MM: Sehr
geehrter Herr Erzpriester Limberger, bitte verzeihen Sie die
Anfangsfrage aus Unwissenheit vieler muslimischen Leser, aber was ist
ein "Erzpriester" und wie kommt es, dass ein Priester verheiratet sein
kann und fünf Kinder hat?
Erzp. Limberger: Nun, ein Erzpriester
ist der ranghöchste, meistens der dienstälteste Priester einer
orthodox-christlichen Gemeinde. So hat unsere Gemeinde in Stuttgart 4
Priester und ich trage diesen Titel als der dienstälteste unter ihnen.
In der orthodoxen Tradition, im Unterschied zur römisch-katholischen,
dürfen Priester verheiratet sein. Die meisten Gemeindepriester sind
faktisch verheiratet. Natürlich gibt es in der orthodoxen Kirche auch
Mönchtum und unter den Mönchen gibt es auch Priester. Diese werden aber
in den Klöstern eingesetzt und betreuen selten städtische Gemeinden.
MM: Und wie wird der Sohn eines
jüdischen Vaters christlicher Priester?
Erzp. Limberger: Mein Vater war zwar
jüdischer Abstammung, aber er übte, da in der Sowjetunion geboren und
aufgewachsen, das Judentum nicht aus. Also wurde ich, wie auch die
meisten Menschen in der Sowjetunion, religiös-neutral, stellenweise
atheistisch erzogen. Erst später, mit etwa 20 und nach zwei Migrationen,
habe ich schon weitgehend selbständig meinen Weg zum christlichen
Glauben und in die Kirche gefunden. Da dieser Schritt für mich damals
sehr wichtig und wohlüberlegt war, folgte darauf eine vertiefende
Weiterbeschäftigung mit dem Glauben, Theologie und Frömmigkeit der
orthodoxen Kirche, was in die Annahme des Priestertums mündete.
MM: Wir sind auf Sie aufmerksam geworden
im Zusammenhang mit dem Engagement Ihrer Kirche gegen die neue
Schulgesetzgebung im Bundesland Baden-Württemberg bezüglich
Sexualerziehung. Was stört Sie daran?
Erzp. Limberger: Es sind mehrere
Überlegungen, die uns veranlasst haben, uns an dieser Diskussion zu
beteiligen. Ausführlich sind unsere Bedenken und Vorschläge im -
mittlerweile offenen - Brief dargelegt, den wir an Herrn
Ministerpräsident Kretschmann und an Herrn Kultusminister Stoch
geschrieben haben. Den Brief kann man
im Internet einsehen. Ich möchte gerne auch
die muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger aufrufen, sich mit dem
Thema auseinander zu setzen und sich gegebenenfalls den Protesten
anschließen. Denn das Thema wird sehr bald auch ihre Kinder erreichen.
MM: Worin bestehen ihre Einwände?
Erzp. Limberger: Die Einwände beziehen
sich auf die Frühsexualisierung der Kinder durch die Schule, auf die
dadurch verletzte Schamgrenze vieler Schüler, auf die staatliche
Bevormundung der Eltern in Sachen der Erziehung ihrer eigenen Kinder und
der Wertevermittlung, auf die komplette Vernachlässigung der Familie bei
Überbetonung der Sexualität in den menschlichen Beziehungen im
vorgeschlagenen Bildungsplan, auf die Unfähigkeit der Annahme eines
solchen Bildungsplanes durch verschiedene Migrantengruppen, was sich als
Hindernis für die Integration erweisen würde. Ergänzend möchte ich noch
hinzufügen, das der vorgeschlagene Bildungsplan das allgemeine
kulturelle Niveau der Schüler und damit der Gesellschaft abzusenken
droht. Wenn dort nämlich davon die Rede ist, die Schülerinnen und
Schüler sollten die homo-, trans- und intersexuelle ¨Kultur¨ kennen
lernen, dann frage ich mich, wie sich diese in die großartige deutsche
und allgemein europäische Kultur von Goethe und Schiller, Bach und
Beethoven, Thomas Mann und Rilke, etc. einfügt. Ich bin nämlich der
Meinung, dass eine tiefere Beschäftigung mit der klassischen
europäischen Kultur vonnöten ist, damit das Kulturniveau der
Gesellschaft nicht absenkt.
MM: Überhaupt scheint Einiges in Ihrer
Kirche anders zu sein, als in den Mehrheitskirchen in Deutschland. Wie
steht Ihre Kirche zum Kopftuch der Frau?
Erzp. Limberger: Es gibt sowohl
Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen der orthodoxen und der
römisch-katholischen bzw. der evangelischen Kirche. Diese betreffen
sowohl die Glaubensinhalte, also die Lehre, als auch die verschiedenen
kirchlichen Bräuche. Was den Kopftuch betrifft, so haben wir den Brauch,
dass eine verheiratete Frau mit einem Kopftuch die Kirche betreten
sollte. Dieser Brauch gehört aber beileibe nicht zu dem Kern unseres
Glaubens oder unserer Frömmigkeit.
MM: Wie wird Ihre Kirche finanziert,
durch Kirchensteuern oder durch Spenden?
Erzp. Limberger: Unsere Kirche wird
ausschließlich durch Spenden finanziert. Am System der Kirchensteuer
wollen wir nicht teilnehmen.
MM: Was empfinden Sie bei der aktuellen
Berichterstattung über Russland?
Erzp. Limberger: Mich stört erstens die
Oberflächlichkeit der (massenmedialen) Berichterstattung. Wichtige
Zusammenhänge, die der Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Lage Rechnung
tragen, werden ausgeblendet, so dass ein sehr einseitig negatives Bild
Russlands entsteht. Dies ist weder im Interesse der deutschen
Bevölkerung noch im Interesse des Landes insgesamt. Dadurch wird dem
Problem nicht Rechnung getragen und die Suche nach Lösungen verhindert.
Zweitens stört mich die selbstverständliche Einseitigkeit, mit der
Russland die alleinige Schuld für die gegenwärtige Lage zugeschoben
wird. Auch dies behindert meines Erachtens die Suche nach Lösungen. Es
stören mich drittens tendenziöse Etikettierungen. So werden die
Aufständischen in der Ostukraine ständig als Separatisten bezeichnet,
obwohl sie viel eher Föderalisten sind. Sowohl in ihrem eigenen als auch
im russischen Diskurs werden lediglich Forderungen nach Föderalisierung
der Ukraine laut, um den Unterschieden in den Gebieten Rechnung zu
tragen, und keinesfalls nach der Abtrennung dieser Gebiete von der
Ukraine.
MM: Welche Themen dominieren Ihre
Gemeindearbeit?
Erzp. Limberger: Die Themen sind sehr
vielfältig. Vordergründig ist es das Gebet, der Gottesdienst, der im
Zentrum des orthodox-christlichen Lebens steht. Dann kommt die Seelsorge
– vertrauliche Gespräche über das Leben, Sinnsuche, Familie und ihre
Herausforderungen, etc. Als nächstes kommen die Taufen – etwa 160–170 im
Jahr – und die Hochzeiten – etwa 25 im Jahr. Diese erfordern zum Teil
eine intensive, mehrstündige Vorbereitung mit den Betroffenen. Natürlich
kommen auch die Beerdigungen dazu. Weiter folgt die Jugendarbeit, die
aus vielfältigen Aktivitäten, wie Religions- und Sprachunterricht,
Ausflügen, Freizeiten, Seminaren, Treffen, etc. besteht. Weiter gibt es
Projekte in der Erwachsenen- und, Familienbildung, zur Unterstützung
älterer Menschen und vieles andere mehr. Besonders zu erwähnen wäre auch
ein Projekt zur Unterstützung schwer kranker Kinder und ihrer Eltern,
die aus Russland, Weißrussland und Ukraine nach Stuttgart zur Behandlung
kommen. In all dem sind wir auf die großartige und selbstlose Hilfe
vieler Ehrenamtlicher angewiesen.
MM: Erlauben Sie uns im Schlussteil noch
einen kurzen christlich-muslimischen Dialog. Gemäß der schiitischen
Richtung des Islam gibt es keinen Unterschied zwischen Jesus und Gott
außer, dass der eine Schöpfer und der andere Geschöpf ist. Aber jeder
Atemzug Jesu (und auch Marias) erfolgten im Namen Gottes und jedes Wort
von ihm, war Gottes Wort. In wie weit unterscheidet sich diese
Vorstellung von der Vorstellung in Ihrer Kirche? Erzp. Limberger:
Auf diese Frage kann ich nur sehr kurz eingehen. Die Unterscheidung –
Schöpfer und Schöpfung – ist für uns Christen fundamental. Wir halten
den Glauben an den Einen Schöpfer aufrecht, der von Ewigkeit her und
außerhalb jeglicher Schöpfung der alleiniger Gott ist in drei Personen –
Vater, Sohn (oder auch Wort oder Logos Gottes, wie Er im
Johannesevangelium genannt wird) und Heiliger Geist – Eine Gottheit, Ein
Wille, Eine Kraft, Eine Liebe. Nicht drei Götter – das sei fern –
sondern einziger Gott in drei Personen. Jesus Christus ist für uns der
Sohn des Vaters, der Mensch geworden ist. Somit haben wir in Ihm die
Brücke zum Vater und erblicken und verehren in Ihm und durch Ihn den
Schöpfer der Welten. Auf die einzelnen Begründungen dieses Glaubens auf
der Grundlage der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments
kann hier nicht eingehen, diese sind aber zahlreich. Es folgt, das sich
die von Ihnen genannten Vorstellungen des Islam und unserer Kirche über
Jesus Christus so unterscheiden, wie sich die Vorstellungen vom Schöpfer
und Geschöpf unterscheiden, das heißt – ziemlich. MM:
Nach muslimischer Vorstellung ist der Mensch erschaffen, um die Liebe
Gottes in der höchstmöglichen Stufe zu erlangen. Da die höchstmögliche
Stufe der Liebe die Freiheit voraussetzt wurde der Mensch "herabgesandt"
(downgegradet), um in der relativen "Entfernung" sich frei für oder gegen
Gott entscheide zu können. Das Neugeborene ist aber sündfrei. Viele
Muslime haben daher Schwierigkeiten zu verstehen, was Christen mit
Erbsünde meinen. Ist es möglicherweise ähnlich zu verstehen wie bei den
Muslimen? Erzp. Limberger: Ich
gehe auf die Frage der „Erbsünde“ aus christlich-orthodoxer Sicht ein.
Ihre Überlegungen zur Freiheit sprechen mich auch sehr an, es würde uns
aber wahrscheinlich zu weit führen. Wir verstehen unter der Erbsünde den
gegenwärtigen menschlichen Zustand der Entfremdung von Gott und Seiner
Erkenntnis und Liebe und die Versklavung unter die Umstände der
Krankheit, Verwesung und Tod, in die Menschen offensichtlich hinein
geboren werden. Die „Erbsünde“ ist keine „Sünde“ im herkömmlichen Sinne
der persönlichen Verschuldung – daher finde ich die Bezeichnung eher
irreführend, sie kommt auch in der Heiligen Schrift nicht vor, sondern
sie ist der Zustand der Fremdheit und Entfernung von Gott. Es folgt,
dass Neugeborene und kleine Kinder sündlos sind, und dennoch der
„Erbsünde“ verfallen sind, da sie in diesen Zustand hinein geboren
werden. Dieser Zustand führt aber den Menschen dann beim Heranwachsen
auch zur Sünde im Sinne der persönlichen Verschuldung. Durch die
Vereinigung mit Jesus Christus in der Taufe, aber auch sonst im Leben
der Kirche, werden Menschen von der Erbsünde befreit, da sie sich in
Jesus Christus mit dem wahren und alleinigen Gott vereinigen, die
Entfremdung überwinden und die Gotteserkenntnis erlangen können, weshalb
sind die Ausführungen zur vorhergehenden Frage so wichtig. Durch das den
Menschen geschenkte ewige Leben sind sie auch nicht mehr Sklaven des
Todes. Das ganze nennen wir „Erlösung“ und bezeichnen Jesus Christus als
den „Erlöser“. Die Erlösung verstehen wir allerdings nicht als einen
quasi automatischen von Gott allein ausgehenden Prozess. Sie erfordert
hingegen eine umfassende persönliche Antwort des Menschen, der zum
intensiven geistlichen Leben aufgerufen wird, durch das er auf allen
Ebenen seines Daseins verändert, verklärt und verewigt wird. Hierin wird
der Mensch ständig durch den Heiligen Geist geleitet und unterstützt.
Die Zeugnisse dieses Prozesses erblicken wir in den Heiligen unserer
Kirche. MM: Sehr
geehrter Herr Erzpriester Limberger, wir danken für das Interview. |