MM: Sehr geehrte Frau Dr. Daibes, während
Ihre Kollegen in über 130 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen,
darunter auch Mitglieder der EU, als Botschafter eine Botschaft leiten,
dürfen Sie in Deutschland lediglich eine "Mission" leiten. Haben Sie
Verständnis für die deutsche Politik?
Dr. Daibes: Deutschland und Palästina
verfügen über sehr gute, in den vielen Jahren gewachsene Beziehungen.
Als Botschafterin erfahre ich die gleiche Behandlung wie alle anderen
akkreditierten Missionsleiter und –leiterinnen in Deutschland. Dies
bedeutet, als Botschafterin Gespräche auf der gleichen Augenhöhe zu
führen, wie auch meine Kollegen. Der Titel „Palästinensische Mission“
hat mit der Tatsache zu tun, dass die Bundesrepublik den Staat Palästina
noch nicht anerkannt hat, aber es hoffentlich bald tun wird.
MM: Bereits mehrfach haben Sie sich mit
einem offenen Brief an bestimmte Teile der deutschen Bevölkerung
gewandt, z.B. beim Gaza-Krieg, ohne dass die Medien das hinreichend
gewürdigt haben. Zuletzt haben Sie sich mit einem
offenen Brief an die
Medienvertreter gewand. Was war der Anlass?
Dr. Daibes: Die Medien spielen in
Deutschland bei der öffentlichen Meinungsbildung eine sehr wichtige
Rolle. Ende des vergangenen Jahres wurden eine ganze Reihe von
Presseartikeln veröffentlicht, die sachlich falsche oder irreführende
Aspekte enthielten. Es war mir sehr wichtig, darauf zu reagieren und die
Medienvertreter zu mehr Sensibilität im Rahmen der Berichterstattung zu
ersuchen. In dem betreffenden Brief habe ich bereits gesagt, dass wir
glauben, dass objektive Fakten für sich sprechen. Wir wünschen nichts
mehr als das, aber wir erwarten auch nicht weniger.
MM: Glauben Sie ernsthaft, dass die
Medienvertreter das nicht wissen und nur versehentlich den zionistischen
Sprachgebrauch übernommen haben?
Dr. Daibes: Man darf hier keine
Verallgemeinerung vornehmen. Es ist wichtig, die Medien auf die aktuelle
Situation aufmerksam zu machen. Ob die Verzerrung nun versehentlich oder
absichtlich erfolgte, die Berichterstattung sollte sachlich und nicht
einseitig sein. Es sind auch eine Reihe von sehr guten Artikeln
erschienen, die auf klare und faire Art die Realität darstellen.
MM: Ihre Geburtsstadt Bethlehem liegt in
den besetzten Gebieten und ist von einer Mauer nahezu umzingelt. Dennoch
entsteht hier in Deutschland der Eindruck, als wenn das christliche
Deutschland eher auf der Seite der Besatzer steht als an der Seite der
besetzten Glaubensgeschwister. Wie wird das Verhalten Deutschlands in
Palästina wahrgenommen?
Dr. Daibes: In der Bundesrepublik gibt
es viele verschiedene Ansichten und Positionen. Die Bundesregierung
leistet seit Jahrzehnten auf verschiedenen Ebenen Finanz- und
Entwicklungsunterstützung. Zudem gibt es eine Vielzahl von NGOs und
Privatpersonen aus der Zivilgesellschaft, mit denen wir eng
zusammenarbeiten und deren Arbeit sehr unterstützend wirkt. All diese
Arten von Engagement schätzen wir sehr. Jedoch wünschen wir uns eine
engagiertere Rolle der Bundesregierung im politischen Prozess. Das ist
etwas, was ich regelmäßig mit meinen Kollegen in der Regierung anstrebe.
MM: In Deutschland wird einerseits von
einer so genannten Zwei-Staatenlösung gesprochen und andererseits so gut
wie nichts unternommen, wenn immer weitere Teile der besetzten Gebiete
faktisch annektiert werden, wie durch den unaufhörlichen Siedlungsbau
und jüngst sogar der Beschlagnahme von Ackerland. Was würden Sie sich
von der deutschen Politik in solch einer Situation wünschen?
Dr. Daibes: Die Bundesregierung hat
mehrfach den Siedlungsbau und Landannektierungen verurteilt. Sie
vertritt die konstante Position, dass diese Aktivitäten gegen das
internationale Völkerrecht verstoßen. Mit diesem Hintergrund erwarten
wir, dass die Bundesregierung ihre Auffassung in die Tat umsetzt. Das
bedeutet sicherzustellen, dass weder öffentliche noch private
Einrichtungen weder direkt noch indirekt die Ausweitung der israelischen
Souveränität über die so genannte Grüne Linie hinaus unterstützen.
Bedenken Sie, dass die Siedlungen Teil eines umfassenden
Unternehmensverbundes sind und mit ihnen unzählige
Menschenrechtsverletzungen einher gehen.
MM: Israel wendet immer wieder eine Form
von Kollektivstrafe an, indem sie die Häuser der Eltern von mutmaßlichen
Terroristen zerstört, was eindeutig gegen jegliches Völkerrecht und
gegen das internationale Recht verstößt. Dennoch wird Israel nie für
solche Vergehen bestraft. Worin gründet sich die Hoffnung
palästinensischer Politiker, wenn Israel nie zur Rechenschaft gezogen
wird?
Dr. Daibes: Unsere Hoffnung gründet sich
darauf, dass ab einem gewissen Punkt der politische Wille erwächst,
Israel für seine internationalen Rechtsverletzungen zur Rechenschaft zu
ziehen. Das Völkerrecht regelt die Beziehungen auf Grundlage der
Gleichrangigkeit. Es ist ein unparteiischer, universeller Standard,
nachdem alle Staaten zur Rechenschaft gezogen werden können. Welche
anderen Möglichkeiten gibt es? Zwischen Palästina und Israel besteht ein
enormes Machtungleichgewicht, was bedeutet, dass eine gerechte und faire
Lösung nicht ohne Unterstützung von außen erreicht werden kann.
MM: Es ist ein Gebot der Logik aber auch
des Völkerrechts, dass sich besetzte wehren dürfen und Besatzer nicht
besetzen dürfen. In Palästina wird dieses Gebot auf den Kopf gestellt.
Palästinenser dürfen sich niemals wehren und der Besatzer darf ungestört
seine Besatzung ausweiten. Welche Möglichkeiten haben unter solchen
Umständen friedliebende Menschen, die offensichtlich zunehmende
Verzweiflung im Volk, die sich in Verzweiflungstaten ausdrückt, in
Hoffnung umzuwandeln?
Dr. Daibes: Das Palästinensische Volk
lebt in einer absurden Situation. Es wird als besetztes Volk immer
wieder dazu aufgefordert, für die Sicherheit seiner Besatzer zu sorgen.
Der einzige Weg, den Menschen Hoffnung zu geben, ist die Besatzung zu
beenden. Ihnen müssen die gleichen Rechte zugestand werden, auf die alle
Menschen Anspruch haben. Die israelische Regierung muss erkennen, dass
dieser Konflikt nicht militärisch gelöst werden kann. Jeder Mensch hat
das Recht auf Sicherheit und ein Leben ohne Angst. Sobald wir das
erreicht haben, werden wir auch Frieden haben.
MM: Der Apartheidstaat Südafrika war erst
dann zu Kompromissen und Abkehr von der Apartheid zu bewegen, nachdem
fast die ganze Welt den Staat boykottiert hat außer Israel. Welche
Chance sehen Sie, dass Israel abkehrt von seiner Besatzungspolitik und
Apartheid, wenn es doch kaum einen ernsthaften Schaden befürchten muss?
Dr. Daibes: Die israelische Regierung
muss erfahren, dass die Besatzung Palästinas ein Kostenträger ist.
Momentan ist die Besatzung für sie rentabel. Warum sollte sie also
bereitwillig diese aufgeben? Ja, Druck ist in hier erforderlich und es
gibt verschiedene Meinungen dazu, welcher Art er sein soll. Die
Strategie der PLO basiert auf dem friedlichen Widerstand gegen die
Besatzung. In diesem Rahmen rufen wir alle Staaten dazu auf, ihren
Verpflichtungen nach dem Völkerrecht nachzukommen und sicherzustellen,
dass sie weder direkt noch indirekt in jeglicher Art die Besatzung
Palästinas unterstützen und damit auch verfestigen.
MM: Auch dem Volk in Deutschland wird
eingeredet, dass der Boykott zionistischer Waren Antisemitismus sei, um
es davon abzuhalten. Wie können Sie erklären, dass Antisemitismus und
Antizionismus zwei sehr unterschiedliche Dinge sind?
Dr. Daibes: Zwischen Judentum und
Zionismus gibt es einen Unterschied. Jede Art von Handlung, die das
Verhalten der israelischen Regierung zu beeinflussen versucht, richtet
sich gegen die Missachtung des Völkerrechts und hat mit Antisemitismus
nichts zu tun. Daher gibt es auch eine zunehmende Anzahl von jüdischen
Einzelpersonen und Organisationen auf der ganzen Welt, die ihre Einwände
gegen Israels Verhalten öffentlich zum Ausdruck bringen.
MM: Christliche Palästinenser glauben an
Jesus und die Heilige Maria und ihre Wundergeburt. Sind Sie als Frau
aus Bethlehem manchmal überrascht, wie wenig viele Christen hier in
Deutschland über Jesus, Maria, Pfingsten und Bethlehem wissen und hat
die oft beobachtete Gleichgültigkeit bezüglich des Schicksals von
Bethlehem und Jerusalem evtl. damit zu tun?
Dr. Daibes: Das kann ich nach meinen
Erfahrungen nicht vorbehaltlos bestätigen. Es gibt eine Reihe von engen
Bindungen zwischen der Kirche und christlichen Organisationen in der
Bundesrepublik und Palästina.
MM: Abschließende Frage: Können Sie sich
nach all dem, was nunmehr über sieben Jahrzehnte geschehen ist, ein
friedvolles Zusammenleben vom Juden, Christen und Muslimen im Heiligen
Land vorstellen?
Dr. Daibes: Natürlich. Menschen
verschiedener Glaubensrichtungen lebten seit Jahrhunderten friedlich
neben- und miteinander. Eines Tages wird dies wieder der Fall sein.
MM: Frau Dr. Daibes, wir danken für das
Interview und wünschen den Menschen in Palästina Frieden. |