Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Prof. Neelsen

 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dr. John P. Neelsen, Hochschullehrer für Soziologie
26.3.2016

Prof. Dr. John P. Neelsen (Jahrgang 1943) ist Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Politische Ökonomie, Weltsystemanalyse, Globalisierung, Internationale Regimes, Soziologie der Entwicklungsländer. In diesem Rahmen hat war er fünfeinhalb Jahre für einen Feld- und Forschungsaufenthalt in Südasien, Indien und Sri Lanka.

Er war Gastdozent an den Universitäten Freiburg, Karlsruhe, Bochum, Berlin und Bremen sowie an den Universitäten in Benares/Indien, Nancy/Frankreich und Zürich/Schweiz. Er ist Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin. Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC (Deutschland), Vertreter der International Research Foundation for Development (IRFD, Cambridge/USA) bei der UNO in Genf. In Heidelberg war er Gründungsmitglied des Sonderforschungsbereichs 16 "Südasien" und ist Mitbegründer des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur (FATK) in Tübingen. Er hat Beiträge geschrieben für die Zeitschrift "Hintergrund" und für die "Blätter für deutsche und internationale Politik".

Prof. Neelsen lebt im Großraum Tübingen.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Neelsen, wir befinden uns in einer sehr turbulenten Phase der Weltgeschichte, in der selbst in Deutschland die Auswirkungen dieser Turbulenzen immer mehr zu spüren sind. Dabei kommen bisher die meisten Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, nicht aus den Gebieten, in denen die Menschen heute noch verhungern. Wie kommt es in einer Welt des extremem Überflusses zu so viel Hunger?

Prof. Neelsen: Verschiedene Gründe sind dafür verantwortlich. Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, dass nicht ein absoluter Mangel an Lebensmitteln für die 800 Millionen Hungernden verantwortlich gemacht werden kann. In einer Marktwirtschaft gilt nicht der physische Bedarf, sondern allein die monetäre Nachfrage! Konkret: wer kein Geld hat, verhungert vor vollen Brotregalen! Oder anders: die meisten Hungernden leben auf dem Land, also dort, wo die Nahrungsmittel produziert werden, sind Kleinbauern und Landarbeiter. Mit anderen Worten, das Hungerproblem verweist auf ein prinzipielles Einkommens- und Beschäftigungsproblem. Die Grundorientierung der Produzenten einer Marktwirtschaft nach erwarteter Nachfrage bzw. Gewinn/Profit bestimmt auch, dass z.B. eher Futtermittel für den Export oder erneuerbare Energieträger (Biofuel) als Lebensmittel angebaut werden. Weitere Faktoren, die Bauern und Farmer im Würgegriff halten, kommen hinzu.

MM: Welche Faktoren?

Prof. Neelsen: Da sind zum einen intern und unmittelbar die unzureichenden Lagerungsmöglichkeiten und die Rolle der Mittelsmänner, wie Geldverleiher und Zwischenhändler in der Dritten Welt. Da sind zum anderen internationale Faktoren wie die (westlichen) Saatgutfirmen und die Spekulation, die globalen Getreidepreise werden an der Börse (vornehmlich Chicago) gehandelt, die für die Kleinbauern in der Dritten Welt ruinöse Subventionspolitik der Industrieländer oder auch der hoch konzentrierte Handel in den globalen Supermarktketten (Walmart, Lidl, Aldi, Carrefour, Rewe, etc.).

MM: Die meisten Bürger in der Westlichen Welt kennen nicht die Zusammenhänge zwischen dem westlich-kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem Hunger in der Welt. Hat die Wissenschaft hier versagt? Warum sprechen die Hochschullehrer nicht viel offener und vor allem lauter darüber?

Prof. Neelsen: Zunächst ist festzustellen, dass im Zeitalter des Internet jeder, der sich auch jenseits des Mainstream informieren will, dies tun kann. Darüber hinaus gibt es eine kritische wissenschaftliche Literatur zu den verschiedensten Aspekten der Produktion, des Handels und des Konsumentenverhaltens. Schließlich bearbeiten eine ganze Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen diese Problematik, wie ATTAC, Oxfam oder Brot für die Welt. Sie stützen ihre öffentlichkeitswirksame politische Arbeit auf hervorragende wissenschaftliche Untersuchungen. Aber richtig ist sicher auch, dass systemkritische Positionen im wissenschaftlichen Diskurs sowie in der Politik, in Think Tanks oder den meinungsbildenden Medien zunehmend weniger zur Kenntnis genommen wird.

MM: Warum ist das so?

Prof. Neelsen: Zu den Hintergründen für diesen Sachverhalt würde ich zählen: (a) Der Fall der Mauer, der Zusammenbruch des realen Sozialismus und damit das Ende der Systemkonkurrenz wurden nicht nur als Sieg im Kalten Krieg, sondern generell als Beweis für die Überlegenheit des Kapitalismus, ja dem Wesen des Menschen entsprechend, gefeiert und propagiert. Die folgende weltweite Verbreitung der Marktwirtschaft, der Aufstieg der Schwellenländer im Gefolge der neoliberalen Globalisierung zusammen mit den hunderten von Millionen, dem Individualismus, Konsumismus und westlichen Lebensstil nacheifernden neuen Mittelschichtsangehörigen der Dritten Welt haben dem Kapitalismus als Wirtschafts- und Wertsystem weitere Schubkraft verliehen. (b) Die Universität ist natürlich Teil der Gesellschaft, reflektiert die vorherrschenden Ideen und Ansätze. Wo sie vornehmlich auch von privater Seite - wie beispielsweise in den USA - finanziert wird, ist dieser Prozess typischer Weise besonders gut zu beobachten. Aber dies gilt auch für Länder mit staatlich finanzierten Bildungssystemen mit ihrer auch hierzulande zu beobachtenden zunehmenden Abhängigkeit von Drittmitteln. Hinzu kommt die Ausrichtung der Studiengänge an beruflicher Verwertbarkeit.

MM: Welche Auswirkungen hat das?

Prof. Neelsen: Dies hat Auswirkungen auf die Ausschreibung von Stellen, den wissenschaftlichen Werdegang, inklusive karriererelevante Publikationsorgane, Profil und gesellschaftspolitische Positionierung der rekrutierten Hochschullehrer. Zudem verbindet die immer größere Spezialisierung in jedem Fach größte Kompetenz im Einzelnen mit wachsendem Mangel an, ja Geringschätzung, einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Kapitalismuskritische Forschung gibt es natürlich weiterhin überall, aber sie führt eher ein Schattendasein.

MM: Obama hat wie alle US-Präsidenten zuvor den Anspruch der USA Hegemonialmacht zu sein bekräftigt, was ein äußerst undemokratischer Ansatz ist. Dieser Ansatz zeigt sich unter anderem im Veto-Recht weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, ohne dass es dafür jemals eine demokratische Legitimation gegeben hätte, im ständig wiederholten Völkerrechtsbruch durch die USA und ihrer Verbündeten (neuerdings auch durch Kriegseinsätze Deutschlands in Syrien) und durch die Unterstützung der übelsten Tyrannen und Diktatoren in verschienen Ländern. Wie ist es aus soziologischer Sicht möglich, dass trotz dieser Verwerfungen die Bürger in westlichen Staaten immer noch mehrheitlich glauben Vorreiter für Demokratie und Menschenrechte in der Welt zu sein?

Prof. Neelsen: Die UN wurden 1945 als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes von rund 50 Staaten unter Führung der siegreichen Alliierten des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel gegründet, zwischenstaatliche Kriege zu verhindern, deren Ursachen zu bekämpfen und eine neue Weltordnung auf Basis des Völkerrechts mit den Grundpfeilern der Gleichheit, Souveränität und territorialen Integrität der Mitgliedsstaaten zu errichten. Entscheidungen über Krieg und Frieden aber werden nicht in der Generalversammlung, sondern im heute 15 Mitglieder umfassenden Sicherheitsrat, darunter den 5 ständigen und mit einem Vetorecht ausgestatteten Mächten Russland, VR China, USA, Frankreich und Großbritannien getroffen. Diese Regelungen erwiesen sich schon bald als problematisch...

MM: ...Welche Probleme traten auf?

Prof. Neelsen: ...So reflektieren die Vereinten Nationen als inter- und nicht supra-nationale Organisation die realen Macht- und Konfliktkonstellationen und erwiesen sich mit der Entwicklung des 'kalten Krieges' schon bald als handlungsunfähig. Im Zuge der Entkolonialisierung und mit dem späteren Zerfall der ehemaligen sozialistischen Länder haben sich zudem die Mitgliederzahl (auf heute 193) und mit ihnen die Problemlagen, Interessen und geopolitischen Gewichte verschoben. Diesem Wandel institutionell Rechnung zu tragen ist trotz vieler Vorstöße zur Reform nicht zuletzt seitens der Generalversammlung, des Sekretariats oder auch einzelner Ländergruppen am Widerstand der privilegierten Vetomächte gescheitert. Richtig ist auch, dass in zunehmendem Masse gerade der Westen, allen voran die USA, in der Verfolgung ihrer nationalen außenpolitischen Ziele die UN wenn möglich instrumentalisieren, wenn nötig ignorieren oder durch ein Veto blockieren. Im schlimmsten Fall handeln sie im Vertrauen auf ihre überragende Militärmacht auch gegen jedes Völkerrecht.

MM: Welchen Einfluss hat der Kapitalismus in diesem Zusammenhang?

Prof. Neelsen: Marktwirtschaft, bürgerliche und politische Menschenrechte bis hin zur Demokratie gehören seit der französischen Revolution von 1789 zwar historisch, ideologisch und materiell zusammen. Faktisch aber verbirgt sich dahinter die systemische Herrschaft einer Minderheit, des Kapitals, über die Mehrheit und schließt weder massive Ungleichheit, eingeschränkte Partizipation noch Diktatur/Faschismus aus. Sie hat aber - bis dahin - für die Bevölkerung in den kapitalistischen Metropolen im Laufe der Zeit objektiv materielle und soziale Fortschritte gebracht. Auf dem Hintergrund der Implosion des realen, staatszentrierten Sozialismus gefolgt von der weltweiten Ausbreitung von Marktwirtschaft und Individualismus mit Werten von individueller Freiheit und Selbstbestimmung fühlten sich die Bürger im Westen nicht nur als Sieger im Systemwettwerb, sondern wurden im Glauben, Vorreiter und Garanten des menschlichen Fortschritts überhaupt zu sein, durch die weltweit neuen, am westlichen Lebensstil und Kultur orientierten Mittelschichten und kosmopolitischen Eliten bestärkt. Erziehungsinstitutionen, politische Parteien und Medien haben diese Grundüberzeugung verstärkt. Demgegenüber werden die zweite und dritte Generation der Menschenrechte, also soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte bzw. das Recht auf Entwicklung, Frieden und eine gesunde Umwelt, einfach ignoriert bzw. konventionswidrig nur als sekundäre Menschenrechte öffentlich dargestellt und behandelt.

MM: Woran liegt das?

Prof. Neelsen: „All politics is local“, das heißt, Außenpolitik spielt im öffentlichen Bewusstsein nur eine marginale Rolle. Abgesehen davon gibt es offenkundig einen 'national-kollektiven Reflex', der außenpolitisches Handeln der Regierung a priori für legitim, wenn nicht sogar 'gut' hält. So wird z.B. in Frankreich selbst eine militärische Intervention im Ausland - wie zuletzt in Libyen, Mali oder Syrien - weniger als diskussionswürdige Entscheidung des gerade amtierenden Präsidenten gesehen, sondern öffentlich sofort und unmittelbar zur Aktion „de la France“ transformiert und damit der Kritik entzogen.

MM: Mit den BRISC Staaten versuchen zumindest einige Mächte dieser Erde eine Art Gegengewicht zu dem Hegemon USA aufzubauen. Wir die Initiative eine Chance haben?

Prof. Neelsen: Aktuell sind in der Tat mit Ausnahme Indiens andere BRICS Schwergewichte, vor allem Brasilien, Russland und die Volksrepublik China in einer Situation krisenhaften Umbruchs. So hat die im Westen 2008 ausgebrochene multiple Wirtschaftskrise besonders stark die Rohstoffexporteure Brasilien und Russland betroffen, wobei innenpolitische Konflikte bzw. die westliche Sanktionspolitik (Stichwort Ukraine im Fall Russland) verschärfend hinzukommen. Und China fällt trotz eines Wachstums von über 6% als Motor der Weltwirtschaft weniger ins Gewicht, da Beijing sich zu einer grundlegenden Umsteuerung hin zum Binnenmarkt entschlossen hat. Gravierend wie die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme im Einzelnen sein und sich negativ auf den Prozess der steigenden Kooperation untereinander und mit anderen Ländern des Südens auswirken mögen, die fundamentalen Ursachen zur Formierung der BRICS, nämlich die Verschiebung der geo-politischen und weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse im Verein mit dem Ende westlicher Vorherrschaft, bleiben davon unberührt. In diesem Zusammenhang sei zunächst darauf verwiesen, dass der Aufstieg eben dieser 'Schwellenländer' von der größten Investitionsbank Goldman Sachs seit 2001 prognostiziert, sich seitdem sogar beschleunigt hat. So sollten die BRICS, die 42% der Weltbevölkerung und nach Kaufkraftparitaten 31% des Weltsozialprodukts und rd. 20% des Welthandels repräsentieren, bereits 2024 und nicht erst 2038 mit den reichen Industrieländern (G7) gleichziehen. Erscheint dieser Auf- und Überholprozess unvermeidlich, so fragt sich allerdings, wie der Westen auf seinen zumindest relativen Niedergang reagieren wird. Historisch endeten solche tektonischen Verschiebungen geopolitischer Kräfteverhältnisse typischer Weise im Krieg. Und die zunehmend militaristische Außenpolitik des Westens deutet in eine ähnliche Richtung...

MM: Eine der Achillesversen des westlichen Imperiums ist die über ein halbes Jahrhundert währende Besatzung in Palästina und die ungehinderte Fortsetzung bei Unterstützung durch fast alle westliche Staaten. Auch bei diesem Thema scheint es ein kollektives Verstummen in der Wissenschaft zu geben. Wie ist das zu erklären?

Prof. Neelsen: Zunächst ist, wie bei der Frage von Hunger und Unterentwicklung, darauf zu verweisen, dass von einem kollektiven Verstummen der Wissenschaft nicht die Rede sein kann. Le Monde diplomatique, die besonders in akademischen Kreisen Großbritanniens aktive BDS Kampagne mit ihren Aufrufen zum Boykott, Disinvestment und Sanktionen oder auch die Studien zum Einfluss der pro-Israel Lobby auf die US-amerikanische bzw. westliche Außenpolitik, zur Enteignung, Kolonialisierung und Vertreibung der Palästinenser, zur internen Apartheid, zum «open air Gefängnis» Gaza, etc. sind hier vor allem hervorzuheben. Richtig ist aber auch, dass gerade in der BRD das Thema Israel in höchstem Masse einseitig politisiert und ideologisiert ist. Nicht nur, dass die Regierung Merkel Israels Interessen - völlig losgelöst von deren Völkerrechstwidrigkeit - zur deutschen Staatsräson erklärt hat, auch die «linken» Antideutschen stehen vorbehaltlos hinter Israel und attackieren jede Kritik an der Politik dieses Staates unverzüglich als «antisemitisch»; ein Vorwurf, der im Übrigen neuerdings auch der Politik der DDR gemacht wird. Auf dem Hintergrund der rassistisch motivierten exterministischen Politik des Dritten Reiches gegen Juden, aber auch Roma und Slawen, wird damit eine kritische sachliche Behandlung schon im Keim erstickt.

MM: Herr Prof. Neelsen, wir danken für das Interview.

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