Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Rainer Oechslen
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Rainer Oechslen, Beauftragter für interreligiösen Dialog und Islamfragen
17.7.2013

Rainer Oechslen (Jahrgang 1955) ist in Leutershausen (Mittelfranken) geboren. Sein Studium der Evangelischen Theologie absolvierte er in Neuendettelsau, Heidelberg, Zürich und Tübingen, um von 1980 bis 1982 das Vikariat in Regensburg anzutreten. Anschließend war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neues Testament der Universität Erlangen und nutzte die Zeit für die 1987 abgeschlossene Promotion mit einer Arbeit über ökumenische Fragen der Paulus-Exegese. 1986 bis 1999 war er als Pfarrer an der Dreieinigkeitskirche in Schweinfurt direkt in die Gemeindearbeit eingebunden und diente im Nebenamt als Studenten- und Gehörlosenseelsorger. Von 1999 bis 2007 war er Dekan in Nürnberg-West und Pfarrer in Nürnberg-Eibach. Seit 2007 ist er Beauftragter für interreligiösen Dialog und Islamfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und ist Kirchenrat. Er hat zahlreiche religiöse Schriften veröffentlicht, darunter zahlreiche Zeitschriftenaufsätze zu Fragen der Praktischen Theologie und des Interreligiösen Dialogs.

Herr Oechslen ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt im Großraum München.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Oechslen, welche Aufgaben verbindet Ihr Arbeitgeber mit der Stelle eines Beauftragten für interreligiösen Dialog und Islamfragen?

Dr. Oechslen: Die Leitung meiner Kirche (der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern) hat für meine Stelle keine Dienstordnung erarbeitet und mir bis jetzt großen Freiraum gelassen. Ich sehe für mich drei bis vier Aufgaben: Der größte Teil meiner Arbeitszeit fließt in theologische Bildungsarbeit in Gruppen, Gemeinden und Konferenzen von Pfarrerinnen und Pfarrern. Der zweite Teil ist Kontaktarbeit mit muslimischen Gemeinden und Organisationen. Ein dritter Teil ist Beratung der Kirchenleitung in Fragen des Islams und allgemein des interreligiösen Dialogs. Dazu kommt als viertes noch politische Arbeit. So habe ich z.B. als einer der Vorsitzenden des Islamforums Bayern auch Kontakt mit staatlichen Dienststellen.

MM: Welche Islamfragen liegen Ihnen denn auf dem Herzen?

Dr. Oechslen: Oben auf liegen zurzeit die gesellschaftlichen Fragen. Wenn der sozialwissenschaftliche Befund stimmt – ich zweifle nicht daran –, dass die Islamfeindlichkeit in Deutschland größer ist als in allen unseren Nachbarländern, dann ist das tief beunruhigend. Wir hatten in Dänemark eine sehr harte Haltung der Regierung gegenüber der Position der Muslime im Karikaturenstreit, wir hatten die völkerrechtswidrige Entscheidung der Schweizer Wählerschaft bei der so genannten „Minarettinitiative“. Und nun wurde 2012 ausgerechnet in Deutschland von vielen Juristen ein Beschneidungsverbot verlangt, das die Juden noch mehr getroffen hätte als die Muslime. Aus der Beschneidungsdebatte wurde sehr schnell eine Debatte über den Status der Religionen in unserer Gesellschaft. Die Argumente stammten dabei zum Teil aus den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts. Ja, einige hochgebildete Diskutanten wiederholten in ihrem Kampf gegen die Knabenbeschneidung sogar Argumente der Nazis - hoffentlich unabsichtlich. So wurden Islamfragen für mich zu Fragen nach Religion und Gesellschaft. Der eigentliche interreligiöse Dialog – also das Gespräch über den Glauben (wobei dies eine christliche Formulierung ist) – trat angesichts dieser Diskussionslage in den Hintergrund.

MM: Bei dem Thema "Dialog" glauben inzwischen viele Aktive auf beiden Seiten, dass es sich nur noch um einen inhaltlosen Modebegriff handelt. Warum gibt es schon lange nicht mehr den echten interreligiösen Dialog, bei dem beide Seiten in aller Deutlichkeit ihre Standpunkte offen legen - selbst wenn diese aufeinanderprallen - um dann geschwisterlich zusammen zu leben?

Dr. Oechslen: Eine erste Antwort habe ich gerade gegeben: Die gesellschaftliche Debatte ist für echten religiösen Dialog sehr ungünstig, weil ein Teil der Bevölkerung nicht mehr weiß, wozu Religion überhaupt gut sein soll. Dazu kommt ein Sachverhalt, der mir unangenehm ist, aber benannt werden muss: Durch vielerlei Faktoren ist die Verankerung auch vieler Christen in ihrem Glauben schwächer geworden. Religiöse Verunsicherung aber mindert die Dialogbereitschaft und fördert den Fundamentalismus, den zurzeit in allen großen Religionen zunimmt, auch im Christentum. Fundamentalismus ist niemals ein Zeichen der religiösen Gewissheit, sondern ein Symptom tiefer Unsicherheit. Ein dritter Faktor ist, dass inzwischen viele, auch religiöse, Menschen dem Satz „Religion ist Privatsache“ – ursprünglich eine kirchenfeindliche Kampfparole – zustimmen. Religion ist inzwischen so privat, dass man so wenig darüber spricht wie vor hundert Jahren über die Sexualität.

MM: Wir haben keine Scheu vor einem echten Dialog und haben daher folgende Frage: Gemäß Christentum ist Jesus Sohn Gottes, wobei sie zusammen mit Jesus den Vater anbeten. Gemäß einer klaren Definition von Imam Chomeini gibt es keinen Unterschied zwischen Jesus und Gott, außer dass Jesus ein Geschöpf ist und Gott der Schöpfer. Worin liegt also der Unterschied?

Dr. Oechslen: Imam Chomeini beschreibt meines Erachtens völlig zutreffend die Position des frühen Islams – und des Judentums – gegenüber dem Christusbekenntnis des Konzils von Nicäa (325). Dort wird gesagt: Jesus Christus ist „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt nicht geschaffen …“ Das Wort „gezeugt“ ist zugegebenermaßen missverständlich. Dem Satz des Korans „Gott zeugt nicht und wird nicht gezeugt“ – nämlich so wie Menschen Kinder zeugen – stimmen wir Christen zu. Wenn unser Bekenntnis trotzdem von der Zeugung Jesu durch Gott spricht, so ist damit gemeint, dass Jesus kein Geschöpf ist wie alle anderen. Er ist „nicht aus dem Blut noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren“ (Johannesevangelium 1,11) – und ist doch der Sohn einer jüdischen Frau, in allem uns Menschen gleich außer der Sünde. Vermutlich könnten das auch Muslime sagen. Wir Christen aber fahren fort: Wäre Jesus ein Geschöpf wie alle anderen, dann könnte er uns nicht befreien von der Misere des Menschseins, dass wir Menschen alle immer wieder das Gute wollen, aber das Böse vollbringen. Wir Christen glauben nicht, dass es genügt „an Gott zu glauben, das Böse zu verbieten und das Gute zu gebieten“ wie es im Koran öfter heißt. Wir glauben, dass der Mensch, um das Gute zu vollbringen, einer Befreiung durch Gott bedarf. Jesus ist der von Gott gesandte Befreier und als dieser Befreier ist er ganz Gott und ganz Mensch.

Ihre Formulierung, dass wir „zusammen mit Jesus den Vater anbeten“ ist übrigens nicht ganz richtig. Wir Christen „beten Gott an durch Jesus Christus im Heiligen Geist“. Das heißt: Jesus Christus hat uns den Zugang zu Gott eröffnet und der Heilige Geist bewirkt in unseren Herzen, dass wir bereit und fähig zum Gebet werden.

MM: Auch Muslime glauben, dass der Mensch nur und nur von Gott gereinigt werden kann. So heißt es in einem besonders markanten Teilvers, der an eine bestimmte Gruppe von Auserwählten Gottes gerichtet ist: "Allah bezweckt die Befleckung von euch fern zu halten, Angehörige des Hauses (des Propheten), und er reinigt euch reinigend." Der Vers bezüglich des Guten Gebieten und Schlechtem Verwehren bezieht sich auf die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Gnade aber - auch die Gnade der Vergebung, der Reinigung, der Buße usw. - kommt ausschließlich von Gott. Wenn also Jesus - wie Sie es beschreiben - in allem so ist wie ein Mensch, außer in der Sünde, dann ist er sozusagen der vollkommene Mensch bzw. ideale Mensche. Und genau als jener wird er auch im Islam gesehen. Und dass der Geist Gottes in jedem Herzen wirkt, ist auch muslimischer Glaube. Ist nicht der wesentliche Unterschied eher im Kreuzestod zu sehen. Während er im Islam gar nicht nötig ist, um Sünden zu vergeben - denn Gott kann die Sünden auch vergeben, ohne jemanden zu opfern; zudem "wem" sollte Gott etwas opfern - so ist der Opfertod ein wesentlicher Aspekt des heutigen Christentums. Warum muss sich Gott selbst Opern, um die Sünden der Menschen zu vergeben?

Dr. Oechslen: Tatsächlich ist der Tod Jesu ein Punkt, an dem viele Missverständnisse entstehen. So hat etwa im 11. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ein Theologe – Anselm von Canterbury – die Theorie entwickelt, dass durch die Sünde der Menschheit Gott in seiner Gottheit verletzt worden sei und dass es deshalb eines unendlich großen Opfers bedürfe, Gott zu versöhnen. Davon steht aber nichts in der Bibel. Deshalb ist es besser, von den beiden Grundaussagen des christlichen Glaubens auszugehen. Einmal: Der unschuldige Jesus ist am Kreuz gestorben. Zweitens: Gott hat sich mit dem Tod Jesu nicht abgefunden, sondern hat ihn auferweckt, hat ihm damit gegen seine Feinde recht gegeben und Jesu Worte und Werke für immer bestätigt. Daraus ergibt sich das Grundparadox des Christentums: Der Verlierer ist in Wahrheit der Sieger. Das gilt für Jesus du für alle, die um ihres Glaubens willen den Tod finden. Nach meiner Einsicht, gibt es hier Berührungspunkte zwischen dem Christentum und dem schiitischen Islam, wobei natürlich auch gewarnt werden muss vor einer falschen Theologie des Martyriums: Nicht jeder, der verfolgt wird und sich auf Gott beruft, hat darum auch schon recht. Die Rede vom Opfertod Jesu aber ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, um auszudrücken, dass Gott den Tod Jesu, der als solcher eine Katastrophe war, in etwas Gutes verwandelt hat. Das Neue Testament kann zum Beispiel auch sagen, dass der Sohn Gottes durch sein Leiden Gehorsam gelernt hat und so zum „Urheber des ewigen Heils geworden“ ist – da ist von einem Opfer keine Rede und doch ist ausgedrückt, dass auch der Schrecken des Kreuzes noch zum Guten dienen muss.

MM: Der Kreuzestod Jesu war Jahrhunderte lang ein Streitpunkt zwischen Juden und Christen, wobei von christlicher Seite dem Judentum vorgeworfen wurde, jene Kreuzigung mitverantworten zu haben. Schafft der Islam hier nicht auch eine Versöhnung zwischen Judentum und Christentum, indem er behauptet, dass die Juden gar nicht schuld am Kreuzestod sein können, da Jesus gar nicht gekreuzigt wurde?

Dr. Oechslen: Von dieser Frage bin ich ein wenig überrascht. Ich habe den entsprechenden Abschnitt der Sure an-Nisaʾ bis jetzt immer so gelesen, dass die Gegner Jesu, die sprachen „Wir haben den Messias Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes, getötet!“ (4:157) mit den Juden – bzw. mit der jüdischen Führungselite zur Zeit Jesu – identisch sind. Es würde mich freuen, von einer besseren Auslegung dieser Qur'an-Stelle zu hören. Denn der christliche Vorwurf an die Juden, sie hätten Jesus gekreuzigt, war durch zwei Jahrtausende eine Quelle des Leides.

MM: Was halten Sie von gemeinsamen Gebeten bzw. von dem, was die Kirche multireligiöses Beten nennt?

Dr. Oechslen: Im Grunde bin ich kein Freund von gemeinsamen Gebetsfeiern, weil ich glaube, dass das Gebet und der Gottesdienst der Stärkung des jeweils eigenen Glaubens dienen sollen. Es gibt aber Situationen, wo solche gemeinsamen Feiern nötig sind. Wenn in einer Stadt wie München Christen und Muslime zusammen leben und eine neue Brücke über die Isar wird in Gebrauch genommen, dann kann es entweder keine religiöse Feier zur Einweihung der Brücke geben oder eine Feier, an der alle beteiligt sind, die in dieser Stadt leben. Oder wenn Schüler und Schülerinnen nach vielen Jahren des gemeinsamen Lernens sich voneinander verabschieden und für die Vergangenheit Gott danken und für die Zukunft Gottes Beistand erbitten wollen, dann soll man Christen und Muslime bei diesem Anlass nicht trennen. Die Verantwortlichen – wie etwa die Religionslehrer – haben dann die Aufgabe, eine Feier vorzubereiten, bei der die Religionen nicht vermischt werden, aber zugleich jeder gläubige Schüler und jede gläubige Schülerin zu Gott beten, ihn bitten und ihm danken kann.

Soweit der öffentliche Aspekt. Dass miteinander befreundete oder verwandte Christen und Muslime sich in ihrem persönlichen gebet zusammenschließen, haben wir Theologen ohnehin nicht zu beurteilen.

MM: Wenn man München als Außenstehender besucht, fallen einem insbesondere im Sommer die vielen Kopftücher in der Innenstadt, insbesondere in teuren Einkaufsstaraßen auf. Sind Münchner toleranter gegenüber dem Kopftuch, weil sie von zahlungskräftigen Touristen getragen werden?

Dr. Oechslen: Ich glaube, die Begründung, die Sie angeben, trifft zu. So wie man nach dem Volksentscheid in der Schweiz kein Minarett bauen darf, aber in der Bahnhofstraße von Zürich die Kunden aus den Golfstaaten willkommen sind, so ist es auch in der Maximilianstraße in München. Man weiß genau: Diese Gäste reisen wieder ab, aber ihr Geld lassen sie da. Mich irritiert allerdings, wenn ich höre, wie ein Teil dieser Gäste die mitgebrachte Dienerschaft behandelt. Die kommt ja etwa aus Bangladesch oder von den Philippinen, ist also „interreligiös“. Wenn ich höre, dass der Diener eines rechen Arabers, der in einer Münchner Klinik behandelt wird, kein eigenes Bett hat, sondern auf dem Flur vor dem Krankenzimmer schläft, dann wünsche ich mir Ärzte, die deutlich sagen: Ein solches Verhalten ist weder mit dem Christentum noch mit dem Islam vereinbar.

MM: Da stimmen wir voll mit Ihnen überein. Ihre Arbeit der gegenseitigen Verständigung findet nicht nur Freunde. Im Internet werden sie regelmäßig von bestimmten Gruppen durch den Kakao gezogen. Wie reagieren Sie darauf?

Dr. Oechslen: Als ich jung war, hatten wir noch Pfarrer und Professoren, die die Nazizeit als Erwachsene erlebt hatten. Diejenigen, die ich am meisten verehrte, waren mehrfach im Gefängnis gewesen, zum Teil auch im Konzentrationslager. Ich sagte mir manchmal: „Deine Lehrer waren Wochen und Monate eingesperrt und du willst Pfarrer sein und bist um deines Glaubens willen noch keinen Tag im Gefängnis gewesen?“ Wenn ich jetzt im Internet ein wenig angegriffen werde von Leuten, die der lebendige Beweis dafür sind, dass der Fundamentalismus aus Unsicherheit kommt, was bedeutet das schon?

MM: Abschließende Frage: Wie soll es weiter gehen zwischen Christen und Muslimen in diesem Land?

Dr. Oechslen: Ich vermute, dass die Säkularisierung unseres Landes fortschreiten und auch die Muslime vermehrt erreichen wird. Das ist einerseits traurig, weil noch mehr Menschen ihre religiösen Wurzeln verlieren werden. Andererseits sehe ich dabei auch einen Gewinn: Ich hoffe, dass auch die Säkularisierung „säkularisiert“ werden wird. Bisher gibt es viele Menschen, die an ihrer Religion deshalb festhalten, weil sie in diese Religion hinein geboren wurden und weil sie diese Religion brauchen, um in einer fremden oder sogar feindseligen Kultur zu überleben. Wenn die Säkularisierung ihren religionsfeindlichen Charakter überwinden wird, wenn Religion als Mittel zur Bewahrung der kulturellen Identität an Bedeutung verlieren wird, dann werden ihre Inhalte wichtiger sein und dann können Christen und Muslime endlich über das sprechen was ihren Glauben wirklich ausmacht.

MM: Herr Dr. Oechslen, wir danken für das Interview.

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