MM: Sehr
geehrter Herr PD Dr. Yousefi, was war der Anlass für das Buch
"Menschenrechte im Weltkontext" ?
PD Dr. Yousefi: Es ist eine Tatsache, dass die gesamte Geschichte der
Menschheit samt den wissenschaftlichen Errungenschaften von den
europäisch-westlichen Wissenschaftlern geschrieben worden ist. Nach
mehrjährigen Forschungen auf dem Gebiet der vergleichenden
Geisteswissenschaften ist mir die Einseitigkeit dieser
Geschichtsschreibung klar geworden. Meine Aufgabe als Wissenschaftler
ist, diese Einseitigkeit offenzulegen.
MM: Was meinen Sie damit?
PD Dr. Yousefi: Ich bin der festen
Überzeugung, dass diese Einseitigkeit ein großes Hindernis des
interkulturellen Dialogs darstellt, weil die Welt aus einer bestimmten
Perspektive heraus betrachtet wird.
MM: Sie beschreiben, dass im Zentrum der
Menschenrechte die universelle Würde des Menschen steht, wie es ja
letztendlich auch der erste Artikel des Grundgesetzes garantiert. Ist
ein Begriff wie "Würde" denn überhaupt definierbar ohne einen religiösen
Kontext?
PD Dr. Yousefi: Ich möchte klarstellen,
dass Religion die Grundlage aller Zivilisation und Tradition ist.
Betrachten wir die Geschichte der Religion, so wird uns klar, dass es
gerade die Religionen waren, die diese Würde im Menschen entdeckten und
es auch Menschen waren, die diese Würde verletzt haben.
MM: Bei der Beschreibung der
Menschenrechte innerhalb der Religionsgemeinschaft haben sie mit
Zarathustratum, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam,
Sikh-Religion, Schintoismus, Freimaurerei, Bahai-Religion, Ahmadiyya,
und Yezidentum ein beachtlich umfangreiches Umfeld berücksichtig. Welche
Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den Religionen im Bereich der
Menschenrechte?
PD Dr. Yousefi: Wie gesagt, alle
Religionen, wenn auch unterschiedlich, fungieren als Hüter der
menschlichen Würde. Sie wollen aus uns bessere Menschen machen und uns
den Weg zur Vervollkommnung zeigen, vom Hinduismus abgesehen, in dem ein
Kastensystem wirksam ist. In allen Religionen, vornehmlich dem Islam,
hat der Mensch Rechte und Pflichten. Rechte gegenüber sich und seinem
Schöpfer gegenüber, und Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen.
MM: Und welche Gegensätze sind zu
überwinden?
PD Dr. Yousefi: Religionen sind per se
sichtbar gewordene Liebe. Die Wortführer der Religionen sind es, die
alleinseligmachende Ansprüche geltend machen wollen. Dies trägt dazu
bei, Menschen anderer Glaubensgemeinschaften nicht als gleichwertig zu
betrachten oder gar zu bekämpfen. Bedenken Sie die Kreuzzüge, die
Inquisition und sämtliche andere Eroberungszüge der Religionen.
MM: Ihre Arbeiten sind ganz
offensichtlich geprägt von Ihrer intensiven Forschung über Gustav
Mensching, über den Sie ja auch eine Schriftenreihe herausgegeben haben.
Kernaussage Menschingt zur Religion war die "erlebnishafte Begegnung
mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten
Menschen". In wie weit ist den der Begriff des "Heiligen" in der
modernen Wissenschaft überhaupt Gegenstand der Untersuchung und heute
noch vermittelbar?
PD Dr. Yousefi: Es gibt mehrere
Traditionslinien innerhalb der Wissenschaft. Phänomenologen halten an
der Kategorie des Heiligen fest, während Philologen diese restlos
ablehnen. Fakt ist, dass die Idee des Heiligen in allen Religionen,
vornehmlich im Islam und Christentum, wirksam ist. Es ist klar, dass die
gläubigen Menschen unterschiedliche Zugänge zum Heiligen haben. Das
Heilige kann im Christentum Jesus und im Islam Allah sein. In den
modernen Wissenschaften ist in der Regel eine atheistische Aufklärung
vorherrschend, die alles kategorisch ablehnt, was mit dem Numinosen
zusammenhängt. In diesem Moment werden die modernen Wissenschaften
fundamentalistisch, weil sie sich als Religionsersatz begreifen.
MM: Besteht nicht genau darin das
Dilemma der Zeit, dass eine atheistische Strömung - sei sie laizistisch
oder säkular - für sich vereinnahmt die Werte definieren zu wollen und
nicht einmal der Wert "Menschenwürde" ohne Religion definierbar wäre?
PD Dr. Yousefi: Ich würde weitergehen und
meinen, gerade daran entzündete sich ein Kampf zwischen Tradition und
Moderne. Letztere versteht sich und propagiert auch die materialisierte
Transzendenz. Dass hier bisweilen eine bestimmte Form von Menschenwürde
per Definitionen verabsolutiert wird, ist ein theoretisches und
praktisches Dilemma, das nur mit der zum Argument gewordenen Macht
gelöst worden ist. Religionen, so meine ich, sind Urheberinnen und
zugleich Hüterinnen der Menschenwürde.
MM: Atheismus ist stark gekoppelt an
Materialismus und damit Kapitalismus? wie kommt es, dass abgesehen von
einigen wenigen "Linken" die Verteidigung der Menschenwürde angesichts
des weltweiten Engagements der Bundeswehr und vieler Verwerfungen der
Zeit immer weniger von der Wissenschaft und den Wissenschaftlern erfolgt
und man das Gefühl erhält, als wenn die Geisteswissenschaften in
Deutschland ausgestorben sind?
PD Dr. Yousefi: Geisteswissenschaftler, die
ich kenne, wie bspw. Otfried Höffe und viele andere verteidigen faktisch
die Menschenwürde nach den Maßstäben des Westens. Andere Meinungen zu
dieser existentiellen Frage werden der eigenen untergeordnet oder
marginalisiert. Es ist schwer, neue Wege zu gehen. Das Wagnis des Neuen
auf dem Gebiet der Menschenrechte und Menschenwürde ist ein heißer
Boden, auf dem man nicht offen reflektieren kann, sondern nur in einem
bestimmten Rahmen, wenn man sich keinen Gefahren aussetzen will. Diese
Problematik habe ich in meinem Interview mit
Irananders unter dem Titel „Eurozentrismus in der Wissenschaft“
eingehend diskutiert.
MM: In unserer Gesellschaft werden
Menschenrechte - zumindest nach Ansicht vieler - doch sehr geachtet;
oder?!
PD Dr. Yousefi:
Dies ist nur bedingt richtig. Der Fall des
US-Geheimdienstlers Snowden hat gezeigt, wie in unserer freien
Gesellschaft mit Menschenrechten und Menschenwürde umgegangen wird. Weil
er amerikanische Spionage weltweit offenlegt, darf kein Land ihm Asyl
gewähren. Stellen Sie sich einmal vor, Snowden würde iranische,
russische oder chinesische Spionage aufdecken. Ich verrate Ihnen kein
Geheimnis, dass er dann vielleicht einen Nobelpreis für seinen Mut
erhalten hätte. Hier sieht man, wie mit zweierlei Maß gemessen wird,
dass Menschenwürde als eine geistige Waffe jede Haltung entwaffnen kann.
MM: Ihre Arbeiten sind sehr
stark an das "Interkulturelle" gekoppelt. Warum erhält ein Weltreisender
in Deutschland das Gefühl, dass Interkulturalität hier besonders
schwierig ist. Deutschland hat keine ausgeprägte koloniale
Vergangenheit. Was eigentlich ein Vorteil beim Umgang mit anderen
Kulturen sein sollte, scheint sich zum Nachteil zu verkehren. Wie ist
das zu erklären und was tut die Wissenschaft dagegen?
PD Dr. Yousefi: Das ist richtig. Wenn es
keine Defizite gäbe, würde ich nicht auf dem Gebiet des Interkulturellen
arbeiten. In einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten, vornehmlich in
„Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen“ habe ich gezeigt, dass
das Bild des Fremden, insbesondere das Islambild, seit der ersten
Koranübersetzung durch Petrus Venerabilis einseitig und konfliktiv
gewesen ist. Wenn man sich mit Menschen in Deutschland unterhält, was
ich seit 23 Jahren tue, stellt man eine feine Persönlichkeit fest, die
aber durch Medien und Politik häufig so eingelullt ist, dass sie
ungefragt Konstrukte als Wirklichkeit auffassen. Dies macht es schwer,
sich für das Interkulturelle stark zu machen. Ernst zu nehmende Projekte
bekommen keine finanzielle Förderung.
MM: Was sind Ihre zukünftigen Projekte?
PD Dr. Yousefi: Seit etwa 15 Jahren arbeite
ich an drei Projekten, die für mich existentielle Bedeutung haben und
ohne die ich nicht wissenschaftlich sein möchte. Ich bearbeite eine
Einführung in die islamische Philosophie von ihren Anfängen bis zur
Gegenwart, eine Einführung in die Grundbegriffe der Völkerverständigung
und ein interkulturelles Wörterbuch. Ohne finanzielle Zuwendung ist es
mir gelungen, diese drei Projekte, wie alle anderen Projekte auch,
voranzutreiben. Für die letzten Schritte dieser drei Projekte fehlen mir
finanzielle Mittel. Ich bekomme deshalb keine Gelder, weil meine
Loyalität nicht einer bestimmten Politik gilt, sondern einzig und allein
einem bedingungslosen interkulturellen Dialog. Meine Unabhängigkeit ist
ein Grund, warum mir finanzielle Unterstützung verwehrt bleibt. Meine
Devise bleibt aber, wo es einen Willen gibt, dort gibt es auch einen
Weg. Ich bin mir sicher, dass die Geschichte der Menschenrechte, wie
alle anderen Geschichten, neu geschrieben werden muss, wenn uns sehr
ernst daran liegt, eine dialogische Völkerverständigung zu betreiben.
MM: PD Dr. Yousefi, wird danken für das
Interview.
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