MM: Sehr geehrter Herr Bürger, Sie setzen
sich intensiv für die „Die Einheit der menschlichen Familie“ ein. Was
verstehen Sie darunter?
Bürger: Das Bekenntnis zur einen
Menschheit auf der Erde ist grundlegend für die „abrahamische Ökumene“
von Juden, Christen und Muslimen. Zugleich kann es im 3. Jahrtausend
eine geschwisterliche Zusammenarbeit nur zwischen jenen globalen
Bewegungen und Religionsgemeinschaften geben, die die ungeteilte
„Einheit der menschlichen Familie“ ohne Abstriche zum Ausgangspunkt und
Ziel nehmen. Es handelt sich nicht um eine schöne Predigtparole oder ein
abstraktes Prinzip. Der Ernstfall der einen Menschheit erweist sich in
der unbedingten und wirklich ausnahmslosen Achtung der Würde jedes
Menschen. Imperialisten oder Terroristen sind aus christlicher Sicht
keineswegs ausgeschlossen, auch wenn sie gemordet haben.
In der koranischen Überlieferung kommt die
Einheit der Menschheit schön und präzise z.B. in Sure 5:32 zur Sprache.
Jede Gewalttat gegen eine Menschenschwester oder einen Menschenbruder
bedeutet eine Verachtung der ganzen Menschheit. In jeder rettenden
Zuwendung, wie verborgen sie auch geschehen mag, erweist sich
andererseits die Verbundenheit der ganzen Menschenfamilie. Wenn uns dies
nicht im Innersten erschüttert, verbleiben wir im Reich der
Hässlichkeit, welchen frommen Ritualen oder Bekenntnissen wir auch immer
anhängen. Ich bin in jeder Begegnung mit Menschen neugierig darauf, wie
in ihrem Überlieferungshintergrund und ihrem Leben die Schönheit der
nahen wie universellen Verbundenheit aufleuchtet. Ihre und meine
Glaubensgemeinschaft, wir müssen allen verdeutlichen, dass und wie die
Bezeugung der „einen Menschheit“ zu unserem Fundament gehört.
MM: Ist das nicht auch ein Gebot der
Vernunft?
Bürger: Natürlich geht es in diesem
Zusammenhang auch um Vernunft und Wissenschaft, was besonders deutlich
wird am Beispiel der vernunft- und menschenfeindlichen Ideologie des
Rassismus oder in jedweder Spielart der Sklavenhalterei. Es geht
letztlich sogar um die Zukunftsperspektive der gesamten menschlichen
„Zivilisation“. An die „fromme“ Innenseite hat mein Kölner Ortsbischof
zu Silvester erinnert, als er predigte, „dass Gottes Licht jeden
Menschen – ganz gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Geschlechtes
oder welcher religiösen Überzeugung –, dass Gottes Licht wirklich jeden
Menschen erleuchtet“. Wer materielle, geistige, kulturelle oder
religiöse Trennmauern zwischen Menschen hochzieht, bezeugt eine
steinzeitliche Gruppen-Unmoral und zugleich eine Haltung, die im
eigentlichen Sinn als „Atheismus“ zu bezeichnen ist. Man kann übrigens
Solidarität unter „Glaubensgenossen“ auch mit einer sehr engen,
heilungsbedürftigen Gesinnung ausüben. Glaubwürdig werden wir erst, wenn
unsere Verbundenheit über die Mauern der eigenen Synagoge, Kirche oder
Moschee hinauslangt und sich dort im Ernstfall des Menschlichen bewährt.
Zu den Leuten der eigenen Gruppe zu halten, dass machen ja alle, selbst
die größten Schurken, das ist nichts Besonderes!
MM: Wie passt das in eine Zeit, in der
so ziemlich jede Menschengruppe gegen die andere ausgespielt wird, um
bestimmte Machtinteressen zu bedienen?
Bürger: Ich möchte Ihrem Ansatz
entgegenhalten: „Nichts Neues unter der Sonne!“ So war es doch eh und
je. Das System „Münze – Macht – Militär“, welches im Römischen Imperium
und dann wieder seit einem halben Jahrtausend zur Höchstform gelangt
ist, zielt auf eine Globalisierung im Dienst der
Geldvermehrungsmaschine. Größere Räume sollen nur deshalb miteinander
verbunden werden, um mehr Möglichkeiten für eine profitable Erweiterung
der Märkte und für den Raub von Gütern der Erde zu schaffen. Es geht
gerade nicht um menschliche Verbundenheit, Kommunikation, Dialog,
Austausch, gegenseitige Befruchtung. Vielmehr werden – je nach Bedarf –
Kulturen, Weltanschauungen, religiöse Überlieferungsgemeinschaften,
Konfessionen einer ehedem geeinten Religion, Länder, Weltregionen oder
Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt, wenn man auf diese Weise
den Kriegsapparat füttern kann oder eine Ablenkung von den rational
nicht mehr nachvollziehbaren Unrechtsverhältnissen auf der Erde – mit
jährlich mehr als 20 Millionen Hungertoten – erreicht. Der bedeutsamste
Hintergrund z.B. für den „Kulturkampf“ gegen den Islam, der schon
Jahrzehnte zurückreicht, ist aus meiner Sicht die Gier nach Öl und Gas.
Das hat mit Feindseligkeit zwischen Christentum und Islam gar nichts zu
tun.
MM: Ist der Kapitalismus in diesem
Zusammenhang nicht besonders perfide?
Bürger: Die kapitalistische Religion
lebt aus dem Dogma, dass der Mensch dem Menschen ein Konkurrent und
Feind sei. Die Thora und die Propheten Israels, die Jesus-Nachfolge und
die koranische Überlieferung bergen besonders kräftige Quellen, die
Auswege aus diesem Todeskomplex eröffnen. Von Jesus, der für mich
Meister und Bruder zugleich ist, ist zu lernen, dass wir den „Götzen
Geld, Macht und Gewalt“ in einem Atemzug unsere Absage erteilen werden,
wenn Frieden in uns und in die zwischenmenschlichen Beziehungen
einkehrt. Für mich ist es völlig gleichgültig, ob eine Politik oder ein
Land sich „islamisch“, „christlich“ oder wie auch immer nennt: Wenn die
Bedürftigen verachtet, Hassmedien installiert, Kriege angezettelt,
Profitstrukturen zementiert, Lebensgrundlagen zerstört und Menschen
zerfetzt werden, wissen wir, was von solchen Etiketten zu halten ist.
Bezogen auf diese Perversionen gab und gibt es – besonders auf der
Öl-Schiene – durchaus eine sehr schändliche „christlich-islamische“
Kooperation im Dienst des Todes. (Deutschland liefert die Panzer ...)
Auch der auf mich psychotisch wirkende „IS“-Komplex spiegelt ja zum Teil
auch einen dunklen Schatten der so genannten „westlichen Kultur“. Ausmaß
wie Hässlichkeit der angeblich im Namen von „Glauben“ in Geschichte und
Gegenwart verübten Verbrechen sind so groß, dass viele junge Leute
deshalb heute sagen: „Die Religionen fördern nur Gewalt. Wir müssen
andere Wege finden, um das Überlebenswichtige zu lernen: One human
family!“ Die entscheidende Frage lautet somit: Können sich die
Religionen heute als Motoren für eine Globalisierung von Mitgefühl,
Solidarität, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Freundschaft erweisen?
MM: Seit die katholische Kirche einen
neuen Papst hat und noch dazu einen lebenden ehemaligen Papst, ist es
deutlich ruhiger in den Medien um ihn und seine Aussagen geworden. Wie
erklären Sie sich das?
Bürger: Ich war kein Freund des Papstes
aus Polen, aber seine Kritik an Kapitalismus und neuer Kriegspolitik
sowie sein Wirken für die herzliche Zusammenarbeit aller Weltreligionen
überzeugten mich doch. Meine tiefe Bekümmernis über die nachfolgende
Zeit des „deutschen Papstes“ und meine Freude über den gegenwärtigen
Bruder Papst Franziskus findet man in Internetbeiträgen ausgedrückt. Der
„Traditionalismus“ im letzten Pontifikat kam den Herrschenden und
Besitzenden gelegen, denn das Unrechtssystem auf unserem Globus wurde
nur ganz zaghaft kritisiert. Die Berichterstattung über den „Papst aus
Deutschland“, das war weithin Folklore und hatte mit ernsthaftem
Christentum rein gar nichts zu tun. Die Medien lieben kostbare
Priestergewänder, rote Schühchen und andere Albernheiten. Ein paar
kitschige Bilder – Papst zum Anfassen, mit Kind auf dem Arm etc. – sind
auch immer willkommen. Franziskus steht nun für eine „Katholizität“, die
auf das Ganze schaut und zu einem weiten Horizont verhilft. Deshalb
lehnen ihn die antikatholischen, im 19. Jahrhundert verhafteten
Sektierer in unserer Kirche ab – fast bis hin zum Hass.
MM: Kann das nicht auch mit seiner
Kritik am Weltwirtschaftssystem zu tun haben?
Bürger: Papst Franziskus richtet sich
prophetisch auch gegen das aggressive Weltwirtschaftssystem, das täglich
über ungezählte Leichen geht, zu seiner Aufrechterhaltung Kriege
benötigt und schließlich die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen
zerstört. Das ist der Grund dafür, dass – auf der anderen Seite –
zunehmend eine Reihe prokapitalistischer, so genannter „Liberaler“ ihn
als naiv hinstellen, seine unbequemen Botschaften in der
Medienberichterstattung verwässern oder neuerdings gar im Verein mit den
Rechten sich in eifriger Papstschelte üben. Ich sehe viele wunderbare
Katholikinnen und Katholiken auch in unserem Land. Die meisten Bischöfe
sind entschiedene Anwälte der Flüchtlinge, was vom Dienstamt her auch
ihr Auftrag ist. Aber wirklich „katholisch-weltkirchlich“ und „Kirche
der Armen für die Armen“, das müssen wir erst noch werden ... Ich
garantiere Ihnen: Je mehr es uns gelingt, desto ruhiger wird es in den
Medien werden bezogen auf die „katholischen Kirchenangelegenheiten“.
Störung ist dem System nicht willkommen.
MM: Von außen betrachtet glauben viele
Asiaten und Afrikaner, dass Deutschland ein christliches Land ist. In
der Innensicht wirken bekennende Katholiken im Land fast wie die
Minderheit der Muslime – zumindest bei uns in Norddeutschland. Wie
können gottesehrfürchtige Menschen kooperieren, damit die Gesellschaft
und der Staat nicht gottlos werden?
Bürger: Die „evangelischen Christen“,
die in vielen norddeutschen Landschaften eine Mehrheit bilden, hätten
Sie ruhig mit nennen können. Sie sind auch im engeren Sinn meine
Glaubensgeschwister, denn es gibt nur die eine Taufe. Nebenbei bemerkt:
Wenn sich Katholiken und Protestanten oder Sunniten und Schiiten
gegenseitig den Schädel einschlagen, so ist das vor allem auch ein
Beweis ihrer Gottesverachtung. Unser Land, ja ganz Europa, hat sich im
Zuge der „Säkularisierung“ („Weltlichwerdung“) in religiöser Hinsicht
durchgreifend verändert und diese Entwicklung unterlag in den letzten
Jahrzehnten einer weiteren Beschleunigung. Ein islamisches Berberdorf in
Marokko, das ich im Jahr 2000 besucht habe, hatte viele Ähnlichkeiten
mit meinem katholischen Heimatdorf noch in den 1960er Jahren. Die in
einer ganzen Gemeinschaft verankerten religiösen Übungen vermitteln
Halt, und sie verändern sogar unsere Betrachtung des Sternenhimmels. Ich
weiß nicht, wie es in dem besagten Berberdorf (bei Taroudant) nun heute
oder in einigen Jahrzehnten aussieht.
MM: Wie spüren Sie die Auswirkungen von
Säkularität?
Bürger: Veränderungen in Richtung mehr
„Säkularität“ bewirken Angst für jeden, der in der Tradition geborgen
war. Wenn nicht mehr alle gemeinsam den Lobpreis des unermesslichen
Erbarmens, welches immer größer ist als unser Herz, singen, dann
beschleicht manch einen der Zweifel. Ich habe das Schmerzliche in meiner
eigenen Biographie erlebt. Wie über Nacht waren die Kirchlichkeit sowie
die Traditionen meiner Eltern und meiner Kinderzeit in der heimatlichen
Landschaft auf einmal nur noch eine Minderheitssache. Das hat mich tief
traurig gemacht. Doch es ist unfromm, durch eifrige Missionstätigkeit
oder gar Zwang die früheren Verhältnisse wieder herstellen zu wollen.
Das Schwinden althergebrachter Zwänge hat auch manche Bedrückungen
aufgelöst und Gewalt im Raum der Kirche aufgedeckt. Wenn die
„Bestätigung von außen“ kleiner wird, sind die Frommen und ihre
Glaubensgemeinschaft auf sich zurückgeworfen. Ich möchte es als
Glaubender so ausdrücken: „Wir treten umso leichter als Bedürftige vor
Gott und vor unsere Mitmenschen.“ Das ist eine wunderbare Chance, zu
wachsen.
Ich möchte Ihnen deshalb in aller Klarheit
sagen, dass Konzepte einer muslimisch-christlichen oder sonst wie
ausgerichteten „Ökumene gegen die Säkularisierung“ (bzw.
„Verweltlichung“) mir überhaupt nicht sympathisch erscheinen. Dazu ein
paar Stichworte: Freundschaft zwischen jüdischen, christlichen und
muslimischen Geschwistern dient aus meiner Sicht dazu, dass wir je
bessere Juden, bessere Christen und bessere Muslime werden. Dafür
brauchen wir uns nicht gegen andere Menschen zu verbünden. Die
säkularisierte Welt ist für mich keineswegs per se eine „gottlosere
Welt“. Ich halte entsprechende Sichtweisen für vermessen, weil sie dem
allumfassenden Erbarmen, das doch immer größer ist als unsere Angst und
unser kleines Denken, wieder Grenzen vorschreiben wollen. Mir persönlich
widerfährt es nicht selten, dass ich in der Begegnung mit wunderbaren
Menschen, die sich selbst vom Kopf her als „überzeugte Atheisten“
bezeichnen, beschenkt werde und dann in mir die Freude an Gott lebendig
wird.
Was wir allerdings wirklich benötigen: Eine
herzliche Freundschaft und Zusammenarbeit der Frommen, die sich auf
Thora und Propheten, Evangelium oder Koran berufen, besonders dort, wo
es darum geht, frohen Mut und Aufklärung wider den „Götzendienst von
Geld, Macht und Gewalt“ zu verbreiten. Es geht um das gemeinsame Zeugnis
gegen tödliche Strukturen: Kein Mensch kann sich das Leben und das
Lebensglück kaufen. Wir alle sind miteinander Bedürftige – nicht
Herrscher übereinander – und benötigen als Sterbliche den Atemraum einer
Güte, deren Ursprung wir selbst nicht sein können. Die Kriegs- und
Geldreligion – im Kleinen wie im Großen – verbaut uns Menschen und den
nach uns Kommenden jede Zukunft. Sie kehrt alle Freiheitsverheißungen,
die ich zum Reichtum meines Kulturkreises zähle, in das Gegenteil um.
Die Allmachts-Ansprüche der modernen Todesapparate sind gerade deshalb
so gefährlich, weil letztlich nur leerer Wind hinter ihnen steckt ...
Wenn wir als „Kinder Abrahams“ – Juden, Christen und Muslime – all dies
den jungen Menschen nicht vermitteln können, dann liegt es an uns,
unserem Kleinmut, unserer Enge und unserer fehlenden Freude im
Widerstehen gegen das Substanzlose, nicht aber an den jungen Menschen.
MM: Die Wahrnehmung von Recht und
Unrecht ist in den westlichen Gesellschaften sehr verschwommen. So
werden die weltweiten Terroranschläge mit bis zu 1000 Toten im Jahr als
größte Bedrohung angesehen, während die eigenen Militäreinsätze, die zum
zehn- bis hundertfachen an Opfern unter Zivilsten führen, nicht die
gleiche Aufmerksamkeit bewirken. Was kann die Kirche tun, um dieses
Wahrnehmungsdefizit, was zu vielen Problemen führt, zu vermindern?
Bürger: Erlauben Sie mir in Klammern
eine Ergänzung im Dienste des geschwisterlichen Gesprächs: Die
Wahrnehmung von Recht und Unrecht ist natürlich in ausnahmslos allen
Gesellschaften des neoliberalistischen Äons „sehr verschwommen“, auch
bei einigen so genannten „islamischen Regimes“, die in Wirklichkeit den
Reichtum anbeten, Umweltzerstörung betreiben, Krieg führen und am Ende
meinen, die fünfte Säule des Islam wäre beachtet, wenn man hin und
wieder einem Bettler eine Almosenmünze in die Schale schmeißt.
Die westlichen Gesellschaften sind
vielgestaltig und lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Ich sehe da
keineswegs nur Dunkelheit, sondern auch viel Licht, auch in der seit
langem bewährten gegenseitigen Achtung von Christen und Muslimen. Wenn
ich aber als Christ auf die hegemonialen Denkmuster, Kulturkomplexe und
Geschichtspolitiken schaue, muss ich Ihre Frage so beantworten: Das
angeblich „christliche“ Abendland hat seinen nunmehr 1700 Jahre
währenden Kriegsschatten völlig verdrängt. Mein Buch „Hiroshima, der
Krieg und die Christen“, das hiervon handelt, kann man im Internet
kostenfrei abrufen. Zwei Weltkriege mit über 70 Millionen Toten haben
den Bankrott dieses „Abendlandes“ offenbar gemacht. Noch immer wollen es
viele nicht wahrhaben, dass die Leitungen beider großen Kirchen in
Deutschland zuletzt nahezu ausnahmslos auch Hitlers Massenmordfeldzug im
Osten unterstützt haben, obwohl sie mehrheitlich den Nationalsozialismus
entschieden ablehnten. Der damalige Papst hat übrigens Hitler bis zum
Lebensende nicht exkommuniziert!
Schließlich ist die Atombombe, in der sich alle
technologischen Methoden der Menschenvernichtung verdichten, keine
asiatische oder orientalische Erfindung, sondern eine „westliche“. Die
ersten Atombombenabwürfe waren begleitet durch „christliche“
Kriegergebete. Die islamische Weltgemeinschaft könnte noch immer
Einspruch erheben und die Weltkriegsordnung der Moderne samt
Atomwaffenproduktion zur Blasphemie erklären. Solange das nicht
geschieht, sitzt sie allerdings heute mit im Boot.
Nun zur nachfolgenden Verdrängung der Opfer der
„westlichen Kriegsreligion“: Zwei Millionen Tote in Nordkorea durch
neuartige Massenbombardements 1952/53. Drei Millionen Massenmordopfer in
Südostasien während des Vietnamkrieges, in dem junge GIs übrigens – z.T.
unter Drogen – schon so agierten wie heute die Kopfabschneider und
Sklavenhalter des so genannten „IS“ ... Hier geht es wiederholt um
Dimensionen von Völkermord, aber davon will der „abendländische
Kulturkreis“ wie ehedem nichts wissen. Als Krankenpfleger habe ich vor
einem Vierteljahrhundert in der Uniklinik Düsseldorf zwei iranische
Ex-Soldaten mit völlig entstelltem Gesicht betreut. Die USA hatten durch
ihre Machtfreundschaft mit Saddam Hussein den irakisch-iranischen Krieg
– Muslime gegen Muslime – mit befeuert. Was sollte daran „ehrenwerter“
gewesen sein als die Zerfetzung von Menschen in Afghanistan durch
sowjetische Bomben?
Seit dem Golfkrieg 1991 haben die „westlichen“
Kriegsinterventionen – samt Sanktionen – in Ländern mit überwiegend
muslimischer Bevölkerung möglicherweise drei Millionen Todesopfer
gefordert. Begleitet wurde und wird diese neue Weltkriegs-Unordnung
durch eine militarisierte kommerzielle Massenkultur und einen Kult der
Gewalt, in dem kein Abgrund von Menschenverachtung, Rassismus und
Feindseligkeit gegenüber anderen Kulturen fehlt. Das kann man in jeder
Videothek überprüfen; konsumiert wird diese Form westlicher
„Unterhaltung“ weltweit. Bei allen hier zu nennenden Kriegen des
„Westens“ ging bzw. geht es in erster Linie um die Absicherung
geostrategischer Macht und fossiler Energieversorgung. Ist es so schwer,
mit etwas Studium der jüngsten Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, dass
hier unter der NATO-Parole „Werte und Interessen“ erneut
Völkermord-Dimensionen erreicht worden sind?
MM: Wie soll es weitergehen?
Bürger: Die „Barbarei“ in diesem
Jahrtausend wird eine globale, keineswegs ausschließlich „westliche“
Barbarei sein. Als Europäer und Christ muss ich jedoch in erster Linie
auf den unglaublichen Gedächtnisschwund des christlich geprägten
Kulturkreises hinweisen bzw. auf die systematische Verdrängung der
unsäglichen Leiden in anderen Ländern, die in unserer öffentlichen
Kultur Standard geworden ist. Es wird sofort hysterisch geschrieen, wenn
jemand nach der Art von Avram Noam Chomsky (USA) den ganz normalen
Staatsterrorismus des „Westens“ und den Terrorismus selbsternannter
„Gotteskrieger“ in moralischer Hinsicht miteinander vergleicht.
Argumente und klares ethisches Denken sind also nicht erwünscht.
Was könnten nun die Kirchen tun? Ich wäre ein
merkwürdiger Christ, wenn ich nicht auch meinen jüdischen oder
muslimischen Geschwistern Jesus von Nazareth als den Zeugen für die
Kraft der Gewaltfreiheit und die mögliche Durchbrechung aller
Schuldkreisläufe ans Herz legen würden. Doch wie sollte ich so etwas
tun? Ich sehe noch keineswegs die durchgreifende Bekehrung, die uns
Christen befreit von der historischen Last des Kriegskirchentums und von
den Häresien der staatskirchlichen Militärreligion. Wir müssen also noch
immer umkehren. Wenn Jesus im real existierenden Christentum wieder
ankommt, wenn alle Getauften dem Kriegsaberglauben abschwören und wenn
die sogenannte „westliche“ Welt nicht mehr den Riesenanteil von
Kriegswaffenexport und Weltrüstungshaushalt bestreitet, dann könnten wir
auf einer neuen – erfreulicheren – Ebene miteinander ins Gespräch
kommen.
Mit anderen Menschen erhoffe ich jedoch
zeitnäher, dass alle großen Religionen auf der Erde in einem globalen
Festgeschehen eine gemeinsame Überlebensvision für die Menschheit
bezeugen: One Human Family.
MM: Herr Bürger, wie danken für das
Interview
Zwei Lektüre-Tipps des Gesprächspartners:
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