Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Sebastian Bahlo
 

Muslim-Markt interviewt
Sebastian Bahlo, Frankfurter Solidaritätskomitees für Syrien
28.8.2013

Sebastian Bahlo (Jahrgang 1982) studierte Mathematik in Frankfurt am Main und beendete sein Studium mit Diplom. Er ist seit 2002 im Internationalen Komitee für die Verteidigung von Slobodan Milosevic (jetzt Internationales Komitee Slobodan Milosevic - Nationale Souveränität - Soziale Gerechtigkeit, www.free-slobo.de) engagiert und gehörte zeitweise dem Verteidigungsteam des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic am "Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien" in Den Haag an. Er arbeitete vor allem als Übersetzer am Buch "Die Zerstörung Jugoslawiens - Slobodan Milosevic antwortet seinen Anklägern" (Zambon Verlag 2006) mit. Ebenfalls für Zambon übersetzte er das Buch "Herr oder Knecht? Über das beispiellose Verhältnis zwischen Israel und den USA" von James Petras. Sebastian Bahlo ist derzeit Referent für Internationale Solidarität des Deutschen Freidenkerverbandes sowie Gründungsmitglied und Sprecher des Frankfurter Solidaritätskomitees für Syrien.

Herr Bahlo lebt in Frankfurt am Main.

MM: Sehr geehrter Herr Bahlo, von Diplom-Mathematikern wird in der Regel angenommen, dass sie logisch denken können. Ist es logisch sich auf die Seite eines von der gesamten Westlichen Welt als Diktator bezeichneten Präsidenten wie Assad zu schlagen?

Bahlo: Da Sie die Mathematik erwähnen: In der Tat wird man als Mathematiker darin geschult, nichts als richtig anzunehmen, das nicht bewiesen werden kann, und dieses Prinzip wende ich auch auf Behauptungen an, die "in der gesamten westlichen Welt" vorherrschend sind. Allerdings kommt man in der Politik mit den logischen Instrumenten der Mathematik nicht weit, denn diese gehen von rein geistigen Grundbegriffen und Axiomen aus, die ihrer Natur nach nicht hinterfragbar sind. Wenn man sich wissenschaftlich mit gesellschaftlichen (oder überhaupt realen) Erscheinungen befasst, muss man sich aber gerade vor solchen "Axiomensystemen" hüten. In Bezug auf Syrien wollen uns interessierte Kreise mittels der von ihnen kontrollierten Medien glauben machen, dass ein Volk gegen einen Unterdrücker kämpft. Schon dadurch, dass in den Nachrichten wie selbstverständlich von der syrischen Regierung als dem "Regime" gesprochen wird und ihre Gegner als "Opposition" bezeichnet werden, wird uns tagtäglich eingehämmert, was wir zu glauben haben. Dabei ist es schon lange kein Geheimnis mehr, dass die der "Opposition" zugerechneten Kämpfer zu einem großen Teil aus dem Ausland mit Waffen versorgt und angeleitet, ja sogar aus anderen Ländern nach Syrien eingeschleust werden, dass sie nackten Terror nicht nur gegen den Staatsapparat, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung ausüben und dass ihre Ziele nichts mit "Demokratie" zu tun haben, sondern, dass sie "für eine Handvoll Dollar" (auch wenn die Währung in Katar anders heißt) die Zerstörung einer modernen Gesellschaft und ihre Spaltung entlang religiöser und ethnischer Linien betreiben. Geld und Waffen kommen aus Saudi-Arabien und Katar, die Türkei gewährt den Terroristen einen Rückzugsraum, die USA und andere NATO-Staaten koordinieren ihre Einsätze und liefern ihnen zu diesem Zweck Kommunikationstechnologie. Israel hat bereits mehrfach direkte Luftangriffe gegen Syrien verübt. Die regulären syrischen Streitkräfte schützen die Bevölkerung vor diesem Terror. D.h., die - immer noch weit verbreiteten - Grundannahmen über den Krieg in Syrien halten den Tatsachen nicht stand. Es handelt sich im Kern nicht um einen Volksaufstand, sondern um einen Krieg der NATO-Mächte im Verbund mit den Golfmonarchien und Israel gegen Syrien. Dass ich mich in dieser Situation - wie Sie es ausdrücken - “auf die Seite Assads schlage”, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Ich bin mit dem syrischen Volk, wie mit allen angegriffenen Völkern, solidarisch in seiner Abwehr dieses Angriffs. Aber diese kann ihm nur gelingen, wenn es sich fest hinter seiner Führung zusammenschließt. Vorausgesetzt, dass die Führung das Volk nicht verrät. Assad hätte jede Gelegenheit gehabt, sich mit seiner Familie aus dem Staub zu machen und sich von den Feinden ein “goldenes” Exil finanzieren zu lassen, wenn er ihnen im Gegenzug Syrien überließe. Dass er das nicht getan hat, sondern - mit allen möglichen Konsequenzen - auf seinem Posten an der Spitze des Widerstands verharrt, sehen viele Syrer und auch ich als heldenhaftes Verhalten an, das ihn erst recht zu einer Integrations- und Symbolfigur gemacht hat. Assad steht nicht nur für die Verteidigung der Souveränität Syriens, sondern auch für die Verteidigung des Säkularismus und der Einheit und Einigkeit des syrischen Volkes. Das ist im Moment die Rolle, die ihm durch die Ereignisse und, weil er den Verrat abgelehnt hat, zugewiesen wurde. Sie anzuerkennen bedeutet nicht, ihn zu vergöttern oder ihm für alle Zeiten blind ergeben zu sein, wie manche Leute gerne argwöhnen.

MM: Worin besteht die Aufgabe und Zielsetzung des Frankfurter Solidaritätskomitees für Syrien?

Bahlo: Wir sind ein sehr breiter Zusammenschluss unterschiedlichster Menschen und Organisationen, die auf politischem, religiösem oder kulturellem Gebiet aktiv sind. Was uns eint, ist die Einsicht, dass gegen Syrien ein imperialistischer Krieg geführt wird, wie ich eben umrissen habe, und natürlich die Ablehnung dieses Krieges sowie die Verurteilung der allgegenwärtigen Medienmanipulationen. Wir wollen durch unsere Aktivitäten teils unsere Auffassung in die Öffentlichkeit tragen, andererseits wollen wir Menschen, die bereits im Stillen zu der gleichen Überzeugung gelangt sind wie wir, ermutigen, sie offen zu vertreten, da sie nicht allein sind. Wir veranstalten regelmäßig Kundgebungen und Diskussions- oder Informationsabende in Frankfurt und rufen gerade zu unserer dritten Demonstration auf. Am 31. August gehen wir mit Gleichgesinnten aus ganz Deutschland anlässlich des traditionellen Antikriegstags (1. September) in Frankfurt auf die Straße unter der Losung “NATO, Golfmonarchien, Israel: Hände weg von Syrien!” Unsere Antikriegstagsdemonstration im letzten Jahr war unsere erste Aktion, die gerade einmal vier Wochen nach unserer Gründung stattfand und mit rund 3.000 Teilnehmern ein bedeutender Erfolg wurde. Auch in diesem Jahr rechnen wir mit einer beeindruckenden Demonstration, denn erstens hat die von der Kriegspropaganda gelieferte Interpretation der Geschehnisse in Syrien im Laufe des zurückliegenden Jahres stark an Glaubwürdigkeit verloren, und selbst Medienorgane, die sie vorher vehement vertreten hatten, mussten sich korrigieren; zweitens wird die Drohung einer direkten militärischen Invasion durch eine US-geführte Koalition immer greifbarer. Gerade jetzt dient der angebliche Giftgasangriff in Ghouta als Vorwand, um die Angriffsvorbereitungen zu verstärken. Und das, obwohl sogar öffentlich starke Zweifel daran geäußert werden, dass die regulären syrischen Streitkräfte einen etwaigen Giftgasangriff verübt haben sollten. Diese mit Händen greifbare Verlogenheit wird viele weitere Menschen wachrütteln. Man ist schon längst kein einsamer “Verschwörungstheoretiker” mehr, wenn man vermutet, dass hier eine grausame Provokation im Auftrag der Kriegstreiber verübt wurde, um ihnen einen Vorwand für die weitere Eskalation des Krieges bis hin zur direkten Invasion zu liefern.

Was unsere Ziele betrifft: Natürlich könnten selbst 10.000 Demonstranten in Frankfurt den Imperialisten nicht das Handwerk legen. Aber jeder muss in seinem Wirkungskreis das ihm mögliche tun, und ich bin sicher, dass unsere vergangen Aktivitäten keinen unerheblichen Einfluss auf die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung des Krieges hatten. In diesem Sinne setzen wir unsere Arbeit zuversichtlich fort.

MM: Sehen Sie Parallelen zu früheren Kriegsfällen; schließlich haben Sie sich auch bei der Aufarbeitung des Jugoslawienkrieges ungewöhnlich positioniert?

Bahlo: Die Kriege, die seit dem Ende des Kalten Krieges geführt wurden und werden, haben viele Gemeinsamkeiten. Sie alle dienten der Unterwerfung souveräner Länder unter das Diktat der imperialistischen Länder unter Führung der USA, wurden aber von gleichgeschalteten Medien als “Befreieungsmissionen” ausgegeben, nachdem die politische Führung der angegriffenen Länder vorher gründlich und unter Verbreitung von allerhand Lügen als Geißel ihrer Bevölkerung dämonisiert wurde. Besonders frappierend sind die Parallelen zwischen den Szenarien, die in den Amtszeiten der “demokratischen” US-Präsidenten Clinton und Obama geschaffen wurden - in Jugoslawien, Libyen und Syrien. In allen drei Fällen wurden innere ethnische oder religiöse Konflikte durch Unterstützung terroristischer Elemente und durch diplomatische Coups sowie das Ausspielen sämtlicher Register der psychologischen Kriegsführung von außen angeheizt, um den Boden dafür zu bereiten, auf einer Seite in den Krieg einzugreifen - vorgeblich zu deren “Schutz”, aber natürlich nicht, um ihr tatsächlich an die Macht zu verhelfen, sondern um instabile, zersplitterte, allein nicht lebensfähige Staaten zu kreieren. Erfunden wurde dieses Vorgehen allerdings schon früher. Ich erwähne in diesem Zusammenhang besonders Hitlers Strategie zur Vorbereitung der Annexion des Sudetenlandes, die darin bestand, von Berlin aus deutschen Terror in der Tschechoslowakei zu unterstützen, um zu erreichen, dass die damalige “Internationale Gemeinschaft” die deutsche Minderheit vor den konsequenten Gegenmaßnahmen der Prager Regierung “schützen” würde.

MM: ... und Jugoslawien ...?

Bahlo: Es würde hier wohl den Rahmen sprengen, detailliert auf die Entwicklung der Kriege in Jugoslawien einzugehen. Zentral ist aber die Feststellung, dass es sich dabei um einen einzigen Krieg ausländischer Mächte gegen Jugoslawien handelte. Anfangs spielte die deutsche Kohl-Genscher-Regierung eine treibende Rolle, vor allem durch die einseitige völkerrechtswidrige diplomatische Anerkennung der kroatischen und slowenischen Separatstaaten. Nach der Wahl Clintons zum US-Präsidenten übernahmen die USA das Ruder in der gewaltsamen Aufspaltung des jugoslawischen Staates. Ihr Hauptfeind war dabei stets die serbische Volksgruppe, denn diese lebte nicht nur in Serbien, sondern auch in Kroatien und Bosnien-Herzegowina in großen zusammenhängenden Gebieten, so dass sie naturgemäß das stärkste Interesse an der Erhaltung Jugoslawiens hatte. Die Aggressoren ergriffen also vorgeblich Partei für die kroatische und bosnisch-muslimische Seite und stellten sie als Opfer eines angeblichen “großserbischen” Wahns dar. Zu diesem Zeitpunkt wurden zum ersten Mal islamistische Terroristen aus den Golfstaaten auf der Seite der NATO eingesetzt - wie später in Libyen und Syrien. Letztlich waren alle jugoslawischen Völker gleichermaßen Opfer des Imperialismus, der sie in einem zerstörerischen Krieg gegeneinander hetzte. Was haben sie gewonnen? Statt einem großen, international gewichtigen Staat gibt es nun viele kleine, ausgeblutete, wirtschaftlich und politisch machtlose Splitterstaaten. Ihre Leser dürften sich insbesondere für das Schicksal der bosnischen Muslime interessieren. Diese haben heute ihren eigenen Staat, aber dessen Verfassung wurde im tausende Kilometer entfernten Dayton beschlossen, sie enthält alle möglichen Regelungen für das direkte Eingreifen internationaler Organisationen in die bosnische Politik und Verwaltung. Darüber hinaus wurde das Amt des internationalen Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina eingeführt, der die Macht hat, jedes Gesetz zu annullieren und jeden Amtsträger abzusetzen. Das Land ist ein Protektorat. Noch schlimmer ist die Situation im Kosovo, das nach dem Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 faktisch von Serbien abgetrennt wurde. Dort herrscht unter dem Schutz der USA, die dort eine riesige Militärbasis errichtet haben, die kosovo-albanische Mafia. Eine vielleicht noch größere Katastrophe droht den Menschen in Syrien, wenn ihr Staat fällt, der seine Stärke nicht nur aus der Koexistenz, sondern aus der organischen Verwobenheit verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen bezieht.

MM: Sowohl die bosnische Gesellschaft, als auch die heutige syrische Gesellschaft sind religiös geprägt (Gegner wie Befürworter). In wie weit kann ein Vertreter des Freidenkerverbandes eine religiöse Gesellschaft überhaupt verstehen und beurteilen?

Bahlo: Ich halte es für ein Vorurteil religiöser Menschen, dass sie davon ausgehen, wer sich vom Glauben abgewandt hat, müsse völlig anders ticken, quasi aus einer anderen Substanz gemacht sein. Das Bestreben, dem Leben einen Sinn zu geben, den eigenen Platz in der Welt zu finden, einen Maßstab für richtiges und falsches Handeln zu haben, sich stets auf das Wesentliche zu besinnen, einem festen Lebensrhythmus zu folgen, das ist allen kultivierten Menschen gemeinsam. Wir Freidenker schöpfen seine Erfüllung nicht aus dem Glauben, sondern aus der rationalen Erkenntnis der Welt und der menschlichen Gesellschaft. Ich persönlich habe große Sympathie und Achtung für alle Menschen, die Religion im genannten Sinne praktizieren, sicher mehr als für die ignoranten Banausen, die einem trügerischen Individualismus frönen und jede Besinnung auf höhere Werte verspotten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich maße mir in der Tat nicht an, die bosnische oder die syrische Gesellschaft vollständig verstehen und beurteilen zu können. Religion ist dafür aber viel weniger ausschlaggebend als die Tatsache, dass ich Deutscher bin.

MM: Zweifelsohne steht der Syrienkonflikt auch im Zusammenhang mit der Besetzung Palästinas. Können derartige Konflikte überhaupt separat betrachtet werden?

Bahlo: Der Krieg gegen Syrien fügt sich in die imperialistische Unterwerfung der arabischen Länder ein, und es ist kein Wunder, dass Israel klar an der Seite der Aggressoren gegen seinen alten Feind Syrien kämpft. Wundern könnte man sich darüber nur, wenn man die jahrzehntelang von den Zionisten verkündete Propaganda, Israel verteidige sich gegen islamistischen Terror, für bare Münze genommen hätte. Denn in Syrien steht Israel an der Seite der schlimmsten salafistischen Terrorbanden. Israel stellt fast seit seiner Gründung einen Brückenkopf des US-Imperialismus in der Levante dar und erfüllt jetzt seine strategische Rolle. Dabei spielen die eigenen zionistischen Interessen eine große Rolle, sind aber meiner Meinung nach nicht ursächlich für die Ereignisse in Syrien. Hier stehen die globalen imperialistischen Interessen im Vordergrund: Syrien unterhält enge Beziehungen mit Russland und beherbergt den einzigen russischen Marinestützpunkt im Mittelmeerraum, es ist der engste Verbündete des Iran, es ist ein wichtiger Partner Nordkoreas, es ist ein Knotenpunkt für den Güterverkehr zwischen Europa, Asien und Afrika. Separat betrachten sollte man keinen Konflikt, allerdings muss man in der Lage sein, auf einzelne Konflikte separat zu reagieren, wie wir es zum Beispiel mit unserem Komitee tun, das sich bewusst nur auf Syrien bezieht. So lassen sich verschiedene Kräfte bündeln, die selbst in nahe verwandten Fragen auseinanderstreben. Angesichts der Bedeutung Syriens bei der imperialistischen Weltkriegseskalation ist es auch notwendig, sich derart auf die Unterstützung des syrischen Widerstands zu fokussieren.

MM: Es ist geschichtlich belegt, dass der Zusammenbruch eines internationalen Finanzsystems mit allerlei Kriegen verbunden ist. In wie weit wird ein solcher globaler Zusammenhang bei der Beurteilung der Syrienkrise berücksichtigt?

Bahlo: Ich betrachte den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Krieg stets als Ausgangspunkt für die Beurteilung militärischer Konflikte. Die kapitalistischen Konzerne brauchen eine gesicherte Rohstoffzufuhr und Absatzmärkte. Wenn das eine oder das andere nicht mehr langfristig gesichert erscheint, laufen ihnen die Aktionäre davon. Wenn die Aktionäre den Konzernen eines Landes davonlaufen, stürzt das Land in die Krise. Zur Sicherung der nationalen Wirtschaftskraft werden politische Maßnahmen zur Sicherung der Rohstoffzufuhr und der Erschließung neuer Absatzmärkte ergriffen. Wenn die politischen Maßnahmen nicht ausreichen, stehen gewaltsame Maßnahmen auf dem Plan. Da gibt es für die Regierungen der wichtigsten kapitalistischen Länder kaum einen Spielraum. Natürlich kann man nicht immer sagen: Land X wird überfallen, um Rohstoff Y zu kontrollieren, im Rahmen der imperialistischen Gesamtstrategie spielen vielfältige Erwägungen eine Rolle. Verschärft wird das durch eine globale kapitalistische Krise, die als Krise des Finanzsystems erscheint, aber ursächlich eine Krise des Produktions- und Verteilungsprozesses materieller Güter ist, d.h. die produzierten Waren werden nicht verkauft, die Aktien sinken, die Wetten auf die Aktien und die Wetten auf die Wetten, alles zerplatzt, Banken und Fondgesellschaften gehen pleite. Jetzt wird es für die Menschheit besonders gefährlich, denn in dieser Situation ist Krieg der einzige Ausweg und das einzige noch lohnende Geschäft. Dass wir uns gegenwärtig in so einer Krisenperiode befinden, muss tatsächlich bei der Beurteilung des Krieges gegen Syrien berücksichtig werden: Das Handeln der Imperialisten wird nicht mehr nur durch nüchterne Abwägung ihrer Möglichkeiten und der Möglichkeiten ihrer Gegner und eine Kalkulation zu erwartender und in Kauf zu nehmender Verluste sowie vorausschauende Analysen bestimmt, sondern durch den ökonomischen Druck sind auch unüberlegte Schritte denkbar. Während jeder vernünftige Mensch den USA von einer direkten Invasion Syriens abraten würde, angesichts der Erfahrungen in Irak und Afghanistan, angesichts der Erfolge des syrischen Streitkräfte und angesichts der Gefahr eines Krieges mit Russland, so kann man nicht sicher sein, dass die politische und militärische Führung diesen Argumenten den Vorrang geben wird, wenn das Kapital nach der Frischzellenkur des Krieges ruft. Derzeit sieht es in der Tat so aus, als ob ein solcher direkter Angriff kurz bevor steht.

MM: Was kann ein Deutscher tun, um das zu verhindern?

Bahlo: Bahlo: Wenn Sie mit Deutschen normale Bürger meinen, so lautet die Antwort: Nichts. Die deutsche Regierung ist mit im Boot der Aggressoren, selbst wenn sie sich auch zurückhaltend gibt, was teils mit ihren eigenen kolonialen Interessen in der Region, teils mit Rücksichtnahme auf Russland zu tun hat. Die Stimmen der Kriegsgegner sind nicht einmal laut genug, um wenigstens in Wahlkampfzeiten auf die Bundesregierung einwirken zu können. Wir können unmittelbar nichts tun, um einen direkten Angriff der Aggressoren gegen Syrien zu verhindern, so wie wir bisher nichts tun konnten, um ihre indirekten Angriffe zu verhindern oder zu beenden. Und doch macht es einen Unterschied, ob sie ihre Verbrechen ohne Protest begehen und ihre Lügen ohne Widerspruch verbreiten können oder nicht. Wenn ihre Macht absolut wäre, hätten sie es dann nötig, ihre Verbrechen mit so aufwendig gestrickten Lügen zu verbrämen? Wenn sie tatsächlich alles tun könnten, was sie wollen, wozu existiert dann die ganze Propagandaindustrie? Dass sie nicht einfach sagen: Und jetzt reißen wir uns Syrien unter den Nagel, sondern sich so viel Mühe geben, ihre Taten als moralisch gerecht erscheinen zu lassen, beweist klar, dass sie dem öffentlichen Bewusstsein große Bedeutung beimessen. Und indem wir auf diesem Feld wirken, üben wir Einfluss auf die Ereignisse aus. Der NATO-Krieg gegen Libyen 2011 folgte demselben Muster, das wir in Syrien sehen: Bewaffnete Banden wurden von außen unterstützt, um einen vermeintlichen „Volksaufstand“ zu inszenieren, als die regulären Streitkräfte kurz vor dem Sieg über die Terroristen standen, griff die NATO fünf Monate lang direkt aus der Luft an. Es gab damals überhaupt keinen nennenswerten Protest in den verantwortlichen Ländern, und wenn, dann war er bis auf wenige Ausnahmen (etwa seitens unseres Freidenkerverbandes) zaghaft und darum bemüht, die Darstellung der NATO-Propaganda nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Vergleich dazu hat der Protest gegen den Krieg gegen Syrien hier bei uns schon eine neue Qualität. Er wird natürlich immer noch von sehr wenigen scharfsichtigen und mutigen Menschen getragen, aber er bildet die Voraussetzung dafür, dass der weiteren Eskalation des Weltkrieges noch größerer Protest entgegengebracht wird, und, je näher der Krieg an unsere Haustür kommt, desto mehr Menschen, die sich bisher an solchen heiklen Themen nicht die Finger verbrennen wollen, werden die Wichtigkeit des Protests erkennen. Aber eine solche breite Protestbewegung kann nicht aus dem Nichts entstehen, ihre Entwicklung durchläuft verschiedene Stadien, und wir haben die Aufgabe, sie in ihrem derzeitigen Stadium voranzutreiben.

MM: Wofür und/oder wogegen richtet sich die bevorstehende Demonstration am kommenden Samstag (31.8.2013) in Frankfurt?

Bahlo: Letztes Jahr haben wir am Antikriegstag gegen die Einschleusung von Söldnerbanden nach Syrien zum Zweck der Zerrüttung von Staat und Gesellschaft demonstriert, was wir als Krieg gegen Syrien, wenn auch mit indirekten Mitteln anprangerten. Wir drückten unsere Solidarität mit dem syrischen Volk und seiner Regierung in der Abwehr dieser Aggression aus. Dieses Jahr war die Situation schon während unserer Vorbereitungen verschärft, da die USA sich offen zur Unterstützung der Terroristen bekennen, und Israel mehrere Luftangriffe gegen syrische Ziele verübt hat. Unsere Losung heißt deshalb „NATO, Golfmonarchien, Israel: Hände weg von Syrien“. Wir fordern unter anderem wie im letzten Jahr das Ende des Söldnerkrieges, das Ende der Sanktionen gegen Syrien, und insbesondere von Deutschland den Rückzug der Patriot-Raketen aus der Türkei sowie - eine allgemeinere, aber sehr wichtige Forderung - Deutschlands NATO-Austritt. Durch die aktuelle Entwicklung rückt natürlich der Protest gegen den offenen Angriffskrieg, der am Samstag vielleicht schon begonnen haben wird, in den Vordergrund. Er wird auch Menschen dazu bewegen, mit uns auf die Straße zu gehen, die unsere Bewertung der zurückliegenden Kriegsphase nicht geteilt haben.

MM: Was geschieht mit dem Solidaritätskomitee für Syrien, wenn der Syrienkonflikt überstanden ist oder - Gott bewahre - Syrien ein ähnliches Schicksal erlebt wie Afghanistan oder Libyen?

Bahlo: Ein Szenario, in dem seine Existenz obsolet würde, ist derzeit nicht in Sicht. Das Komitee wird im Zusammenhang mit unserer Demonstration erst einmal Zulauf gewinnen und mehr Gewicht erhalten, da es deutschlandweit die einzige Organisation ist, die dem Krieg gegen Syrien, der nun drastisch eskaliert wird, frühzeitig die entsprechende Bedeutung beigemessen und die Tradition der Antikriegstagsdemonstrationen wiederbelebt hat, die in den letzten Jahren mehr und mehr eingeschlafen war. Auf diese Schwäche wird jetzt ein grelles Schlaglicht geworfen, indem der offene Angriffskrieg gegen Syrien sozusagen pünktlich zum Antikriegstag entfesselt wird, wenn Sie mir diese sarkastische Bemerkung erlauben. Wie auch immer die Zukunft des Komitees konkret aussieht, es hat bewiesen, dass es möglich ist, ein erfolgreiches Bündnis aus Personen und Organisationen zu schmieden, die hinsichtlich ihrer Herkunft, ihrer politischen und weltanschaulichen Überzeugungen und Ziele sehr unterschiedlich sind. Aus dieser Erfahrung kann man auch auf anderen Kampffeldern schöpfen, und das ist das bleibende Verdienst des Komitees.

MM: Herr Bahlo, vielen Dank für das Interview.

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