israel am Sterben ist , selbst
wenn es gerade wie eine große Party aussieht. Es ist kein Zufall, dass
es in den letzten Jahren einen Anstieg von 450 % bei der Ausstellung
ausländischer Pässe in Israel gab. Viele junge Leute wandern aus, u.a.
nach Berlin. Was kann die Zukunft einer Geschichte von fast 70 Jahren
Unterdrückung der Palästinenser und arabischer Juden sein?
MM:
Was kann der Einzelne tun, um ihrem Boykottaufruf zu folgen?
Hefets: Das geschieht bereits. Das ist,
was der israelischen Regierung Sorgen bereitet, weshalb sie versuchen,
mit totalitären Mitteln Angst zu verbreiten, wie z.B. mit der Kündigung
unseres Kontos, die durch einen israelischen Agitator bewirkt wurde, der
bei der Bank anrief und über unsere Unterstützung von BDS sprach. Der
israelischen Minister für innere Sicherheit, Gilad Erdan, erklärte
bereits im Juni 2016 der BDS-Initiative den Krieg. Weil Boykott
unbewusst funktioniert: Wenn Menschen sehen und wissen, wie destruktiv
und aggressiv Israel z.B. den Gazastreifen bombardiert, dann wirkt das
Etikett "Israel" auf einer Avokado nicht so appetitlich. Seitdem
Netanyahu und seine rechtsextreme Regierung an die Macht kamen, hat es
sogar Deutschland schwer, Israel zu unterstützen. Der einzelne soll -
wie immer und bei jeder Sache - moralisch einkaufen und konsumieren.
Wenn ich weiß, dass meine Anziehsachen durch Kinderarbeit hergestellt
werden, kaufe ich sie nicht. Genauso kaufe ich kein Basilikum aus Israel
- und es ist hart, ich hatte ja dort Basilikum im Garten - weil ich
weiß, dass er mit von den Palästinensern gestohlenem Wasser wächst, und
dass meine Schwester in Gaza sich nicht immer duschen kann. Juden wie
Muslime kennen es gut: Man darf nicht alles essen und trinken - es muss
koscher sein.
MM: Mit ihrem taz-Artikel "Pilgerfahrt
nach Auschwitz" haben Sie für viel Ärger unter pro-israelischen Juden
gesorgt. Was spricht dagegen, sich an die geschichtlichen Gräueltaten
mit einer Reise zu erinnern?
Hefets: Es spricht viel dafür, nur die
Frage ist, wie? Und was ist das Ziel der Reise? Der Artikel hieß in der
Druckversion "Nur auf Zehenspitzen gehen" - ein Titel, der meine
Intention besser wiedergibt. Die Auschwitz-Reisen israelischer
Jugendlicher werden vor der Armeezeit unternommen, um die Opferidentität
der zukünftigen Soldaten zu festigen und sie zu dem "Opfer, dem alles
zusteht" zu machen. Diese Jugendlichen werden in einer psychische Lage
versetzt - und das kann man gut in dem Film "Defamation" des
israelischen Regisseur, Yoav Shamir, sehen - die das möglich macht. Dazu
kommt eine bestimme Gruppendynamik und ein massiver sozialer Druck. Der
Holocaust wird zum gemeinsamen Nenner aller jüdischen Israelis, der wie
ein Mythos gelebt wird: Er steht über Zeit und Ort und kann deshalb
immer und überall passieren. Das rechtfertigt einen Überfall auf Gaza,
weil Hamas oder der Mufti als Nazis stilisiert werden. Es handelt sich
letztlich um eine Art Holocaust-Verleugnung. Wenn der Holocaust zum
Mythos wird, dann tritt in den Hintergrund, dass er durch Deutsche und
ihre Helfer und vor allem in Europa passierte. Das ist natürlich eine
große Entlastung für die Täter und auch für die israelischen Juden, die
sich weiter in der Opferrolle sehen. Dadurch werden diese Reisen nicht
als ermahnende Erinnerungskultur betrieben, sondern als Motor für die
Fortsetzung einer Destruktion.
MM: Wenn sie irgendwo in Deutschland
auftreten, um zum Boykott Israels aufzurufen, gibt es heftige Gegenwehr
einiger weniger, was zuweilen auch im Gerichtssaal endet. Und manchen
Ihrer Kollegen erging es ähnlich. Offensichtlich verfügen Ihre Gegner
über hinreichende Mittel, auch Prozesse immer wieder zu verlieren, um
zumindest Ihresgleichen einzuschüchtern und Ihre Zeit zu rauben. Lassen
Sie sich einschüchtern?
Hefets: Es ist natürlich sehr
unangenehm, dieser totalitären Angstmacherei ausgeliefert zu sein. Es
ist aber auch eine große Herausforderung für mich. Ich bin Jüdin und das
bedeutet, vor allem in einer christlichen Gesellschaft, Widerstand zu
leisten. Ich komme aus einer jüdischen Familie, die 1492 Spanien
verlassen hat, weil sie sich nicht konvertieren ließ. Das ist also ein
wesentlicher Teil meiner Identität. Bevor ich vor Gericht gewann, bekam
ich viel Unterstützung durch viele junge Israelis, die viel Erfahrung in
Widerstandsbewegungen haben. Wir gewinnen vor Gericht mit der Hilfe
vieler aufrichtiger Menschen aus der Zivilgesellschaft in Deutschland
und haben viel Unterstützung auch im Ausland. The Jewish Voice of Peace
in den USA und England z.B. sind viel größer und agieren freier, weil
sie in Gesellschaften aktiv sind, deren Antisemitismus nicht so
mörderisch war wie der deutsche Antisemitismus. Ich sehe mich also in
einer Gruppe respektabler Menschenrechtler, Juden und Nichtjuden. Wenn
man zum Boykott aufruft und sich von Vorbildern wie Nelson Mandela,
Desmond Tutu, Judith Butler und Angela Davis inspirieren lässt, dann
gibt man so leicht nicht auf. Das ist ein sehr wertvoller Schatz.
MM: Frau Hefets, wir danken für das
Interview. |