MM: Sehr
geehrter Herr Prof. Neelsen, wir befinden uns in einer sehr turbulenten
Phase der Weltgeschichte, in der selbst in Deutschland die Auswirkungen
dieser Turbulenzen immer mehr zu spüren sind. Dabei kommen bisher die
meisten Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, nicht aus den Gebieten, in denen
die Menschen heute noch verhungern. Wie kommt es in einer Welt des
extremem Überflusses zu so viel Hunger?
Prof. Neelsen: Verschiedene Gründe sind
dafür verantwortlich. Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, dass
nicht ein absoluter Mangel an Lebensmitteln für die 800 Millionen
Hungernden verantwortlich gemacht werden kann. In einer Marktwirtschaft
gilt nicht der physische Bedarf, sondern allein die monetäre Nachfrage!
Konkret: wer kein Geld hat, verhungert vor vollen Brotregalen! Oder
anders: die meisten Hungernden leben auf dem Land, also dort, wo die
Nahrungsmittel produziert werden, sind Kleinbauern und Landarbeiter. Mit
anderen Worten, das Hungerproblem verweist auf ein prinzipielles
Einkommens- und Beschäftigungsproblem. Die Grundorientierung der
Produzenten einer Marktwirtschaft nach erwarteter Nachfrage bzw.
Gewinn/Profit bestimmt auch, dass z.B. eher Futtermittel für den Export
oder erneuerbare Energieträger (Biofuel) als Lebensmittel angebaut
werden. Weitere Faktoren, die Bauern und Farmer im Würgegriff halten,
kommen hinzu.
MM: Welche Faktoren?
Prof. Neelsen: Da sind zum einen intern
und unmittelbar die unzureichenden Lagerungsmöglichkeiten und die Rolle
der Mittelsmänner, wie Geldverleiher und Zwischenhändler in der Dritten
Welt. Da sind zum anderen internationale Faktoren wie die (westlichen)
Saatgutfirmen und die Spekulation, die globalen Getreidepreise werden an
der Börse (vornehmlich Chicago) gehandelt, die für die Kleinbauern in
der Dritten Welt ruinöse Subventionspolitik der Industrieländer oder
auch der hoch konzentrierte Handel in den globalen Supermarktketten
(Walmart, Lidl, Aldi, Carrefour, Rewe, etc.).
MM: Die meisten Bürger in der Westlichen
Welt kennen nicht die Zusammenhänge zwischen dem
westlich-kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem Hunger in der Welt.
Hat die Wissenschaft hier versagt? Warum sprechen die Hochschullehrer
nicht viel offener und vor allem lauter darüber?
Prof. Neelsen: Zunächst ist
festzustellen, dass im Zeitalter des Internet jeder, der sich auch
jenseits des Mainstream informieren will, dies tun kann. Darüber hinaus
gibt es eine kritische wissenschaftliche Literatur zu den
verschiedensten Aspekten der Produktion, des Handels und des
Konsumentenverhaltens. Schließlich bearbeiten eine ganze Reihe
zivilgesellschaftlicher Organisationen diese Problematik, wie ATTAC,
Oxfam oder Brot für die Welt. Sie stützen ihre öffentlichkeitswirksame
politische Arbeit auf hervorragende wissenschaftliche Untersuchungen.
Aber richtig ist sicher auch, dass systemkritische Positionen im
wissenschaftlichen Diskurs sowie in der Politik, in Think Tanks oder den
meinungsbildenden Medien zunehmend weniger zur Kenntnis genommen wird.
MM: Warum ist das so?
Prof. Neelsen: Zu den Hintergründen für
diesen Sachverhalt würde ich zählen: (a) Der Fall der Mauer, der
Zusammenbruch des realen Sozialismus und damit das Ende der
Systemkonkurrenz wurden nicht nur als Sieg im Kalten Krieg, sondern
generell als Beweis für die Überlegenheit des Kapitalismus, ja dem Wesen
des Menschen entsprechend, gefeiert und propagiert. Die folgende
weltweite Verbreitung der Marktwirtschaft, der Aufstieg der
Schwellenländer im Gefolge der neoliberalen Globalisierung zusammen mit
den hunderten von Millionen, dem Individualismus, Konsumismus und
westlichen Lebensstil nacheifernden neuen Mittelschichtsangehörigen der
Dritten Welt haben dem Kapitalismus als Wirtschafts- und Wertsystem
weitere Schubkraft verliehen. (b) Die Universität ist natürlich Teil der
Gesellschaft, reflektiert die vorherrschenden Ideen und Ansätze. Wo sie
vornehmlich auch von privater Seite - wie beispielsweise in den USA -
finanziert wird, ist dieser Prozess typischer Weise besonders gut zu
beobachten. Aber dies gilt auch für Länder mit staatlich finanzierten
Bildungssystemen mit ihrer auch hierzulande zu beobachtenden zunehmenden
Abhängigkeit von Drittmitteln. Hinzu kommt die Ausrichtung der
Studiengänge an beruflicher Verwertbarkeit.
MM: Welche Auswirkungen hat das?
Prof. Neelsen: Dies hat Auswirkungen auf
die Ausschreibung von Stellen, den wissenschaftlichen Werdegang,
inklusive karriererelevante Publikationsorgane, Profil und
gesellschaftspolitische Positionierung der rekrutierten Hochschullehrer.
Zudem verbindet die immer größere Spezialisierung in jedem Fach größte
Kompetenz im Einzelnen mit wachsendem Mangel an, ja Geringschätzung,
einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Kapitalismuskritische
Forschung gibt es natürlich weiterhin überall, aber sie führt eher ein
Schattendasein.
MM: Obama hat wie alle US-Präsidenten
zuvor den Anspruch der USA Hegemonialmacht zu sein bekräftigt, was ein
äußerst undemokratischer Ansatz ist. Dieser Ansatz zeigt sich unter
anderem im Veto-Recht weniger Staaten im UN-Sicherheitsrat, ohne dass es
dafür jemals eine demokratische Legitimation gegeben hätte, im ständig
wiederholten Völkerrechtsbruch durch die USA und ihrer Verbündeten
(neuerdings auch durch Kriegseinsätze Deutschlands in Syrien) und durch
die Unterstützung der übelsten Tyrannen und Diktatoren in verschienen
Ländern. Wie ist es aus soziologischer Sicht möglich, dass trotz dieser
Verwerfungen die Bürger in westlichen Staaten immer noch mehrheitlich
glauben Vorreiter für Demokratie und Menschenrechte in der Welt zu sein?
Prof. Neelsen: Die UN wurden 1945 als
Nachfolgeorganisation des Völkerbundes von rund 50 Staaten unter Führung
der siegreichen Alliierten des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel
gegründet, zwischenstaatliche Kriege zu verhindern, deren Ursachen zu
bekämpfen und eine neue Weltordnung auf Basis des Völkerrechts mit den
Grundpfeilern der Gleichheit, Souveränität und territorialen Integrität
der Mitgliedsstaaten zu errichten. Entscheidungen über Krieg und Frieden
aber werden nicht in der Generalversammlung, sondern im heute 15
Mitglieder umfassenden Sicherheitsrat, darunter den 5 ständigen und mit
einem Vetorecht ausgestatteten Mächten Russland, VR China, USA,
Frankreich und Großbritannien getroffen. Diese Regelungen erwiesen sich
schon bald als problematisch...
MM: ...Welche Probleme traten auf?
Prof. Neelsen: ...So reflektieren die
Vereinten Nationen als inter- und nicht supra-nationale Organisation die
realen Macht- und Konfliktkonstellationen und erwiesen sich mit der
Entwicklung des 'kalten Krieges' schon bald als handlungsunfähig. Im
Zuge der Entkolonialisierung und mit dem späteren Zerfall der ehemaligen
sozialistischen Länder haben sich zudem die Mitgliederzahl (auf heute
193) und mit ihnen die Problemlagen, Interessen und geopolitischen
Gewichte verschoben. Diesem Wandel institutionell Rechnung zu tragen ist
trotz vieler Vorstöße zur Reform nicht zuletzt seitens der
Generalversammlung, des Sekretariats oder auch einzelner Ländergruppen
am Widerstand der privilegierten Vetomächte gescheitert. Richtig ist
auch, dass in zunehmendem Masse gerade der Westen, allen voran die USA,
in der Verfolgung ihrer nationalen außenpolitischen Ziele die UN wenn
möglich instrumentalisieren, wenn nötig ignorieren oder durch ein Veto
blockieren. Im schlimmsten Fall handeln sie im Vertrauen auf ihre
überragende Militärmacht auch gegen jedes Völkerrecht.
MM: Welchen Einfluss hat der
Kapitalismus in diesem Zusammenhang?
Prof. Neelsen: Marktwirtschaft,
bürgerliche und politische Menschenrechte bis hin zur Demokratie gehören
seit der französischen Revolution von 1789 zwar historisch, ideologisch
und materiell zusammen. Faktisch aber verbirgt sich dahinter die
systemische Herrschaft einer Minderheit, des Kapitals, über die Mehrheit
und schließt weder massive Ungleichheit, eingeschränkte Partizipation
noch Diktatur/Faschismus aus. Sie hat aber - bis dahin - für die
Bevölkerung in den kapitalistischen Metropolen im Laufe der Zeit
objektiv materielle und soziale Fortschritte gebracht. Auf dem
Hintergrund der Implosion des realen, staatszentrierten Sozialismus
gefolgt von der weltweiten Ausbreitung von Marktwirtschaft und
Individualismus mit Werten von individueller Freiheit und
Selbstbestimmung fühlten sich die Bürger im Westen nicht nur als Sieger
im Systemwettwerb, sondern wurden im Glauben, Vorreiter und Garanten des
menschlichen Fortschritts überhaupt zu sein, durch die weltweit neuen,
am westlichen Lebensstil und Kultur orientierten Mittelschichten und
kosmopolitischen Eliten bestärkt. Erziehungsinstitutionen, politische
Parteien und Medien haben diese Grundüberzeugung verstärkt. Demgegenüber
werden die zweite und dritte Generation der Menschenrechte, also
soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte bzw. das Recht auf
Entwicklung, Frieden und eine gesunde Umwelt, einfach ignoriert bzw.
konventionswidrig nur als sekundäre Menschenrechte öffentlich
dargestellt und behandelt.
MM: Woran liegt das?
Prof. Neelsen: „All politics is local“,
das heißt, Außenpolitik spielt im öffentlichen Bewusstsein nur eine
marginale Rolle. Abgesehen davon gibt es offenkundig einen
'national-kollektiven Reflex', der außenpolitisches Handeln der
Regierung a priori für legitim, wenn nicht sogar 'gut' hält. So wird
z.B. in Frankreich selbst eine militärische Intervention im Ausland -
wie zuletzt in Libyen, Mali oder Syrien - weniger als diskussionswürdige
Entscheidung des gerade amtierenden Präsidenten gesehen, sondern
öffentlich sofort und unmittelbar zur Aktion „de la France“
transformiert und damit der Kritik entzogen.
MM: Mit den BRISC Staaten versuchen
zumindest einige Mächte dieser Erde eine Art Gegengewicht zu dem Hegemon
USA aufzubauen. Wir die Initiative eine Chance haben?
Prof. Neelsen: Aktuell sind in der Tat
mit Ausnahme Indiens andere BRICS Schwergewichte, vor allem Brasilien,
Russland und die Volksrepublik China in einer Situation krisenhaften
Umbruchs. So hat die im Westen 2008 ausgebrochene multiple
Wirtschaftskrise besonders stark die Rohstoffexporteure Brasilien und
Russland betroffen, wobei innenpolitische Konflikte bzw. die westliche
Sanktionspolitik (Stichwort Ukraine im Fall Russland) verschärfend
hinzukommen. Und China fällt trotz eines Wachstums von über 6% als Motor
der Weltwirtschaft weniger ins Gewicht, da Beijing sich zu einer
grundlegenden Umsteuerung hin zum Binnenmarkt entschlossen hat.
Gravierend wie die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme im Einzelnen
sein und sich negativ auf den Prozess der steigenden Kooperation
untereinander und mit anderen Ländern des Südens auswirken mögen, die
fundamentalen Ursachen zur Formierung der BRICS, nämlich die
Verschiebung der geo-politischen und weltwirtschaftlichen
Kräfteverhältnisse im Verein mit dem Ende westlicher Vorherrschaft,
bleiben davon unberührt. In diesem Zusammenhang sei zunächst darauf
verwiesen, dass der Aufstieg eben dieser 'Schwellenländer' von der
größten Investitionsbank Goldman Sachs seit 2001 prognostiziert, sich
seitdem sogar beschleunigt hat. So sollten die BRICS, die 42% der
Weltbevölkerung und nach Kaufkraftparitaten 31% des Weltsozialprodukts
und rd. 20% des Welthandels repräsentieren, bereits 2024 und nicht erst
2038 mit den reichen Industrieländern (G7) gleichziehen. Erscheint
dieser Auf- und Überholprozess unvermeidlich, so fragt sich allerdings,
wie der Westen auf seinen zumindest relativen Niedergang reagieren wird.
Historisch endeten solche tektonischen Verschiebungen geopolitischer
Kräfteverhältnisse typischer Weise im Krieg. Und die zunehmend
militaristische Außenpolitik des Westens deutet in eine ähnliche
Richtung...
MM: Eine der Achillesversen des
westlichen Imperiums ist die über ein halbes Jahrhundert währende
Besatzung in Palästina und die ungehinderte Fortsetzung bei
Unterstützung durch fast alle westliche Staaten. Auch bei diesem Thema
scheint es ein kollektives Verstummen in der Wissenschaft zu geben. Wie
ist das zu erklären?
Prof. Neelsen: Zunächst ist, wie bei der
Frage von Hunger und Unterentwicklung, darauf zu verweisen, dass von
einem kollektiven Verstummen der Wissenschaft nicht die Rede sein kann.
Le Monde diplomatique, die besonders in akademischen Kreisen
Großbritanniens aktive BDS Kampagne mit ihren Aufrufen zum Boykott,
Disinvestment und Sanktionen oder auch die Studien zum Einfluss der
pro-Israel Lobby auf die US-amerikanische bzw. westliche Außenpolitik,
zur Enteignung, Kolonialisierung und Vertreibung der Palästinenser, zur
internen Apartheid, zum «open air Gefängnis» Gaza, etc. sind hier vor
allem hervorzuheben. Richtig ist aber auch, dass gerade in der BRD das
Thema Israel in höchstem Masse einseitig politisiert und ideologisiert
ist. Nicht nur, dass die Regierung Merkel Israels Interessen - völlig
losgelöst von deren Völkerrechstwidrigkeit - zur deutschen Staatsräson
erklärt hat, auch die «linken» Antideutschen stehen vorbehaltlos hinter
Israel und attackieren jede Kritik an der Politik dieses Staates
unverzüglich als «antisemitisch»; ein Vorwurf, der im Übrigen neuerdings
auch der Politik der DDR gemacht wird. Auf dem Hintergrund der
rassistisch motivierten exterministischen Politik des Dritten Reiches
gegen Juden, aber auch Roma und Slawen, wird damit eine kritische
sachliche Behandlung schon im Keim erstickt.
MM: Herr Prof. Neelsen, wir danken für
das Interview. |