Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. Claudio Lange
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Claudio Lange - Autor des Buches "Der nackte Feind - Anti-Islam in der romanischen Kunst"
28.3.2012

Dr. Claudio Lange wurde 1944 in Santiago de Chile geboren und kam 1963 nach Europa. Er studierte u.a. mit einem Stipendium des DAAD 1967 an der Freien Universität Berlin Religionswissenschaft, worin er 1972 zu "Kolonialismus: Zeugnis von Bartolomé de Las Casas" promovierte. Nach seiner Rückkehr nach Chile musste er wegen des Militärputsches von General Pinochet 1973 wieder aus der Heimat fliehen, wohin er bis zu seiner Amnestie 1983 nicht zurückkehren durfte.

Seit 1989 erforscht Dr. Lange die Renaissance christlicher Kirchenskulptur im 11. Jahrhundert, die er als Unterwerfungspropaganda gegen den Islam unter das militärisch in den Kreuzzügen virulent gewordene Christentum interpretiert. Claudio Lange gelingt der Nachweis dieser steinernen Bildpolemik im Kreuzzug an christlichen Kirchen in verschiedenen Publikationen. In einem Dokumentarfilm entwickelt er seine ikonographische Typologie des Feindbildes, die für die politische und kulturelle Identität des christlichen Europas bis heute von Bedeutung ist.

Claudio Lange ist Maler, Autor mehrerer Gedichtbände, Essays und Bücher, u.a. "Der nackte Feind - Anti-Islam in der romanischen Kunst" (Parthas, 2004), kommentierter Fotokatalog zur 9-monatigen Ausstellung im Pergamon Museum. Siehe dazu auch seinen Dokumentarfilm (mit C. Josten) "Der nackte Feind" (ZDF, 2004).

Claudio Lange hat zwei Kinder und lebt seit 1975 als freier Künstler in Berlin und Andalusien. Das unten eingefügte Bild wurde freundlicherweise von Claudio Lange zur Verfügung gestellt.

MM: Sehr geehrter Herr Lange, in Ihrem bereits 2004 erschienen Buch weisen Sie an verschiedenen Beispielen nach, wie Muslime in der mittelalterlichen Kirchenkunst "entmenschlicht" dargestellt wurden. Was war die Motivation zu Ihrer Forschung?

Dr. Lange: Ich kannte von Abbildungen in Büchern eine Skulptur, die, wie mir schien, Muslime darstellte. Neugierig geworden, wollte ich mir alte Kirchen ansehen, was ich noch nie gemacht hatte. Es gelang auch (1989), die Kulturstiftung von Herrn I. P. Reemtsma für mein Projekt zu gewinnen. Dann traf ich ganz unvorbereitet in Südfrankreich und Nordspanien auf diese Skulpturen, fotografierte sie, ohne noch zu wissen, wen oder was sie darstellten. Meine naive Suche nach Auskunft in der Fachliteratur sollte bald darauf zeigen, dass die wissenschaftliche Literatur methodisch Pornographisches und Gewalttätiges übergeht, somit eine moralisierende, "christliche" Wissenschaft war. In den Texten wurde manchmal behauptet, an solchen Skulpturen hätten Anfänger ihr Handwerk gelernt; manchmal sprachen sie auch vom Karneval oder vom Österlichen Lachen. Konsens blieb jedoch, diese Skulpturen seien apotropäisch, hätten Dämonen von Christen fernzuhalten gehabt, obwohl sie kurz nach dem ausgebliebenen Weltuntergang im Jahr 1000 n.Chr. entstanden waren. Nach drei Forschungsjahren war jede Fremdfinanzierung zu Ende. Seitdem finanziere ich das Projekt selbst mit Hilfe von Freunden. Ich habe keine Professur, habe sie weder angestrebt noch wurde sie mir angeboten. Was ich sage, ist oft neu und untersteht dem Copyright. Ich versuche, wenig zu wiederholen. Mein Arbeits- und Forschungsplatz ist ein erweitertes, unberechenbares Künstleratelier.

Kurz: Motivation für meine Untersuchung war die Faszination durch diese auch mir rätselhaften Kirchenskulpturen, von denen die meisten nichts wissen (wollten). Als Religionswissenschaftler hat mich zudem der desolate Informations- und Forschungszustand interessiert.

MM: Wo kann ein Besucher deutscher Kirchen deutliche Beispiele Ihrer Erkenntnisse finden? Worauf muss er beim Besuch historischer Kirchen achten?

Dr. Lange: Da die Kreuzzüge von französischen Cluniazensern und deren Päpsten parallel zu einer Kirchenreform konzipiert wurden - der Erste wurde 1095 in Frankreich ausgerufen -, entstand konsequenterweise der bildliche Antiislamismus in Frankreich (Dijon); die gegen den Islam kämpfende spanische Reconquistakirche kam bald hinzu. In der frühen Skulptur Deutschlands spielt der bildliche Antiislamismus kaum eine Rolle, obwohl die Ottonik durchaus eine Avantgarde politisch umfunktionierter religiöser Kunst war. Doch die in Stein gegen den Islam entwickelte Bilderschrift hatte in Deutschland eine gewandelte Fortsetzung: Nach dem Prototyp des Antiislamismus entstehen nun Bilder im Dienst von Anti-Semitismus, Anti-Slawismus (Ostkreuzzüge, Roland) und Anti-Häresie. Es gibt Ausnahmen und punktuellen Antiislamismus in Bayern, Sachsen, Österreich oder der Schweiz. Italien zeigt beides, Polen, Tschechien, Ungarn, dank der Nähe zu den Ottomanen, zeigen wiederum klarere antiislamische Kampfbilder.

Man findet in Deutschland also originelle Fortbildungen der antiislamischen Bilderschrift, ob antihäretisch (Doppelwesen = Dualisten), antisemitisch (Obszönes, Judensau), in den Domen von Brandenburg, Quedlinburg, Halberstadt und deren Museen. Beispiel für abgeleiteten Anti-Slawismus sind die Rolandstatuen in Norddeutschland. Roland, in den Rolandsliedern (seit 1100) Held im Kampf Karls des Großen in Spanien gegen den Islam, wurde zwar von heidnischen Basken getötet, gilt aber als christliches Opfer im Krieg gegen die Muslime. Der Roland von Bremen steht nun, ganz nach antiislamischer, triumphaler Manier, auf einem Menschen: einem unterworfenen Slawen (oder Sachsen).

MM: Gibt es so etwas auch in Museen?

Dr. Lange: Ja, in deutschen Museen finden sich zahlreiche gemalte Bilder mit der klassischen antiislamischen Message, ob in Köln, München oder Berlin. Hässliche Figuren mit Oberlippenbart, anderer Hautfarbe, Krummsäbeln, Turbanen, arabisch beschriebenen Fahnen; bei Auferstehungs-, Höllenfahrt-, Geißelungs- und Anbetungsszenen. Der Islam, seit 1187 wieder Herr über Jerusalem, dem christlichen Nabel der Welt, wird entweder als besiegter, als besiegbarer Peiniger des Christentums, als unterworfen oder als missioniert dargestellt.

Da die zeitgenössische Literatur häufig Juden und Muslime zusammenwirft, Muslime andrerseits als Heiden oder Ketzer bezeichnet, wird man manchmal Antisemitisches, -ketzerisches oder -heidnisches antiislamisch deuten können und umgekehrt. Mehr Tipps kann ich nicht geben, man muss sich die Sachen anschauen und in ihrem konkreten Zusammenhang deuten. Ein Turban mag einen Muslim, einen Muslimfreund, einen, der einer Turbanmode folgt oder einen militanten Feind der Muslime, der den Turban als Trophäe trägt, kennzeichnen. Türken und Wikinger wurden mit Oberlippenbart dargestellt. Fernando de Aragon, der antisemitische, antiislamische spanische König, trug selbst einen. Zur Deutung hilft, wenn verschiedene Merkmale gehäuft auftreten: Schnurbart, Krummsäbel, Obszönität etc. Gleichwohl genügt eine einwöchige Reise durch Kirchen und Museen, um auch dem abgehärtetsten Publikum die Augen zu öffnen. Anschließend wird es sich dann mit der Deutung dieser Skulpturen selbst einigermaßen zurechtfinden.

MM: Welchen aktuellen Bezug sehen Sie in Ihrer Forschung? Wenn damals die Kultur zum "Heiligen Krieg" der Kreuzzügler missbraucht wurde, was können wir für heute daraus lernen?

Dr. Lange: Uns allen steht heute radikales Umdenken bevor, bisher identitätsbildende Geschichten müssen neu und anders erzählt werden. Alle betroffenen Seiten werden sich "umprogrammieren" müssen oder das Ding (oder den Widerstand gegen das Ding) gegen die Wand fahren.

Man muss hier zweierlei sehen. Erstens habe ich neue Interpretationsansätze zu Phänomenen und dem daraus folgenden Selbst- und Fremdmissverständnis entwickelt, die die offizielle Wissenschaft bisher nicht in den Blick bekam. Mein Verständnisbeitrag zur Frage, was im 11. Jahrhundert im Westen passiert, führte und führt mich noch heute zu spannenden neuen Lösungen auf vielen Gebieten. Beispiel: Nach meiner Lesart stellt das Jahr 1187, da die Christen Jerusalem an die Muslime wieder verloren, (die Stadt war nach dem Massaker von 1099 88 Jahre unter Kreuzzüglerherrschaft), ein entscheidendes Datum, dabei ein von der Wissenschaft völlig unterbewertetes Ereignis dar. Es markiert im Westen den Tod seiner bisherigen Idee Gottes. Um 1187 setzt eine tiefe Krise sowie eine Zeit ein, die ein neues Gottes- und Kirchenbild erfinden muss. Unterstützt durch die, aus westlicher Sicht tröstlichen, Plünderung Konstantinopels (1204) wurde eine neue Jungfrau, neuartige Kirchen, eine neue Kunst, neue Liturgien und Kirchenhierarchien entworfen und durchgesetzt. Dem Westen gelang es, seine ungeheure Depression antizyklisch zu einem Wettrennen zu machen. In der sogenannten Gotik wird es vor allem darum gehen, die ehemals antiislamischen Kreuzzüge nach innen, gegen Juden, gegen andere Christen zu führen, und sich in immer neuen innerchristlichen Bürgerkriegen zu verstricken. Es ging, nach dem Verlust Jerusalems, wesentlich um die Frage, wer am schnellsten die höchsten Kirchtürme und –gewölbe baut. Die Gotik ist eine heftige Reaktion eines tief erschüttertes Selbstbewusstsein. In ihr geht es um Rekorde, das hat bis heute nicht aufgehört. Was da mitgesagt ist, ist, dass Europa, durch unterschiedliche Erfahrungen mit dem Islam geprägt, diese Erfahrungen und Schicksale heute noch polemisch oder verniedlichend "christlich" interpretiert und dass die Zeit da ist, das zu korrigieren. Im 2. Viertel des 11. Jahrhunderts hatte im Westen eine komplexe, auch auf Skulpturenbilder bezogene Revolution begonnen (Kirchenreform, Troubadoure, Entwicklung neuer Musikschrift, die zu Polyphonie führt, weitere neue Technologien, Einführung des gottgewollten Krieges). Diese Kulturrevolution wissenschaftlich aufzuarbeiten, deren Teilaspekte eng oder locker miteinander zusammenhängen, wird das Selbstbild der Christen und das des Islam am Ende unweigerlich verändern. Dabei spielen die Steinbilder eine große Rolle. Sie dienten, vor und neben der Feier des Schönen dazu – triumphalistische Bildertraditionen sind archaisch, kommen dann über Persien, Rom und Griechenland in den Westen -, den Gotteskrieg gegen den Islam zu befördern. Und eben diese und Bilder überhaupt werden als solche von den Betroffenen abgelehnt und nicht zur Kenntnis genommen. Juden, Häretiker und Muslime sind bilderfeindlich. Sie haben folgerichtig den Westen, soweit dieser als gigantisch talentierter, origineller Bilderproduzent auftrat, zum eigenen Schaden nie verstanden.

MM: Sie haben Ihre Erkenntnisse ja nicht nur in Form eines Buches veröffentlicht, sondern gestalten auch Ausstellungen und Referate zum Thema in Deutschland. Wie ist die Resonanz auf ihren nicht unkritischen Vorwurf?

Dr. Lange: Ich sitze, wie Sie gleich noch besser sehen und verstehen werden, durchaus zwischen allen Stühlen. Wo mir das aber gelingt, ist mein Künstleratelier. Ich habe einmal gesagt, das Atelier sei einer der entscheidenden (Zwischen-) Räume, die der Westen für sich und die Welt geschaffen hat. In einer aufgeheizten, autoritären, dummen, rückständigen, kommerziellen, korrupten Weltkulturatmosphäre und islamischen Regimen, die oft genug mit dem Westen befreundet sind, blutige innerislamische, innersemitische Kriege und auch solche gegen den Westen führen, inmitten der gnadenlosen Ölpolitiken hat es zumal eine Kunstgeschichte nicht leicht, wenn sie in ihrem Gebiet auf den christlich-islamischen Konflikt trifft. Dann kommt auch sofort von allen Seiten der Vorwurf, dies oder das würde "Öl ins Feuer gießen", wenn es darum geht, eine Chance zu nutzen, Diskussionen am Schnittpunkt zwischen Westen und Islam wissenschaftlich neu zu strukturieren.

MM: Wie reagieren Muslime?

Dr. Lange: Moderne islamische Gelehrte entbehren meist Eigenschaften, die jemanden zu einer erneuernden Kunstgeschichte geeignet machen. Nicht nur haben sie kaum Wissen und Erfahrung von der Existenz jener Skulpturen, noch von der Rolle von Kunst und Bildern in der Geschichte. Sie teilen darüber hinaus einfach die falschen Überzeugungen über Religion und Kunst, wie sie im Westen im Schwange sind.

Ein prinzipielles Wort dazu sei erlaubt. Während im Islam im 7. bis 12. Jahrhundert (christlicher Zeitrechnung) schriftliche Quellen der griechischen Antike mehr oder minder unbefangen gelesen und übersetzt wurden, hat der Islam die Bilder und Skulpturen (und das Theater) der Antike für sich tabuisiert. Das Beerben samt Bäder und Architektur der Antike blieb, was die bildende Kunst angeht, "einäugig". Das hat für den Islam, dem größten Erben antiker Schriften, noch vor Rom und dem Christentum, bis heute Folgen. Eine von den Bildvitaminen entleerte Antike konnte im Islam nicht dauerhaft Fuß fassen. Einer auf Texte kaprizierten Erbschaft der Antike entgeht die innerste Funktionsweise dieser und jeder anderen Kultur, besonders hier, wo neben außergewöhnlichen Bildnissen Wissenschaft, Demokratie, Philosophie und Einsichten in die Triebschicksale von Matriarchat und Patriarchat möglich wurden.

Wie skulpturelle Nacktheit, in Griechenland seit dem 5. Jahrhundert an männlichen Athleten orientiert, den innergriechischen Säkularisierungsprozess vorantrieb, ist ohne Kunst und deren Geschichte nicht vorstellbar. Griechische Säkularisation funktionierte unter anderem nicht einfach durch Entmachtung von Göttinnen durch den einen Gott, sondern indem etwa Kunst ihren neuen Schönheitsschleier (und Riegel) über mächtige heidnischen Göttinnen warf, ästhetisch-triebhafte Ergriffenheit an die Stelle der heiligen trat.

Ist die Bedeutung der Frage nach der historischen Energie von Kunst in der Menschheitsgeschichte deutlich, wird das Trennen von Denken und Bilden zur Ideologie. Das gilt besonders bei einer Kultur, wo derart hervorragend in Marmor gebildhauert und auf Vasen gemalt wurde, was das gesamte Mittelmeer damals und uns heutige ebenso begeistert hat.

MM: Sie ziehen also eine direkte Verbindungslinie zwischen Kunst und Philosophie?

Dr. Lange: Sokrates selbst hat als Bildhauer angefangen, besuchte dann Künstlerateliers (s. Xenophon). Platon dachte über Poesie und Schattenbilder, Aristoteles über das Theater nach. Euripides entdeckt in seinen Stücken die "weibliche Psyche", der Bildhauer Praxiteles hat mit der ersten vollständig unbekleideten Aphrodite, die das meistkopierte Götterbild des Altertums wurde, das Porträt der Hetäre Phryne, seiner Geliebten, Modell und Auftraggeberin, zu ewiger Berühmtheit verholfen. Schon in Griechenland passierte in der Bildproduktion zivilisationsgeschichtlich Entscheidendes, was mit der Erosion der Götter zu tun hatte.

Hitlers Kampagne gegen "Entartete Kunst" ist heute wieder offen oder heimlich populär, entspringt sie doch deformiertem, wenn nicht inexistentem Geschichtsverständnis. Diesem zu begegnen, ist ohne freie Kunst nicht möglich. Konflikte um Bilder haben eine bemerkenswerte Energie. Man geht damit nicht ungestraft um, indem man sie verbieten will.

Eine Kunstgeschichte, die den Islam weder im Guten noch im Bösen nicht ausgrenzt, trifft, bei der, wie dargelegt, auf allen Seiten herrschenden Bilderblindheit, auf folgende Schwierigkeit. Da sind schon mal terminologische Verwirrungen. Ein Name wie "Mittelalter" ist irreführend – und er wird wohl darum auch weiter verwendet. Er kam in der Hochrenaissance (um 1500) auf, um eine zurückliegende Zeit neutralistisch zu bezeichnen. Nämlich die, zwischen dem Erscheinen Mohammeds und dem 13. Jahrhundert, als das gelungene antizyklische Experiment Gotik einer anderen Renaissance zuneigte (Giotto, Petrarca). Richtig für jene sechs Jahrhunderte (vom 7. zum 13.) wäre eine Bezeichnung wie "Erstes christlich-islamisches Zeitalter".

Antiislamische Kreuzzüge begleiteten und beförderten die innere Befriedung christlicher Länder bei großen kirchlichen Reformvorhaben. War der Islam als äußerer Feind Nr. 1 – wer hätte sonst dazu dienen können? - ausgemacht und deutlich plakatiert, waren die inneren Konflikte abgefedert. So erscheinen seit 1030 nach und nach in französischen Kirchen, an Kapitellen, später Kragsteinen, Konsolen, später noch an Wasserspeiern und Chorstühlen seltsam archaische, unglaubliche Steinskulpturen.

Unglaublich ist da Mehreres: Vor allem, dass diese Bilder keine Scham- und Gewaltgrenzen kennen. Das macht sie, vor aller Erklärung oder Einschätzung, zum kunsthistorischen Ereignis ersten Ranges. Beim zweiten Hinsehen wird jede solch extrem politisierte "Kunst" oft als Kunsthandwerk und Kunstgewerbe erscheinen, und nicht als Kunst.

Unglaublich ist aber weiterhin etwas anderes. Diese Skulpturen – ihre Zahl geht in die Hunderttausende in Dutzenden von Ländern - , die man im 19. Jahrhundert "Romanik" taufte, weil sie angeblich an Rom anknüpften, sind von keinem einzigen schriftlichen Text jemals legitimiert oder erklärt worden. Wir besitzen wie zum Hohn nur einen berühmten Brief von Bernard de Clairvaux, einem der mächtigsten und bilderfeindlichsten Männer seiner Zeit, der fragt, was diese merkwürdigen Skulpturen in Kirchen und Klöstern zu suchen und zu bedeuten hätten. Wäre die im 11. und 12. Jahrhundert entstandene Kunst ganz untergegangen, könnte keiner auf sie aus schriftlichen Quellen schließen. So muss die Frage nach der Bedeutung der Skulpturen erweitert werden zu der nach der Beschaffenheit einer Gesellschaft, die Millionen von gewalttätigen, obszönen Bildern an ihren heiligen Gebäuden anbringen lässt, ohne dabei ein Sterbenswörtchen der Rechtfertigung zu verlieren.

MM: Was ist Ihre These als Antwort auf die Frage der Bedeutung jener Skulpturen?

Dr. Lange: Ich behaupte, dass die Kirchen sich darum und ohne Angabe von Gründen mit diesen auffälligen Figuren bevölkerten, weil Kirchen damals, von römischen Triumphbogenportalen bis zur letzten Skulptur, der Agitation gegen einen "erfundenen" äußeren Todfeind und einem theologisch nicht legitimierbarem Heiligen Krieg dienten.

Das Unglaubliche dieses Sachverhalts geht aber noch einen Schritt weiter. Denn harte Geschichtswissenschaft versteht sich als Dokumentierung geschichtlicher Ereignisse und Bilder. Dies nun ist im Falle der antiislamischen "Skulpturenrenaissance" nicht möglich, und harte Geschichtswissenschaft könnte daher nur dazu sagen, dass sie, zu Sinn und Bedeutung dieser Skulpturen, aus Mangel an Dokumenten, schweigen muss.

Doch etwas anderes passiert. Sie behauptet, meine antiislamischen Thesen seien Unsinn, wirft mir Dilettantismus vor oder/und schweigt mich tot. Damit verletzt und bricht die in Deutschland gängige akademische Kunstgeschichte ihre eigenen Spielregeln – ob aus Bequemlichkeit oder mit politischem Hintersinn bleibe offen. Sie interpretiert diese Skulpturen – trotz fehlender Dokumentation - und deklariert sie, wie gesagt, für apotropäisch, ohne Beweise, ohne Methode, ohne Dokumentation. Die apotropäische These hängt selbst in der Luft, ist eine bloße, den Islam ausblendende kollektive Behauptung akademischer Papageien. Ihre Funktion ist zu verhindern, die vom Islam einst und heute ausgehenden (gefühlten oder realen) Bedrohungen, sowie die spannende Geschichte westlicher Reaktionen auf den Islam zu rekonstruieren und bewusst zu machen. Nicht diese Skulpturen, heutige Kunstgeschichte ist antiislamisch und apotropäisch. Der Westen will weiter sein Siegerbild seit Lepanto und Wien unwidersprochen und in Ruhe fortkultivieren.

Das Mittelalter, also das christlich-islamisches Zeitalter, gibt mit seinen Konflikten heute noch keine Ruhe. So spricht man vom heute herrschenden Mittelalter, mit heiligen Kriegen und Antisemitismus. Chaplins Film "Der große Diktator" handelt von Hitler und dem Dritten Reich. Im 2. Weltkrieg gedreht, spielt dieser Film tatsächlich im Mittelalter. Runen, Orden, Tausendjähriges Reich sind "mittelalterliche" Begriffe. Hat Chaplin sich das ausgedacht? Hören wir dazu Hitlers Architekten Speer: „Ich muss mich fast zwingen, mir trotz der in Nürnberg enthüllten Verbrechen in Erinnerung zu rufen, dass wir nicht nur eine Bande von Welteroberern waren, die von Herrenvölkern und Untermenschen faselte. In vielen von uns lebte etwas von einer europäischen Kreuzzugsidee. … In der Endphase des Krieges hörten wir dann auch von Eisenhowers >Crusader<-Idee, einer Idee, die nicht wenige von uns ganz aufrichtig gehabt hatten.“

MM: Als Deutsch-Chilene, der auch beide Sprachen perfekt beherrscht kennen Sie auch die Unterschiede in der Wahrnehmung. Wie wird das "Feindbild Islam" in Chile bzw. Lateinamerika wahrgenommen?

Dr. Lange: Wie Sie wissen, ist die spanische Sprache voller Arabismen. Es gibt bis heute kein zuverlässiges Lexikon, das diese abdeckt. Für Spanien gilt, dass der Muslim, "el moro" (bedeutet auch "ungetauft" und "schwarz“) despektierlich benutzt wird. Eine engagierte und profilierte spanische Vertreterin meiner Thesen, Frau Inés Monteira, hat es sicherlich in Spanien besonders schwer. In Lateinamerika liegt die Sache anders. Dort herrschte Jahrhunderte der Rassismus gegen Abkömmlinge der Sklaven und gegen die einheimische Bevölkerung. Es gibt in lateinamerikanischen Ländern Bilder, auf denen der kriegsheilige Patron Spaniens, Santiago Matamoros (der Maurentöter), nicht mehr Muslime, sondern Indianer niedermetzelt. Santiago, San Jago, der Heilige Jakob, der Namensgeber meiner Geburtsstadt, der Hauptstadt von Chile.

MM: Sind dann Ihrer Meinung nach, die in der heutigen Zeit gehäuft auftretenden "Karikaturkrisen" mit der muslimischen Welt, lediglich eine moderne Fortsetzung jener Skulpturen und Gemälde von vor mehreren Hundert Jahren sind?

Dr. Lange: In meinem Beitrag im Sammelband "Islamfeindlichkeit" habe ich eine frühe, häufige Skulptur des 11. Jahrhunderts, den sogenannten Akrobaten, den ich als Darstellung eines epileptischen Propheten Mohammed gedeutet habe, als älteste Karikatur an christlichen Kirchen bezeichnet. Die damaligen Figuren sind erfinderisch gewesen, manchmal nicht nur grausam und erniedrigend, sondern verhielten sich etwa wie extrem "brutale" antiislamische Witze in Bildern. Witzigkeit ist das eigentliche Kennzeichen der Karikatur, nur in ihr liegt ihre Wirkung. Schmähbilder sind fade, witzlos, Grotesken, die nachhaltig langweilen. So habe ich die Reaktionen auf gewisse moderne Zeichnungen immer als übertrieben, unaufrichtig und artifiziell angesehen. Leute, die glauben Gedichte oder Bilder könnten einem Staat schaden oder Gott beleidigen, verstehen von alledem nichts. Es gibt ja auch genug kunstgewerbliche Bilder, die die Macht und jeweiligen Machthaber anhimmeln. Gegen die sind und vermögen Schmähbilder und Karikaturen tatsächlich zu wenig. In einer bilderfreundlichen Zivilisation, in der Bilder nicht dämonisiert und neben der an sich jüngeren Schrift auf Augenhöhe bestehen dürfen, müssen beide, Schrift und Bild historisch als Medien mit dem Risiko ihres Misslingens leben lernen.

MM: Gibt es hier nicht einen Widerspruch zu Ihrer Forschungsarbeit? Könnte nicht ein Claudio Lange aus dem Mittelalter ähnlich argumentieren, oder würde ein Claudio Lange der Zukunft nicht die Schmähungen unserer Zeit ähnlich bewerten, wie Sie die einige hundert Jahre alten Schmähungen bewerten?

Lange: Das mag wie ein Widerspruch scheinen oder sein. Ich komme aus der Dritten Welt und stehe zu meinem veröffentlichten Satz: „Westeuropa ist im 11. Jahrhundert Dritte Welt.“ Zu was jede derart verelendete, unregierte Welt fähig ist, zeigen (und warnen) uns Kreuzzüge und Kragsteine. Das will ich auch Wissenschaftlern aller Herkunft zeigen. Bilder haben mit Ausdruck zu tun; Phantasmen, Gefühle nicht auszudrücken heißt nicht, dass man sie wirklich nicht hat. Frage bleibt, ob die zu leugnen einen besseren Menschen aus jemandem macht. Man mag es glauben. Die Antwort darauf lautet vermutlich aber: Nein.

Heute ist Macht in christlichen und muslimischen Gebieten anders verteilt. Der vorerst siegreiche Westen ist und bleibt aus seiner Geschichte heraus stark – auch durch gefährliche Amnesien - antiislamisch geprägt. Nur daraus entsteht heute aber keine Kunst mehr, auch kein revolutionäres Kunstgewerbe, nicht einmal witzige Karikaturen. Diese antiislamischen Prägung zu behandeln, gar zu heilen, mit ihr immer zu rechnen, sich von ihr nicht provozieren zu lassen, das wäre, denke ich, ein denkbarer, wünschbarer Umgang mit dem Westen. Meine Kritik an besagten Schmähbildern und –worten (alle Parteien bedienen sich solcher, in allen Medien) wäre daher gern argumentativer und zugleich schmerzlicher, treffender.

MM: Sehr geehrter Her Lange, wir danken für das Interview.

Links zum Thema

Das folgende Bild wurde freundlicherweise von Claudio Lange zur Verfügung gestellt:

 
 Beispiel eines um das Jahr 1500 gemalte Bild antiislamischer Agitation in Deutschen Museen.
 

Senden Sie e-Mails mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: info@muslim-markt.de 
Copyright © seit 1999 Muslim-Markt