MM: Sehr
geehrte Frau Prof. Roer, wir sind auf Sie aufmerksam geworden durch eine
im Internet verbreitete Einladung zum Thema "Grünes Licht für Landraub?"
mit Bezug auf die Situation in Palästina und konnten zunächst keinen
Bezug zu Ihrem Forschungsgebiet herstellen. Wie wurden Sie involviert?
Dorothee Roer: Vielleicht haben Sie sich
mit mir eine in gewisser Weise "harte Nuss" ausgesucht. Zum einen, weil
ich keine Wissenschaftlerin im akademischen Elfenbeinturm war und bin.
Natürlich habe ich auch veröffentlicht, die Arbeiten haben aber immer
einen Bezug zur Praxis, hier der Praxis Sozialer Arbeit; in einem eher
weiten Sinn. Zum anderen, weil das Spektrum meiner Publikationen
zunächst verwirrend vielfältig erscheint. Wenn ich diese auf den ersten
Blick recht unterschiedlich wirkenden Themen auf einen Nenner
bringen sollte, so würde ich sagen, es ging und geht immer darum,
Menschenrechte einzuklagen, sie gegen Angriffe zu behaupten oder gar
Klage zu führen, wenn sie mit Füßen getreten werden.
Dieses Anliegen steht schon hinter den
Veröffentlichungen der ersten Phase meines wissenschaftlichen
Arbeitens , in der ich Kritik übte an der bürgerlichen Psychiatrie
und dem naturwissenschaftlichen, die Menschen ihrer Biografie und ihres
Leidens an den gesellschaftlichen Verhältnissen enteignenden
Krankheitsverständnis. Ganz folgerichtig schaute ich dann, welches die
Konsequenzen solcher Psychiatrie sind und studierte das Wirken der
Psychiatrie im Faschismus - unter anderem auch im Rahmen
des "Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen
"Euthanasie" und Zwangssterilisation", dessen Mitglied ich bin. In einer
dritten Phase wendete ich mich schließlich der Zielgruppe der
Nutzerinnen und Nutzer von Sozialer Arbeit hier und heute zu: arme,
sozial ausgegrenzte, oftmals entrechtete - zum Beispiel in der
Illegalität lebenden -
Menschen in einem immer noch reichen Land zu und frage, wie eine
Menschenrechte und soziale Partizipation respektierende Soziale Arbeit
mit ihnen aussehen sollte/muss. Theoretischer Hintergrund all dieser
Arbeiten ist eine marxistische Psychologie, die den Menschen als
gesellschaftliches Wesen begreift, das durch die gesellschaftlichen
Verhältnisse ebenso bestimmt wird wie es diese Verhältnisse mitgestaltet.
MM: Wir haben fast immer mit "harten
Nüssen" in unseren Interviews zu tun, aber was hat Ihre Antwort mit
Palästina zu tun?
Dorothee Roer: Sie werden sehr
schnell sehen, wieviel es damit zu tun hat. Auch hier geht es darum, für
den Respekt der Menschenrechte einzutreten, dies umsomehr, als in
unserer Republik so viele Menschen eine sehr wenig reflektierte Sicht
auf Israel haben und eine Art des Zionismus kultivieren, den
sie für den Ausdruck des Respekts und der Sorge um Israel
und seine BewohnerInnen halten. Auch die internationale Gemeinschaft hat
sich bisher in der Palästinafrage nicht gerade
menschenrechtsaktivistisch hervorgetan. Ich finde es aufgrund meiner
skizzierten Orientierung nur stimmig, meine Solidarität mit dem
palästinensischen Volk zum Ausdruck zu bringen und mich unter anderem im
Palästina Forum Nahost Frankfurt/M. zu engagieren.
Meine wissenschaftliche ist zugleich eine
politische Haltung, ich entwickele sie, seit ich mich in der
Studentenbewegung engagierte - ich bin also eine sogenannte 68erin -
natürlich hat sich im Laufe der vierzig Jahre vieles verändert, die
Grundtendenz habe ich mir aber, was mir gut gefällt, erhalten. Deshalb
bin ich auch politisch aktiv in der Partei "Die Linke" und seit ich
beruflich tätig bin, in der Gewerkschaft (Erziehung und Wissenschaft)
und engagiere mich in internationalen Projekten.
MM: Wechseln wir zu Ihrer "eigentlichen"
wissenschaftlichen Laufbahn. In Ihren Untersuchungen haben Sie sich
unter Anderem mit der aktuellen Diskussion über den Unwert menschlichen
Lebens auseinandergesetzt. Das Thema dürfte sehr komplex sein,
angefangen von früher Abtreibung aus unterschiedlichen Gründen über die
späte Abtreibung von Behinderten bis hin zur Sterbehilfe? Welche
ethisch-moralischen Maßstäbe werden denn in der Wissenschaft zugrunde
gelegt, um zu wissenschaftlichen Ergebnissen oder gar Empfehlungen zu
kommen?
Dorothee Roer: Auch im wissenschaftlichen
Diskurs gab und gibt es sehr unterschiedliche Positionen zu der
Frage des Werts oder Unwerts des Menschen. Die Begründer des
nationalsozialistischen Massenmords an psychisch kranken und geistig
behinderten Menschen, Binding und Hoche, waren hochkarätige
Wissenschaftler und sehr honorige Professoren . Sie haben ihr politisch
entscheidendes Werk "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens"
übrigens lange vor der Etablierung des deutschen Faschismus, nämlich
1920, geschrieben. Es ist also keine faschistische "Entgleisung",
sondern ein Gedankengut, das mitten aus dem wissenschaftlichen Diskurs
stammt. Was ich damit sagen will: Wissenschaft gerät immer auf die
schiefe Ebene, wenn sie sich nur sich selbst und nicht humanitären
Werten verpflichtet. So ein wissenschaftsübergreifendes, humanitäres
Wertesystem stellt etwa die UN-Charta der Menschenrechte dar. Das heißt
auch: Wissenschaft kann, meiner Meinung nach, nie "wertfrei" sein, sie
wird immer von nicht-wissenschaftlichen Strukturen bestimmt. Wichtig ist
deshalb, dass sie diese zugrunde liegenden Systeme offenlegt, woran sie
die Zivilgesellschaft gegebenenfalls erinnern muss.
MM: Das marxistische Menschenbild geht von einem Menschen aus, der materiell veranlagt ist und der
Marxismus kennt die spirituelle Dimension des Menschen nicht. Glaubens
Sie ernsthaft, man kann die Psychologie des Menschen verstehen, ohne
seine spirituelle Veranlagung zu berücksichtigen. Die Frage geht auch an
die Ehefrau eines Pfarrers.
Dorothee Roer: ... Ich glaube ernsthaft,
dass das marxistische Menschenbild so gut wie nichts zu tun hat mit dem,
wofür es gern gehalten wird. Mein "Lieblings"-Theoretiker, der
sowjetische Psychologe A.N. Leontjev, wäre sehr verwundert, wenn er
hören würde, dass MarxistInnen generell leugneten, dass Menschen auch
spirituelle Wesen sind. Er stellt sie sich denkend, fühlend, wollend,
und, und, und ... vor, ich glaube, ähnlich, wie Sie sie sich vorstellen.
Was, sehr vereinfacht, das Marxistische an seinem und meinem
Menschenbild ausmacht, ist die Annahme, dass all dies nicht in seinen
Genen oder seinem "Wesen" liegt, oder ihm durch höhere Mächte
eingegeben wird, sondern dass er sich selbst entwickelt und verändert in
der Auseinandersetzung mit seiner realen Lebenswelt. Dieses Denken hilft
mir sehr, die kulturelle und historische Bestimmtheit biografischer AkteurInnen zu respektieren und andere nicht am Maßstab meiner
Gewordenheit zu messen und zu bewerten. Insofern passt dieses
Menschenbild perfekt zu der Menschenrechtsorientierung, die ich
skizziert habe.
MM: Nun ist die Partei die Linke einstmals
angetreten mit dem Vorsatz auch Sprecher der "kleinen Leute" zu sein.
Glauben Sie, man kann Sprecher der kleinen Leute sein, wenn man gar
nicht mit ihnen zusammenlebt und sozusagen nicht mit ihnen auf dem Boden
sitzt und zusammen mit ihnen isst usw.? Oder anders an die 68er gefragt:
Was ist nur aus den alten idealen geworden?
Dorothee Roer: Das sind zwei Fragen und
einige Unterstellungen in einem. Also: eins nach dem anderen: weder Die
Linke selber noch ich halten die Partei für eine Partei "der
kleinen Leute", sondern für eine, die sich soziale Gerechtigkeit und die
Verteidigung der Menschenrechte auf ihre rote Fahne geschrieben
hat. Solange sie sich an diese Ziele hält, bin ich dabei, auch wenn ich
nicht "auf dem Boden sitze" und mit dem Armen esse. Ich weiß nicht, ob
Sie mit Ihrer Frage auf den Vorsitzenden der Linkspartei und seinen
Porsche anspielen. Darüber kann man wohl unterschiedlicher Meinung sein.
Ich persönlich habe in meinem Leben bisher kein solches Auto gebraucht.
Allerdings lebe ich weder in Armut noch im Schatten der israelischen Apartheitsmauer und trotzdem kommt es mir wichtig vor, die Sache
der PalästinenserInnen zu unterstützen. Die Frage an die 68erin
würde ich deshalb so beantworten: die Ideale sind gar nicht alt und
immer noch sehr handlungsleitend.
MM: Und warum soll Springer heute nicht
mehr enteignet werden?
Dorothee Roer: Ja, warum eigentlich nicht?
Die Bildzeitung ist wirklich eine Gefahr für unsere Demokratie, vor
allem auch für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher
nationaler, ethnischer, kultureller und religiöser Herkunft. Allerdings
glaube ich nicht, dass ein Verbot dieses und all der
anderen reaktionären Blätter dazu führen würde, dass die dort
propagierten miesen Ideen verschwinden würden. Die Bildzeitung erfindet
Fremdenfeindlichkeit, Anti-Islamismus und Etnozentrismus ja nicht, sie
greift nur populistisch die Stammtischtiraden und die opportunistischen
Festreden der Sarrazinisten auf und verkauft sie. Wenn wir also
ursächlich gegen Rassismus und Co vorgehen wollen, dann nicht, indem wir
versuchen, Verbote durchzusetzen - eine Perspektive, die angesichts der
derzeitigen politischen Situation auch ziemlich utopisch erscheint -
sondern indem wir die Irrationalität, Lächerlichkeit und Gefährlichkeit
der "Bild"-Argumente klarstellen und uns für eine demokratische und
humanitäre Diskussionskultur stark machen. Wenn wir über Kontinuitäten
sprechen: dieser Meinung war ich auch schon 1968, was nicht bedeutet,
dass ich mich nicht daran beteiligte, die Auslieferung von "Bild" zu
verhindern.
MM: Frau Prof. Roer, wir danken für das
Interview?
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