MM: Sehr geehrter Herr Prof. Wittmann, wie
kommt ein Ingenieur, dessen Schwerpunkt die Arbeitssicherheit ist und
der dazu an einer deutschen Universität lehrt, dazu, sich ausgerechnet
mit dem NSU-Prozess zu so intensiv zu beschäftigen?
Prof. Wittmann: Ich habe mich schon
immer sehr für Politik, unser Rechtssystem und die Rolle der Medien
interessiert. Natürlich war ich nach dem überraschenden Auffliegen des
so genannten NSU am Anfang schockiert von den Abgründen, die sich da
nach den Ereignissen in Eisenach und Zwickau auftaten. Aber diese
Wahnsinnsenthüllungen kamen meiner Meinung nach viel zu schnell, viele
Ungereimtheiten traten auf und täglich werden es mehr. Auch der Gedanke,
dass sich schwer bewaffnete Kriminelle bei der Ansicht zweier
Streifenpolizisten spontan das Leben nehmen, anstatt zu kämpfen und dann
auch noch Beweise für die Täterschaft an allen ungeklärten Verbrechen
seit der Sintflut mit sich führen, das ist nicht glaubhaft.
MM: Und was denken Sie über diese
Ungereimtheiten?
Prof. Wittmann: Über diese
Ungereimtheiten habe ich mich viel mit anderen Interessierten
ausgetauscht. Ende Juni wurden dann einem Mitblogger („fatalist“) die
Ermittlungsakten für den Prozess in München zugespielt, an deren
Aufarbeitung der „Arbeitskreis NSU“ nun seit mehreren Monaten arbeitet.
In diesem Arbeitskreis engagieren sich die unterschiedlichsten Personen
der unterschiedlichsten politischen Richtungen, die alle ihr Wissen und
viel Engagement in die Analyse der Akten und dem Vergleich der
Akteninhalte mit der Realität im Münchner Prozess und den
Medienberichten stecken. Alle eint das staatsbürgerliche Engagement für
den Rechtsstaat. Aus den uns vorliegenden, sicherlich authentischen
Akten geht aber an vielen Stellen eindeutig hervor, dass die Geschichte,
so wie sie heute in den Medien und in der Öffentlichkeit wahrgenommen
wird, nicht gelaufen ist. Weiterhin belegen die Akten eindeutig
Beweisfälschungen durch Mitarbeiter deutscher Behörden. Und das in einem
derartig sensiblen, von der Öffentlichkeit international genau
beobachteten Verfahren. Bedauerlicherweise schweigt die Presse dazu
immer noch.
MM: Sie haben dem Bundesinnenminister
einen Brief zum so genannten Česká-Paradoxon gesandt. Was ist darunter
zu verstehen?
Prof. Wittmann: Der Brief wurde
von den Mitgliedern des Arbeitskreises an den Innenausschuss des
Deutschen Bundestages (einen Teil der Legislative), nicht an den
Innenminister (Exekutive) versandt. Im Brief geht es unter anderem um
die angebliche Mordwaffe Česká, die im Verfahren zum NSU eine große
Rolle spielt. Das Česká-Paradoxon besteht darin, dass eine Waffe, deren
waffentechnische Prüfung durch Experten des BKA erst am Vormittag des
11.11.2011 beginnt, nicht am selben Vormittag vom Chef des BKA Ziercke
als geprüfte, probebeschossene eindeutige Mordwaffe bei 9 Morden
verkündet werden kann: Entweder ist ungeprüft verkündet worden, die in
Zwickau gefundene Česká sei die Mordwaffe, oder den Behörden war,
eventuell schon vor dem Auffinden am 9.11.2011 bekannt, dass es sich um
die Mordwaffe handelt. Oder es ist eben gar nicht die Mordwaffe, obwohl
das bis heute weiter behauptet wird. Die einsehbaren Gutachten des BKA
sind da sehr viel vorsichtiger als die Bundesanwaltschaft im Prozess. Im
Übrigen war es unser Brief, der nun vieles ins Rollen brachte.
MM: Es ist kaum anzunehmen, dass der
Bundesinnenminister dazu substantiell antworten lässt, aber welche
Auswirkung haben diese Fakten auf den Prozessverlauf?
Prof. Wittmann: Immerhin hat Herr
Bosbach, der Vorsitzende des Innenausschuss des Deutschen Bundestages
mittlerweile geantwortet. Der Innenausschuss will nun die Gerichtsakten
beiziehen um zu überprüfen, ob die von unserem Arbeitskreis ermittelten
Ungereimtheiten sich auch aus den "Originalakten" ergeben. Das ist aber
anzunehmen, denn niemand hat bislang behauptet, die geleakten Akten
wären gefälscht, wofür auch nichts spricht. Wir können aber nur Anstöße
geben, auf Ungereimtheiten hinweisen - unsere Rolle besteht nicht in der
Strafverfolgung, dafür sind andere Akteure vorgesehen und notwendig. Auf
den Prozessverlauf glaube ich aber hat das erst mal gar keine
Auswirkungen. Es wird zunächst ignoriert werden, von Anklage,
Nebenklage, Verteidigung und Gericht. Nur, Warum?
MM: Gibt es weitere Indizien für Ihre
Skepsis bezüglich des NSU-Prozesses?
Prof. Wittmann: Ich und auch der gesamte
Arbeitskreis verabscheuen diese Taten und möchte die Verantwortlichen
natürlich vor Gericht sehen. Es wurden bisher, trotz mehr als 150
Prozesstagen keinerlei tragfähigen Beweise vorgelegt, die belegen, dass
die verstorbenen Böhnhardt und Mundlos mit den angeklagten Taten -
immerhin 10 Morde, mehrere Sprengstoffanschläge und etliche
Banküberfälle - wirklich etwas zu tun hatten. Skepsis ist jedoch aus
meiner Sicht noch stark untertrieben, denn bislang entlasten sämtliche
Sachbeweise (DNA, Fingerabdrücke, Videoaufnahmen) an Waffen und Tatorten
die Verstorbenen und die Hauptangeklagte. Das spielt aber offenbar im
Prozess keine Rolle.
MM: Ist es denn überhaupt denkbar, dass
nicht Böhnhardt und Mundlos die Morde begangen haben, sondern ganz
andere, die hier gedeckt werden sollen?
Prof. Wittmann: Weder aus dem Prozess,
der jetzt 150 Tage dauert, noch aus den Ermittlungsakten lassen sich
eindeutige Beweise für die angeblich durch Mundlos und Böhnhardt
begangenen 10 Morde ersehen. Beispiele dafür sind nicht vorhandene
DNA-Spuren an den jeweiligen Tatorten, Gegenständen und Waffen (an
Letzteren wurde zwar DNA gefunden, sowohl an den Mordwaffen von
Heilbronn in Zwickau als auch an den vermeintlichen Bankraubwaffen
Arnstadt und Eisenach im Wohnmobil, jedoch keine Uwe-DNA, sondern
Fremd-DNA, die immer noch unbestimmt ist), widersprüchliche
Zeugenaussagen nebst Phantombildern, die keine Übereinstimmung mit dem
Aussehen von Böhnhardt und Mundlos aufweisen, nicht zu vergessen. Es
existiert kein einziger auch nur annähernd „harter Beweis“ für die
behauptete Täterschaft. Weder bei den Morden noch bei den zwei
Bombenanschlägen in Köln noch bei den vorgeworfenen Bankrauben: Über
4300 DNA-Spuren aus den Akten passen nicht zu den Uwes.
MM: Wie erklären Sie sich, dass die
Medien, die sich doch sonst sehr gerne und teils reißerisch auf
skandalöse Nachrichten stürzen, im Fall der Ungereimtheiten im
NSU-Prozess so zurückhaltend sind?
Prof. Wittmann: Das ist mir bisher auch
unerklärlich. Immerhin werden unsere Ergebnisse mittlerweile von
kleineren unabhängigen Verlagen und Medien wahrgenommen, die wiederum
das ein oder andere Thema aufnehmen und veröffentlichen. Wir werden in
der Zukunft an einem Punkt gelangen, an dem sich auch die Massenmedien
mit der neuen Beweislage, die wir mit unseren Recherchen schaffen,
befassen müssen. Wir vermuten eine Art von Staatsräson, die zu dem von
Ihnen angemerkten merkwürdigen „Leisetreten“ der Medien führt.
Wir müssen auch sehen, dass es hier eine
politische Konstellation gibt, die mit der Platzierung der
NSU-Geschichte zu tun hat. Im Jahr 2011 standen schwerwiegende
europapolitische Entscheidungen an, bei denen deutsche Interessen nicht
artikuliert werden durften. Gleichzeitig bildeten sich Parteien, die an
diese Interessen andocken wollten. Da kam der „nationale Dämpfer“ NSU
gerade recht. Wie bei der klassischen „Strategie der Spannung“, die die
NATO jahrzehntelang über Europa ausgebreitet hat, ließen sich damit auch
die Minderheiten verunsichern: Jene Muslime, die sich zu selbstbewussten
Deutschen entwickelt hatten, konnte man wieder in die politisch
erwünschte „Opferrolle“ drängen, Unfrieden zwischen den
Bevölkerungsgruppen stiften. So hatte das Establishment auf jeden Fall
etwas vom „rechten Terror“.
MM: Welches Motiv vermuten Sie dahinter,
dass bestimmte Quellen Ihnen ansonsten schwer zugängliche Akten zukommen
lassen?
Prof. Wittmann: Das Motiv kann nur der
Drang zu „Wahrheit und Gerechtigkeit“ gewesen sein. Für diesen ersten
Schritt kann man nur dankbar sein...
MM: Nehmen wir einmal an, es gibt eine
Art Verschwörung von wem auch immer, wie ist es dann zu erklären, dass
die von Ihnen durch einfache Akteneinsicht aufgedeckten Ungereimtheiten
niemandem zuvor aufgefallen sind, weder der Polizei, noch der Anklage
bzw. Staatsanwaltschaft noch der Verteidigung. Schließlich können die ja
nicht alle gleiche Ziele verfolgen?
Prof. Wittmann: Eine interessante Frage,
die ich gerne zu einem späteren Zeitpunkt an die von Ihnen aufgeführten
Stellen richten möchte. Ich kann nur vermuten, dass diese Stellen zwar
das selben Ziel verfolgen, nämlich die Verurteilung von Beate Zschäpe;
die Beweggründe dafür werden allerdings grundsätzlich unterschiedlich
sein. Gerade die Rolle der Verteidigung ist dabei zu hinterfragen, da
die „Schweigestrategie“ der Verfestigung eines unbewiesenen „NSU-Narrativs“
entgegenkommt und den Angeklagten Zschäpe und Wohlleben nicht zum
Vorteil gereicht: Beide sitzen weiterhin in Untersuchungshaft, obwohl es
bislang keinen einzigen harten Beweis gibt. Da gerät aber aktuell
Einiges in Bewegung, gerade was die Herkunft der 9-fachen behaupteten
Mordwaffe Česká 83 mit Schalldämpfer angeht. Geklärt ist da wenig, ein
Skandal innerhalb des Skandals, denn die Dinge hätten seit Beginn der
BKA-Nachforschungen in der Schweiz im Mai 2004 geklärt werden müssen.
MM: Wenn jemand weitere Ungereimtheiten
entdeckt, an wen kann er sich wenden bzw. welche Blogs empfehlen Sie,
die mit einer seriösen Herangehensweise versuchen Aufklärungsarbeit zu
leisten?
Prof. Wittmann: Der Arbeitskreis NSU hat dazu
einen Blog (wer-nicht-fragt-bleibt-dumm.blogspot.de)
und ein Forum (nsu-leaks.freeforums.net)
erstellt, bei dem jeder mithelfen kann, weitere Aufklärungsarbeit zu
leisten, in dem er seine Beobachtung und Einschätzung zum Fall
veröffentlichen kann. Jeder kann sich an uns wenden, ob im Internet,
postalisch oder wie auch immer.
MM: Prof. Wittmann, wir danken für das
Interview. |