Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Joachim Guilliard
 

Muslim-Markt interviewt
Joachim Guilliard, Betreiber des Blogs "Nachgetragen"
27.6.2013

Joachim Guilliard (Jg. 1958) hat Physik studiert und arbeitet als selbständiger IT-Berater. Er ist seit den 1980er Jahren in der Friedens- und Solidaritätsbewegung aktiv. Sein Schwerpunkt lag zunächst in der Lateinamerika-Solidarität. Unter anderem gründete er 1993 die Cuba Solidarität Heidelberg e.V., deren Vorsitzender er seither ist.

In den 1990er Jahren rückte für ihn - neben Jugoslawien - immer mehr der Nahe und Mittlere Osten in den Fokus. 2001 initiierte er die Initiative gegen das Irakembargo und wurde zusammen mit Hans v. Sponeck deren Sprecher. Im selben Jahr erschien im Papyrossa-Verlag das von im mitverfasste und mitherausgegebene Buch "Der Irak - Ein belagertes Land". Vor Ort in Heidelberg koordiniert er seit 2001 das "Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg". Er war Mitorganisator des internationalen Kongresses "Der Irak Alternativen zu Embargo und Krieg" im Nov. 2002 in Berlin.

Nach einer Reihe von Artikeln im Vorfeld des zweiten US-geführten Krieges gegen den Irak gab er 2003 das Buch "Der Irak - Krieg, Besetzung, Widerstand" mit heraus. Krieg und Besatzung des Irak blieb auch in den folgenden Jahren Schwerpunkt seiner Aktivitäten, mit zahlreichen Artikeln und Buchbeiträgen, der Koordination des deutschen Zweigs der internationalen Irak-Tribunal-Bewegung und der Mit-Organisationen mehrerer Konferenzen und Seminaren. Darunter waren die international Tribunal-Hearings im Juni 2004 in Berlin und im Juli 2005 auf dem Sozialforum in Erfurt sowie die internationalen Irak-Konferenzen "Besatzung - Widerstand - Internationale Solidarität" im März 2005 und "Alternativen zu Krieg und Besatzung im Irak" im März 2008 in Berlin.

Im Rahmen seine nebenberuflichen journalistischen Tätigkeit schrieb er für die junge Welt, Ossietzky, Neues Deutschland, Hintergrund und andere linke Medien zudem über den Nahost-Konflikt, Libyen und Syrien. Seit 2009 betreibt er den Blog "Nachgetragen".

Joachim Guilliard ist verheiratet hat 2 Kinder und lebt in Heidelberg.

MM: Sehr geehrter Herr Guilliard, sie sind seit Ihrer Studentenzeit in der Friedensbewegung aktiv, wie haben Sie Ihre damaligen Ideale, die viele mit Ihnen geteilt haben, über eine so lange Zeit bewahren, während viele andere "abgesprungen" sind? Was motiviert Sie heute noch?

Guilliard: Nun, das Engagement gegen die Kriege, Kriegsvorbereitungen und Interventionen der westlichen Staaten, allen voran natürlich der USA, war für mich immer selbstverständlich. Wir hier in Deutschland tragen schließlich eine Mitverantwortung für das, was unser Land und seine engsten Verbündeten in der Welt anrichten. Die Zahl der Nationen, die von deren verbrecherischen Politik betroffen sind, hat seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ja noch stark zugenommen. In immer schnellerer Folge werden seither Länder angegriffen. Wenn ich sehe, welches Unheil über die Menschen Jugoslawiens, Iraks, Libyens etc. gebracht wurde, brauche ich keine besondere Motivation. Auch wenn es zeitweise sehr deprimierend ist, zu sehen, wie die Antikriegsbewegung, die Proteste dagegen im gleichen Maß, wie die Kriege zunehmen, schwächer werden.

MM: Seit 1993 engagieren sie sich im Verein "Cuba Solidarität Heidelberg" gegen die Hegemonialansprüche der USA. Was hat sich in den letzten 20 Jahren geändert?

Guilliard: Wir haben den Verein gegründet, als Kuba in eine extrem schwierige Situation geraden war. Nach dem Wegfall seiner Handelspartner in Osteuropa und der Sowjetunion entfaltete das von den USA seit 1961 praktizierte totale Embargo gegen die Karibikinsel eine verheerende Wirkung. Überall herrschte nun Mangel, u.a. auch im an sich vorbildlichen Gesundheitssystem oder im öffentlichen Personenverkehr. Wir konnten ein klein wenig zur Überwindung der Probleme beitragen, indem wir z.B. rund 100 Container mit Medikamenten und Krankenhausmaterial beluden, die bei der Auflösung der Zivilschutzeinrichtungen des Bundes frei wurden oder durch 30 Omnibusse aus den Beständen der ehemaligen Verkehrsbetriebe der DDR die wir mit Unterstützung der örtlichen Gewerkschaften sehr günstig besorgen konnte.

Die Situation in Kuba hat sich seither deutlich entspannt. Hinzu kam die erfreuliche Entwicklung in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern, wo sukzessive fortschrittliche Kräfte die Regierung übernahmen, allen voran natürlich in Venezuela mit Hugo Chavez an der Spitze. Das standhaft gebliebene Kuba spielte dabei eine wichtige Rolle. Indem sich diese Länder mit Kuba zusammenschlossen haben, ist die Insel nun nicht nur gut in Lateinamerika integriert, es konnte so auch der Einfluss der USA in ihrem einstigen „Hinterhof“ insgesamt stark zurückgedrängt werden. Überall zeigt sich, welche Entwicklungsmöglichkeiten Länder haben, wenn sie sich die Verfügungsgewalt über ihre Ressourcen zurückholen und einen eigenständigen, an nationalen Interessen ausgerichteten Weg gehen.

MM: Sie sind Koordinator des deutschen Zweigs der internationalen Irak-Tribunal-Bewegung. Müsste jenes Tribunal nicht inzwischen auf fast alle führenden Staatsoberhäupter der Westlichen Welt ausgeweitet werden angesichts der seither initiierten und geführten Kriege?

Guilliard: Natürlich, man müsste im Grunde für jeden dieser Kriege solche Tribunale abhalten. Es gab auch bereits eine Reihe weiterer. So gab es vor den Irak-Tribunalen schon internationale Tribunale über den Jugoslawienkrieg, bei dem u.a. Gerhard Schröder und Joseph Fischer des Führens eines Angriffskrieges schuldig gesprochen wurden. Es wurden auch Tribunale zu Afghanistan durchgeführt, allerdings nicht in dem Umfang und der internationalen Breite wie die zum Irak, und es gab Bestrebungen den Nato-Krieg gegen Libyen in Tribunalen zu untersuchen. Letztere fanden aber leider keine Resonanz in der Antikriegsbewegung der Nato-Staaten, obwohl sie in diesem Fall besonders nötig gewesen wären.

MM: Was ist der Sinn solcher Tribunale?

Guilliard: Sinn und Zweck solcher Tribunalen ist weniger das Fällen von markigen Schuldsprüchen gegen Staatsoberhäupter, die letztlich doch nur symbolischen Charakter haben, sondern eine sorgfältige Aufarbeitung und Dokumentation der Kriege, ihrer Hintergründe und Motive, wie auch der Verbrechen im Krieg und das Ausmaß der Zerstörungen, die Zahl der Opfer etc.. Es geht sowohl darum, durch intensive Recherchen und durch Anhörung von Zeugen und Experten sich innerhalb der Friedens- und Solidaritätsbewegung selbst Klarheit zu verschaffen – hier haperte es ja z.B. im Fall Libyen sehr – als auch Aufklärungsarbeit für eine breitere Öffentlichkeit zu leisten. Schließlich sollten wie die Geschichtsschreibung nicht einfach den Herrschenden überlassen.

MM: Sie schreiben für "linke" Medien nebenberuflich als Journalist. Die Linke Bewegung ist die einzige verbliebene noch zahlenmäßig wahrnehmbare Bewegung im Land, die sich glaubhaft gegen Kriegseinsätze engagiert. Dennoch muss die Bewegung bezogen auf ganz Deutschland als Minderheit bezeichnet werden. Wie erklären Sie sich das. Glauben Sie, dass die deutsche Bevölkerung nach zwei Weltkriegen nicht dazugelernt hat?

Guilliard: Nun, die deutsche Bevölkerung zeigt an sich nach wie vor erfreulich wenig Kriegsbegeisterung. Egal ob es um den Afghanistankrieg, den Irakkrieg oder die Beteiligung an einer militärischen Intervention in Syrien geht, sprachen oder sprechen sich gut zwei Drittel dagegen aus – und dies trotz der geballten Propaganda durch Politik und Medien, die manchmal geradezu gleichgeschaltet wirken. Was sehr stark nachgelassen hat, ist die Bereitschaft, sich aktiv dagegen zu engagieren, dafür auf die Straße zu gehen, Veranstaltungen zu machen, Unterschriften zu sammeln etc..

MM: Wie erklären Sie sich das?

Guilliard: Das hat meines Erachtens mehrere Gründe. Einer ist sicherlich die Berichterstattung. Auch wenn man damit nur bei einer Minderheit Zustimmung für Kriegseinsätze gewinnen kann, so wirken die dadurch geschaffenen – und meist wenig hinterfragten Feindbilder – doch stark demobilisierend: Hinter der übergroßen Projektion eines personalisierten „Bösen“ – dem Tyrannen, Diktator etc. – verschwindet die Bevölkerung und die gesellschaftliche Vielschichtigkeit des betroffenen Landes. Die meisten Leute wollen zwar keinen Krieg, möchten aber auch nicht als Sympathisant des jeweiligen „Schurken“ erscheinen, sei es Milosevic, Gaddafi oder nun Assad.

Hinzu kommt bei Vielen noch ein erstaunlich kurzes Gedächtnis: Auch wenn die Begründungen der letzten Kriege nur wenige Jahre zuvor sich als haltlos erwiesen haben, werden die neuen wieder zu einem guten Teil geglaubt. Gegen jede historische Erfahrung glauben z.B. auch viele Linke, dass die NATO-Staaten in Syrien ausnahmsweise auf der richtigen Seite stehen und sich für einen fortschrittlichen, demokratischen Wandel engagieren.

Zur Bereitschaft für ein Engagement benötigen die meisten Linken zudem eine „gute Seite“, mit der sie sich identifizieren können, so wie mit den Befreiungsbewegungen früher in Vietnam oder Mittelamerika. Das Schicksal der betroffenen Menschen allein motiviert leider nur Wenige, um solidarisch zu sein, insbesondere wenn es sich um Länder und Kulturen in Asien und Afrika handelt, die ihnen fremd und weit weg erscheinen.

Dies umso mehr, als die westlichen Regierungen und Armeen aus den Indochina-Kriegen der USA gelernt haben und seither dafür sorgen, dass keine Bilder und Dokumentationen der Folgen des Krieges, keine Aufnahmen von Bombenopfern, zerstörten Stadtteilen etc. Mitgefühl und Empörung wecken können. – So sahen wir keine entsprechenden Bilder oder Filmaufnahmen aus Afghanistan, keine aus dem Irak und keine aus Libyen. Niemand erhält beispielsweise durch die Medien den Eindruck, in Afghanistan würde ein richtiger Krieg geführt, mit umfangreichen Zerstörungen in den betroffenen Gebieten, wie sie ältere Deutsche noch kennen, und Zigtausenden Toten.

Hinzu kommt vermutlich auch eine gewisse Abstumpfung, nachdem NATO-Staaten in den letzten 14 Jahren einen Krieg nach dem anderen begonnen haben sowie das Gefühl der Machtlosigkeit, da selbst die große weltweite Protestwelle vor dem Überfall auf den Irak 2003 den Krieg keine Sekunde verzögern konnte.

MM: Ja glauben denn die heutigen "Idealisten", dass es ein Kinderspiel ist, gegen Kriegstreiber zu agieren?

Guilliard: Es ist für Viele auf jeden Fall einfacher und wohl auch befriedigender sich gegen greifbarere Missstände zu engagieren, wie z.B. Atomkraftwerke oder unsinnige Bauprojekte, wo man direkt vor Ort protestieren und mit Blockaden und Ähnlichem direkt störend eingreifen kann.

MM: Zurück zu Syrien: Wenn die heutige Linke schon nicht erkennt, welches die "gute Seite" ist, warum erkennt sie denn zumindest nicht, dass ein Bündnis aus USA, Israel, Saudis und Qataris in jedem Fall die verbrecherische Seite ist?

Guilliard: Eine gute Frage. Es beginnt wohl schon damit, dass die Linken und Linksliberalen hierzulande, die den Teil der syrischen Opposition unterstützen, der für einen Umsturz kämpft, eine ganz andere Wahrnehmung der Situation haben. Wer Beiträge dieser Leute in Zeitschriften wie marx21 oder der taz über Syrien liest, der hat den Eindruck, es muss noch ein zweites Land mit dem Namen geben. Geradezu trotzig werden die unterstützten Gruppierungen zur dominierenden Kraft auf Seiten der Assad-Gegner stilisiert, die wacker ihre „Revolution“ vorantreiben. Die Rolle der bewaffneten radikalen und sektiererischen islamistischen Gruppen, der Anteil ausländischer Kämpfer und deren Terror werden klein geredet, wie auch die des von Ihnen erwähnten Aggressionsbündnisses.

Falls die Intervention der Nato-Staaten – besonders zu erwähnen sind hier ja noch Frankreich, England und die Türkei – überhaupt kritisiert wird, dann weit weniger als die gegen diese Intervention gerichtete Politik Russlands. Dabei handelt die russische Regierung, auch wenn sie natürlich auch ihre nationalen Interessen verfolgt, völlig im Einklang mit dem internationalem Recht und dem ursprünglichen Geist der UNO und engagierte sich von Anfang an ernsthaft für eine Verhandlungslösung – ganz im Gegensatz zum westlichen Bündnis.

Andere sehen zwar die verbrecherische Rolle der Nato-Staaten und der Golfmonarchen deutlicher, machen aber dennoch hauptsächlich die Assad-Regierung für den Krieg und die Not im Lande verantwortlich. Sie glauben, man könne auch in einer solch zugespitzten Situation, mitten in einem mörderischen Krieg einen dritten Weg gehen – die Änderung der Machtverhältnisse durch eine gewaltfreie Opposition. Und dies parallel zur „Regime Change“-Agenda der bewaffneten Regierungsgegnern und deren ausländische Sponsoren. Diese Haltung, sich gleichzeitig gegen die imperialistische Aggression wie auch gegen die Regierung des angegriffen Landes zu engagieren, ist nicht neu. Sie war unter anderem auch im Falle des Iraks sehr präsent, wo einige Linken, angetrieben von der dubiosen irakischen „kommunistischen Partei“, selbst die Forderung nach einem bedingungslosen Ende des mörderischen Embargos zu weit ging, da man damit Saddam Hussein unterstütze.

MM: Seit 2009 betreiben Sie ihren Blog "Nachgetragen". Was hat Sie dazu bewegt, einen eigenen Bog zu eröffnen?

Guilliard: Ich habe auch zuvor schon Zusammenfassungen von Artikeln oder sonstige Informationen, Kommentare, Anmerkungen etc. über Email-Verteiler verschickt oder anderen Webseiten zur Verfügung gestellt. Aus manchem, was ich mir so oder auch nur für mich notiert hatte, wurden später richtige Artikel, anderes blieb liegen. Der Blog ist für mich eine gute Möglichkeit Gedanken, Informationen schneller unter die Leute zu bringen, ohne den Anspruch an Form, Vollständigkeit etc., den man an einen richtigen Artikel hat.

Durch die Möglichkeit per Links auf Quellen zu verweisen kann man durch Blog-Einträge, Leute animieren selbst weiter nachzurecherchieren. Niemand ist genötigt das geschriebene zu glauben oder nicht, sondern sich ein eigenes Urteil zu bilden – das finde ich das Gute an Blogs.

MM: Schließen wir den Kreis: Was motiviert Sie heute noch - trotz schwierigerem Umfeld - weiterzumachen im Widerstand gegen Unterdrückung?

Guilliard: Man kann sich das Umfeld ja nicht raussuchen, sondern muss schauen, wo und wie man jeweils am sinnvollsten und wirksamsten etwas tun kann. Wenn ich z.B. sehe, mit welch dreisten Lügen im Fall Syrien der Krieg immer weiter eskaliert wird, wie Israel weiterhin aus Deutschland Unterstützung für seine aggressive Besatzungs- und Apartheidpolitik erhält oder wie auf Druck der deutsche Regierung die Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal ins Elend gestürzt werden, so brauche ich mir um Motivation keine Gedanken zu machen.

Es gibt ja durchaus auch immer wieder kleinere Erfolge und wenn auch die direkten Erfolge selten sind, so können wir, nicht zuletzt auch mit Hilfe der neuen Medien, durchaus korrigierend wirken.

MM: Herr Guillard, vielen Dank für das Interview.

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