Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Peter Bürger

 

Muslim-Markt interviewt
Peter Bürger - katholischer Theologe, Autor und Friedensaktivist
26.1.2016

Peter Bürger (Jahrgang 1961) ist in Westfalen geboren und wuchs in einer noch weitgehend katholisch geprägten Landschaft auf. Nach seinem Abitur 1980 am Gymnasium der Abtei Königsmünster in Meschede folgte der Zivildienst des Kriegsdienstverweigerers. Danach studierte er römisch-katholische Theologie in Bonn, Paderborn und Tübingen (Abschluss: Diplom-Theologe). Ganz bewusst wählte er im Anschluss daran eine Tätigkeit im Bereich Sozialarbeit in Düsseldorf und die weitere Ausbildung zum Krankenpfleger. Er arbeitete in Krankenhäusern, ab 1997 im Bereich der psychosozialen Begleitung von HIV-Betroffenen und Drogenkonsumenten sowie in der Aids-Prävention. 1998 war er Mitinitiator eines christlich-ökumenischen Bündnisses für die Rechte von Menschen auf der Straße. Seit 2003 ist er als freiberuflicher Autor tätig und hat mehrere Bücher geschrieben, darunter: „Napalm am Morgen. Vietnam und der kritische Kriegsfilm“ (2004), „Hiroshima, der Krieg und die Christen“ (2005), „Bildermaschine für den Krieg“ (2007), „Die fromme Revolte – Katholiken brechen auf“ (2009). Auch im Online-Magazin „Telepolis“ und der Zeitschrift „Hintergrund“ hat er Beiträge veröffentlicht. Für seine Studie „Kino der Angst – Terror, Krieg und Staatskunst aus Hollywood“ (2005) wurde er 2006 mit dem Bertha-von-Suttner-Preis in der Kategorie „Film & Medien“ ausgezeichnet.

Bürger ist Mitglied bei Pax Christi, dem Internationalen Versöhnungsbund und der DFG-VK. Auch aufgrund seines friedenspolitischen Engagements wird er oft als „linkskatholisch“ bezeichnet.

Bürger ist ledig und lebt im Großraum Düsseldorf.

MM: Sehr geehrter Herr Bürger, Sie setzen sich intensiv für die „Die Einheit der menschlichen Familie“ ein. Was verstehen Sie darunter?

Bürger: Das Bekenntnis zur einen Menschheit auf der Erde ist grundlegend für die „abrahamische Ökumene“ von Juden, Christen und Muslimen. Zugleich kann es im 3. Jahrtausend eine geschwisterliche Zusammenarbeit nur zwischen jenen globalen Bewegungen und Religionsgemeinschaften geben, die die ungeteilte „Einheit der menschlichen Familie“ ohne Abstriche zum Ausgangspunkt und Ziel nehmen. Es handelt sich nicht um eine schöne Predigtparole oder ein abstraktes Prinzip. Der Ernstfall der einen Menschheit erweist sich in der unbedingten und wirklich ausnahmslosen Achtung der Würde jedes Menschen. Imperialisten oder Terroristen sind aus christlicher Sicht keineswegs ausgeschlossen, auch wenn sie gemordet haben.

In der koranischen Überlieferung kommt die Einheit der Menschheit schön und präzise z.B. in Sure 5:32 zur Sprache. Jede Gewalttat gegen eine Menschenschwester oder einen Menschenbruder bedeutet eine Verachtung der ganzen Menschheit. In jeder rettenden Zuwendung, wie verborgen sie auch geschehen mag, erweist sich andererseits die Verbundenheit der ganzen Menschenfamilie. Wenn uns dies nicht im Innersten erschüttert, verbleiben wir im Reich der Hässlichkeit, welchen frommen Ritualen oder Bekenntnissen wir auch immer anhängen. Ich bin in jeder Begegnung mit Menschen neugierig darauf, wie in ihrem Überlieferungshintergrund und ihrem Leben die Schönheit der nahen wie universellen Verbundenheit aufleuchtet. Ihre und meine Glaubensgemeinschaft, wir müssen allen verdeutlichen, dass und wie die Bezeugung der „einen Menschheit“ zu unserem Fundament gehört.

MM: Ist das nicht auch ein Gebot der Vernunft?

Bürger: Natürlich geht es in diesem Zusammenhang auch um Vernunft und Wissenschaft, was besonders deutlich wird am Beispiel der vernunft- und menschenfeindlichen Ideologie des Rassismus oder in jedweder Spielart der Sklavenhalterei. Es geht letztlich sogar um die Zukunftsperspektive der gesamten menschlichen „Zivilisation“. An die „fromme“ Innenseite hat mein Kölner Ortsbischof zu Silvester erinnert, als er predigte, „dass Gottes Licht jeden Menschen – ganz gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Geschlechtes oder welcher religiösen Überzeugung –, dass Gottes Licht wirklich jeden Menschen erleuchtet“. Wer materielle, geistige, kulturelle oder religiöse Trennmauern zwischen Menschen hochzieht, bezeugt eine steinzeitliche Gruppen-Unmoral und zugleich eine Haltung, die im eigentlichen Sinn als „Atheismus“ zu bezeichnen ist. Man kann übrigens Solidarität unter „Glaubensgenossen“ auch mit einer sehr engen, heilungsbedürftigen Gesinnung ausüben. Glaubwürdig werden wir erst, wenn unsere Verbundenheit über die Mauern der eigenen Synagoge, Kirche oder Moschee hinauslangt und sich dort im Ernstfall des Menschlichen bewährt. Zu den Leuten der eigenen Gruppe zu halten, dass machen ja alle, selbst die größten Schurken, das ist nichts Besonderes!

MM: Wie passt das in eine Zeit, in der so ziemlich jede Menschengruppe gegen die andere ausgespielt wird, um bestimmte Machtinteressen zu bedienen?

Bürger: Ich möchte Ihrem Ansatz entgegenhalten: „Nichts Neues unter der Sonne!“ So war es doch eh und je. Das System „Münze – Macht – Militär“, welches im Römischen Imperium und dann wieder seit einem halben Jahrtausend zur Höchstform gelangt ist, zielt auf eine Globalisierung im Dienst der Geldvermehrungsmaschine. Größere Räume sollen nur deshalb miteinander verbunden werden, um mehr Möglichkeiten für eine profitable Erweiterung der Märkte und für den Raub von Gütern der Erde zu schaffen. Es geht gerade nicht um menschliche Verbundenheit, Kommunikation, Dialog, Austausch, gegenseitige Befruchtung. Vielmehr werden – je nach Bedarf – Kulturen, Weltanschauungen, religiöse Überlieferungsgemeinschaften, Konfessionen einer ehedem geeinten Religion, Länder, Weltregionen oder Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt, wenn man auf diese Weise den Kriegsapparat füttern kann oder eine Ablenkung von den rational nicht mehr nachvollziehbaren Unrechtsverhältnissen auf der Erde – mit jährlich mehr als 20 Millionen Hungertoten – erreicht. Der bedeutsamste Hintergrund z.B. für den „Kulturkampf“ gegen den Islam, der schon Jahrzehnte zurückreicht, ist aus meiner Sicht die Gier nach Öl und Gas. Das hat mit Feindseligkeit zwischen Christentum und Islam gar nichts zu tun.

MM: Ist der Kapitalismus in diesem Zusammenhang nicht besonders perfide?

Bürger: Die kapitalistische Religion lebt aus dem Dogma, dass der Mensch dem Menschen ein Konkurrent und Feind sei. Die Thora und die Propheten Israels, die Jesus-Nachfolge und die koranische Überlieferung bergen besonders kräftige Quellen, die Auswege aus diesem Todeskomplex eröffnen. Von Jesus, der für mich Meister und Bruder zugleich ist, ist zu lernen, dass wir den „Götzen Geld, Macht und Gewalt“ in einem Atemzug unsere Absage erteilen werden, wenn Frieden in uns und in die zwischenmenschlichen Beziehungen einkehrt. Für mich ist es völlig gleichgültig, ob eine Politik oder ein Land sich „islamisch“, „christlich“ oder wie auch immer nennt: Wenn die Bedürftigen verachtet, Hassmedien installiert, Kriege angezettelt, Profitstrukturen zementiert, Lebensgrundlagen zerstört und Menschen zerfetzt werden, wissen wir, was von solchen Etiketten zu halten ist. Bezogen auf diese Perversionen gab und gibt es – besonders auf der Öl-Schiene – durchaus eine sehr schändliche „christlich-islamische“ Kooperation im Dienst des Todes. (Deutschland liefert die Panzer ...) Auch der auf mich psychotisch wirkende „IS“-Komplex spiegelt ja zum Teil auch einen dunklen Schatten der so genannten „westlichen Kultur“. Ausmaß wie Hässlichkeit der angeblich im Namen von „Glauben“ in Geschichte und Gegenwart verübten Verbrechen sind so groß, dass viele junge Leute deshalb heute sagen: „Die Religionen fördern nur Gewalt. Wir müssen andere Wege finden, um das Überlebenswichtige zu lernen: One human family!“ Die entscheidende Frage lautet somit: Können sich die Religionen heute als Motoren für eine Globalisierung von Mitgefühl, Solidarität, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Freundschaft erweisen?

MM: Seit die katholische Kirche einen neuen Papst hat und noch dazu einen lebenden ehemaligen Papst, ist es deutlich ruhiger in den Medien um ihn und seine Aussagen geworden. Wie erklären Sie sich das?

Bürger: Ich war kein Freund des Papstes aus Polen, aber seine Kritik an Kapitalismus und neuer Kriegspolitik sowie sein Wirken für die herzliche Zusammenarbeit aller Weltreligionen überzeugten mich doch. Meine tiefe Bekümmernis über die nachfolgende Zeit des „deutschen Papstes“ und meine Freude über den gegenwärtigen Bruder Papst Franziskus findet man in Internetbeiträgen ausgedrückt. Der „Traditionalismus“ im letzten Pontifikat kam den Herrschenden und Besitzenden gelegen, denn das Unrechtssystem auf unserem Globus wurde nur ganz zaghaft kritisiert. Die Berichterstattung über den „Papst aus Deutschland“, das war weithin Folklore und hatte mit ernsthaftem Christentum rein gar nichts zu tun. Die Medien lieben kostbare Priestergewänder, rote Schühchen und andere Albernheiten. Ein paar kitschige Bilder – Papst zum Anfassen, mit Kind auf dem Arm etc. – sind auch immer willkommen. Franziskus steht nun für eine „Katholizität“, die auf das Ganze schaut und zu einem weiten Horizont verhilft. Deshalb lehnen ihn die antikatholischen, im 19. Jahrhundert verhafteten Sektierer in unserer Kirche ab – fast bis hin zum Hass.

MM: Kann das nicht auch mit seiner Kritik am Weltwirtschaftssystem zu tun haben?

Bürger: Papst Franziskus richtet sich prophetisch auch gegen das aggressive Weltwirtschaftssystem, das täglich über ungezählte Leichen geht, zu seiner Aufrechterhaltung Kriege benötigt und schließlich die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört. Das ist der Grund dafür, dass – auf der anderen Seite – zunehmend eine Reihe prokapitalistischer, so genannter „Liberaler“ ihn als naiv hinstellen, seine unbequemen Botschaften in der Medienberichterstattung verwässern oder neuerdings gar im Verein mit den Rechten sich in eifriger Papstschelte üben. Ich sehe viele wunderbare Katholikinnen und Katholiken auch in unserem Land. Die meisten Bischöfe sind entschiedene Anwälte der Flüchtlinge, was vom Dienstamt her auch ihr Auftrag ist. Aber wirklich „katholisch-weltkirchlich“ und „Kirche der Armen für die Armen“, das müssen wir erst noch werden ... Ich garantiere Ihnen: Je mehr es uns gelingt, desto ruhiger wird es in den Medien werden bezogen auf die „katholischen Kirchenangelegenheiten“. Störung ist dem System nicht willkommen.

MM: Von außen betrachtet glauben viele Asiaten und Afrikaner, dass Deutschland ein christliches Land ist. In der Innensicht wirken bekennende Katholiken im Land fast wie die Minderheit der Muslime – zumindest bei uns in Norddeutschland. Wie können gottesehrfürchtige Menschen kooperieren, damit die Gesellschaft und der Staat nicht gottlos werden?

Bürger: Die „evangelischen Christen“, die in vielen norddeutschen Landschaften eine Mehrheit bilden, hätten Sie ruhig mit nennen können. Sie sind auch im engeren Sinn meine Glaubensgeschwister, denn es gibt nur die eine Taufe. Nebenbei bemerkt: Wenn sich Katholiken und Protestanten oder Sunniten und Schiiten gegenseitig den Schädel einschlagen, so ist das vor allem auch ein Beweis ihrer Gottesverachtung. Unser Land, ja ganz Europa, hat sich im Zuge der „Säkularisierung“ („Weltlichwerdung“) in religiöser Hinsicht durchgreifend verändert und diese Entwicklung unterlag in den letzten Jahrzehnten einer weiteren Beschleunigung. Ein islamisches Berberdorf in Marokko, das ich im Jahr 2000 besucht habe, hatte viele Ähnlichkeiten mit meinem katholischen Heimatdorf noch in den 1960er Jahren. Die in einer ganzen Gemeinschaft verankerten religiösen Übungen vermitteln Halt, und sie verändern sogar unsere Betrachtung des Sternenhimmels. Ich weiß nicht, wie es in dem besagten Berberdorf (bei Taroudant) nun heute oder in einigen Jahrzehnten aussieht.

MM: Wie spüren Sie die Auswirkungen von Säkularität?

Bürger: Veränderungen in Richtung mehr „Säkularität“ bewirken Angst für jeden, der in der Tradition geborgen war. Wenn nicht mehr alle gemeinsam den Lobpreis des unermesslichen Erbarmens, welches immer größer ist als unser Herz, singen, dann beschleicht manch einen der Zweifel. Ich habe das Schmerzliche in meiner eigenen Biographie erlebt. Wie über Nacht waren die Kirchlichkeit sowie die Traditionen meiner Eltern und meiner Kinderzeit in der heimatlichen Landschaft auf einmal nur noch eine Minderheitssache. Das hat mich tief traurig gemacht. Doch es ist unfromm, durch eifrige Missionstätigkeit oder gar Zwang die früheren Verhältnisse wieder herstellen zu wollen. Das Schwinden althergebrachter Zwänge hat auch manche Bedrückungen aufgelöst und Gewalt im Raum der Kirche aufgedeckt. Wenn die „Bestätigung von außen“ kleiner wird, sind die Frommen und ihre Glaubensgemeinschaft auf sich zurückgeworfen. Ich möchte es als Glaubender so ausdrücken: „Wir treten umso leichter als Bedürftige vor Gott und vor unsere Mitmenschen.“ Das ist eine wunderbare Chance, zu wachsen.

Ich möchte Ihnen deshalb in aller Klarheit sagen, dass Konzepte einer muslimisch-christlichen oder sonst wie ausgerichteten „Ökumene gegen die Säkularisierung“ (bzw. „Verweltlichung“) mir überhaupt nicht sympathisch erscheinen. Dazu ein paar Stichworte: Freundschaft zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Geschwistern dient aus meiner Sicht dazu, dass wir je bessere Juden, bessere Christen und bessere Muslime werden. Dafür brauchen wir uns nicht gegen andere Menschen zu verbünden. Die säkularisierte Welt ist für mich keineswegs per se eine „gottlosere Welt“. Ich halte entsprechende Sichtweisen für vermessen, weil sie dem allumfassenden Erbarmen, das doch immer größer ist als unsere Angst und unser kleines Denken, wieder Grenzen vorschreiben wollen. Mir persönlich widerfährt es nicht selten, dass ich in der Begegnung mit wunderbaren Menschen, die sich selbst vom Kopf her als „überzeugte Atheisten“ bezeichnen, beschenkt werde und dann in mir die Freude an Gott lebendig wird.

Was wir allerdings wirklich benötigen: Eine herzliche Freundschaft und Zusammenarbeit der Frommen, die sich auf Thora und Propheten, Evangelium oder Koran berufen, besonders dort, wo es darum geht, frohen Mut und Aufklärung wider den „Götzendienst von Geld, Macht und Gewalt“ zu verbreiten. Es geht um das gemeinsame Zeugnis gegen tödliche Strukturen: Kein Mensch kann sich das Leben und das Lebensglück kaufen. Wir alle sind miteinander Bedürftige – nicht Herrscher übereinander – und benötigen als Sterbliche den Atemraum einer Güte, deren Ursprung wir selbst nicht sein können. Die Kriegs- und Geldreligion – im Kleinen wie im Großen – verbaut uns Menschen und den nach uns Kommenden jede Zukunft. Sie kehrt alle Freiheitsverheißungen, die ich zum Reichtum meines Kulturkreises zähle, in das Gegenteil um. Die Allmachts-Ansprüche der modernen Todesapparate sind gerade deshalb so gefährlich, weil letztlich nur leerer Wind hinter ihnen steckt ... Wenn wir als „Kinder Abrahams“ – Juden, Christen und Muslime – all dies den jungen Menschen nicht vermitteln können, dann liegt es an uns, unserem Kleinmut, unserer Enge und unserer fehlenden Freude im Widerstehen gegen das Substanzlose, nicht aber an den jungen Menschen.

MM: Die Wahrnehmung von Recht und Unrecht ist in den westlichen Gesellschaften sehr verschwommen. So werden die weltweiten Terroranschläge mit bis zu 1000 Toten im Jahr als größte Bedrohung angesehen, während die eigenen Militäreinsätze, die zum zehn- bis hundertfachen an Opfern unter Zivilsten führen, nicht die gleiche Aufmerksamkeit bewirken. Was kann die Kirche tun, um dieses Wahrnehmungsdefizit, was zu vielen Problemen führt, zu vermindern?

Bürger: Erlauben Sie mir in Klammern eine Ergänzung im Dienste des geschwisterlichen Gesprächs: Die Wahrnehmung von Recht und Unrecht ist natürlich in ausnahmslos allen Gesellschaften des neoliberalistischen Äons „sehr verschwommen“, auch bei einigen so genannten „islamischen Regimes“, die in Wirklichkeit den Reichtum anbeten, Umweltzerstörung betreiben, Krieg führen und am Ende meinen, die fünfte Säule des Islam wäre beachtet, wenn man hin und wieder einem Bettler eine Almosenmünze in die Schale schmeißt.

Die westlichen Gesellschaften sind vielgestaltig und lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Ich sehe da keineswegs nur Dunkelheit, sondern auch viel Licht, auch in der seit langem bewährten gegenseitigen Achtung von Christen und Muslimen. Wenn ich aber als Christ auf die hegemonialen Denkmuster, Kulturkomplexe und Geschichtspolitiken schaue, muss ich Ihre Frage so beantworten: Das angeblich „christliche“ Abendland hat seinen nunmehr 1700 Jahre währenden Kriegsschatten völlig verdrängt. Mein Buch „Hiroshima, der Krieg und die Christen“, das hiervon handelt, kann man im Internet kostenfrei abrufen. Zwei Weltkriege mit über 70 Millionen Toten haben den Bankrott dieses „Abendlandes“ offenbar gemacht. Noch immer wollen es viele nicht wahrhaben, dass die Leitungen beider großen Kirchen in Deutschland zuletzt nahezu ausnahmslos auch Hitlers Massenmordfeldzug im Osten unterstützt haben, obwohl sie mehrheitlich den Nationalsozialismus entschieden ablehnten. Der damalige Papst hat übrigens Hitler bis zum Lebensende nicht exkommuniziert!

Schließlich ist die Atombombe, in der sich alle technologischen Methoden der Menschenvernichtung verdichten, keine asiatische oder orientalische Erfindung, sondern eine „westliche“. Die ersten Atombombenabwürfe waren begleitet durch „christliche“ Kriegergebete. Die islamische Weltgemeinschaft könnte noch immer Einspruch erheben und die Weltkriegsordnung der Moderne samt Atomwaffenproduktion zur Blasphemie erklären. Solange das nicht geschieht, sitzt sie allerdings heute mit im Boot.

Nun zur nachfolgenden Verdrängung der Opfer der „westlichen Kriegsreligion“: Zwei Millionen Tote in Nordkorea durch neuartige Massenbombardements 1952/53. Drei Millionen Massenmordopfer in Südostasien während des Vietnamkrieges, in dem junge GIs übrigens – z.T. unter Drogen – schon so agierten wie heute die Kopfabschneider und Sklavenhalter des so genannten „IS“ ... Hier geht es wiederholt um Dimensionen von Völkermord, aber davon will der „abendländische Kulturkreis“ wie ehedem nichts wissen. Als Krankenpfleger habe ich vor einem Vierteljahrhundert in der Uniklinik Düsseldorf zwei iranische Ex-Soldaten mit völlig entstelltem Gesicht betreut. Die USA hatten durch ihre Machtfreundschaft mit Saddam Hussein den irakisch-iranischen Krieg – Muslime gegen Muslime – mit befeuert. Was sollte daran „ehrenwerter“ gewesen sein als die Zerfetzung von Menschen in Afghanistan durch sowjetische Bomben?

Seit dem Golfkrieg 1991 haben die „westlichen“ Kriegsinterventionen – samt Sanktionen – in Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung möglicherweise drei Millionen Todesopfer gefordert. Begleitet wurde und wird diese neue Weltkriegs-Unordnung durch eine militarisierte kommerzielle Massenkultur und einen Kult der Gewalt, in dem kein Abgrund von Menschenverachtung, Rassismus und Feindseligkeit gegenüber anderen Kulturen fehlt. Das kann man in jeder Videothek überprüfen; konsumiert wird diese Form westlicher „Unterhaltung“ weltweit. Bei allen hier zu nennenden Kriegen des „Westens“ ging bzw. geht es in erster Linie um die Absicherung geostrategischer Macht und fossiler Energieversorgung. Ist es so schwer, mit etwas Studium der jüngsten Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, dass hier unter der NATO-Parole „Werte und Interessen“ erneut Völkermord-Dimensionen erreicht worden sind?

MM: Wie soll es weitergehen?

Bürger: Die „Barbarei“ in diesem Jahrtausend wird eine globale, keineswegs ausschließlich „westliche“ Barbarei sein. Als Europäer und Christ muss ich jedoch in erster Linie auf den unglaublichen Gedächtnisschwund des christlich geprägten Kulturkreises hinweisen bzw. auf die systematische Verdrängung der unsäglichen Leiden in anderen Ländern, die in unserer öffentlichen Kultur Standard geworden ist. Es wird sofort hysterisch geschrieen, wenn jemand nach der Art von Avram Noam Chomsky (USA) den ganz normalen Staatsterrorismus des „Westens“ und den Terrorismus selbsternannter „Gotteskrieger“ in moralischer Hinsicht miteinander vergleicht. Argumente und klares ethisches Denken sind also nicht erwünscht.

Was könnten nun die Kirchen tun? Ich wäre ein merkwürdiger Christ, wenn ich nicht auch meinen jüdischen oder muslimischen Geschwistern Jesus von Nazareth als den Zeugen für die Kraft der Gewaltfreiheit und die mögliche Durchbrechung aller Schuldkreisläufe ans Herz legen würden. Doch wie sollte ich so etwas tun? Ich sehe noch keineswegs die durchgreifende Bekehrung, die uns Christen befreit von der historischen Last des Kriegskirchentums und von den Häresien der staatskirchlichen Militärreligion. Wir müssen also noch immer umkehren. Wenn Jesus im real existierenden Christentum wieder ankommt, wenn alle Getauften dem Kriegsaberglauben abschwören und wenn die sogenannte „westliche“ Welt nicht mehr den Riesenanteil von Kriegswaffenexport und Weltrüstungshaushalt bestreitet, dann könnten wir auf einer neuen – erfreulicheren – Ebene miteinander ins Gespräch kommen.

Mit anderen Menschen erhoffe ich jedoch zeitnäher, dass alle großen Religionen auf der Erde in einem globalen Festgeschehen eine gemeinsame Überlebensvision für die Menschheit bezeugen: One Human Family.

MM: Herr Bürger, wie danken für das Interview

Zwei Lektüre-Tipps des Gesprächspartners:

Links zum Thema

Senden Sie e-Mails mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: info@muslim-markt.de 
Copyright © seit 1999 Muslim-Markt