Im Namen des Erhabenen  
 Interview mit Prof. Roer
 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dorothee Roer - Professorin (emer.) an der FH Frankfurt a. M. (University of Applied Sciences)
1.3.2011

Prof. C. Dorothee Roer (Jahrgang 1943) studierte Psychologie, Ethnologie und Soziologie in Göttingen, Hamburg, Tübingen und Heidelberg. Nach dem Diplom in Psychologie arbeitete sie einige Jahre als wissenschaftliche Angestellte am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg, seit 1975 ist sie Professorin an die Fachhochschule Frankfurt/M, Fachbereich 4 (Soziale Arbeit und Gesundheit) mit den Schwerpunkten Klinische Psychologie und Sozialisation. Sie veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zum Thema Biografie und Gesellschaft, unter anderem ist sie, zusammen mit Dieter Henkel, Herausgeberin des Buchs "Psychiatrie im Faschismus" (4. Auflage 2011).

Frau Roer ist Mitglied in der "Neuen Gesellschaft für Psychologie, in der Sektion "Biografieforschung" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Gründungmitglied des Instituts "Biografie und Gesellschaft" und Sprecherin des Netzwerks "Rekonstruktive Sozialarbeitsforschung und Biografie". Sier ist Mitglied der Partei "DIE LINKE" und engagiert im Palästina Forum Nahost Frankfurt/M.

Frau Roer ist verheiratet mit dem Pfarrer und Friedensaktivisten Dr. Ingo Roer. Sie haben zwei erwachsene Töchter und leben in Frankfurt/M..

MM: Sehr geehrte Frau Prof. Roer, wir sind auf Sie aufmerksam geworden durch eine im Internet verbreitete Einladung zum Thema "Grünes Licht für Landraub?" mit Bezug auf die Situation in Palästina und konnten zunächst keinen Bezug zu Ihrem Forschungsgebiet herstellen. Wie wurden Sie involviert?

Dorothee Roer: Vielleicht haben Sie sich mit mir eine in gewisser Weise "harte Nuss" ausgesucht. Zum einen, weil ich keine Wissenschaftlerin im akademischen Elfenbeinturm war und bin. Natürlich habe ich auch veröffentlicht, die Arbeiten haben aber immer einen Bezug zur Praxis, hier der Praxis Sozialer Arbeit; in einem eher weiten Sinn.  Zum anderen, weil das Spektrum meiner Publikationen zunächst verwirrend vielfältig erscheint. Wenn ich diese auf den ersten Blick  recht unterschiedlich wirkenden Themen auf einen Nenner bringen sollte, so würde ich sagen, es  ging und  geht immer darum, Menschenrechte einzuklagen,  sie  gegen Angriffe zu behaupten oder gar Klage zu führen, wenn sie mit Füßen getreten werden.

Dieses  Anliegen steht  schon  hinter den Veröffentlichungen der ersten Phase meines wissenschaftlichen Arbeitens , in der ich Kritik übte an der bürgerlichen Psychiatrie und dem naturwissenschaftlichen, die Menschen ihrer Biografie und ihres Leidens an den gesellschaftlichen Verhältnissen enteignenden Krankheitsverständnis. Ganz folgerichtig schaute ich dann, welches die Konsequenzen solcher Psychiatrie sind und studierte das Wirken der Psychiatrie im Faschismus - unter anderem auch  im Rahmen des "Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen "Euthanasie" und Zwangssterilisation", dessen Mitglied ich bin. In einer dritten Phase wendete ich mich schließlich der Zielgruppe der Nutzerinnen und Nutzer von Sozialer Arbeit hier und heute zu: arme, sozial ausgegrenzte, oftmals entrechtete - zum Beispiel in der Illegalität lebenden - Menschen in einem immer noch reichen Land zu und frage, wie eine Menschenrechte und soziale Partizipation respektierende Soziale Arbeit mit ihnen aussehen sollte/muss. Theoretischer Hintergrund all dieser Arbeiten ist eine marxistische Psychologie, die den Menschen als gesellschaftliches Wesen begreift, das durch die gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso bestimmt wird wie es diese Verhältnisse mitgestaltet.

MM: Wir haben fast immer mit "harten Nüssen" in unseren Interviews zu tun, aber was hat Ihre Antwort mit Palästina zu tun?

Dorothee Roer: Sie werden sehr schnell sehen, wieviel es damit zu tun hat. Auch hier geht es darum, für den Respekt der Menschenrechte einzutreten, dies umsomehr, als in unserer Republik so viele Menschen eine  sehr wenig reflektierte  Sicht auf Israel haben und eine Art  des  Zionismus  kultivieren, den sie  für  den  Ausdruck des Respekts und der Sorge um Israel und seine BewohnerInnen halten. Auch die internationale Gemeinschaft hat sich bisher in der Palästinafrage nicht gerade menschenrechtsaktivistisch hervorgetan. Ich finde es aufgrund meiner skizzierten Orientierung nur stimmig, meine Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum Ausdruck zu bringen und mich unter anderem im Palästina Forum Nahost Frankfurt/M.  zu engagieren.

Meine wissenschaftliche ist zugleich eine politische Haltung, ich entwickele sie, seit ich mich in der Studentenbewegung engagierte - ich bin also eine sogenannte 68erin - natürlich hat sich im Laufe der vierzig Jahre vieles verändert, die Grundtendenz habe ich mir aber, was mir gut gefällt, erhalten. Deshalb bin ich auch politisch aktiv in der Partei "Die Linke" und seit ich beruflich tätig bin, in der Gewerkschaft (Erziehung und Wissenschaft) und engagiere mich in internationalen Projekten.

MM: Wechseln wir zu Ihrer "eigentlichen" wissenschaftlichen Laufbahn. In Ihren Untersuchungen haben Sie sich unter Anderem mit der aktuellen Diskussion über den Unwert menschlichen Lebens auseinandergesetzt. Das Thema dürfte sehr komplex sein, angefangen von früher Abtreibung aus unterschiedlichen Gründen über die späte Abtreibung von Behinderten bis hin zur Sterbehilfe? Welche ethisch-moralischen Maßstäbe werden denn in der Wissenschaft zugrunde gelegt, um zu wissenschaftlichen Ergebnissen oder gar Empfehlungen zu kommen?

Dorothee Roer: Auch im wissenschaftlichen Diskurs gab und gibt es sehr unterschiedliche Positionen zu der Frage des Werts oder Unwerts des Menschen. Die Begründer des nationalsozialistischen Massenmords an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, Binding und Hoche, waren hochkarätige Wissenschaftler und sehr honorige Professoren . Sie haben ihr politisch entscheidendes Werk "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" übrigens lange vor der Etablierung des deutschen Faschismus, nämlich 1920,  geschrieben. Es ist also keine faschistische "Entgleisung", sondern ein Gedankengut, das mitten aus dem wissenschaftlichen Diskurs stammt. Was ich damit sagen will: Wissenschaft gerät immer auf die schiefe Ebene, wenn sie sich nur sich selbst und nicht humanitären Werten verpflichtet. So ein wissenschaftsübergreifendes, humanitäres  Wertesystem stellt etwa die UN-Charta der Menschenrechte dar. Das heißt auch: Wissenschaft kann, meiner Meinung nach, nie "wertfrei" sein, sie wird immer von nicht-wissenschaftlichen Strukturen bestimmt. Wichtig ist deshalb, dass sie diese zugrunde liegenden Systeme offenlegt, woran sie die Zivilgesellschaft gegebenenfalls erinnern muss. 

MM: Das marxistische Menschenbild geht von einem Menschen aus, der materiell veranlagt ist und der Marxismus kennt die spirituelle Dimension des Menschen nicht. Glaubens Sie ernsthaft, man kann die Psychologie des Menschen verstehen, ohne seine spirituelle Veranlagung zu berücksichtigen. Die Frage geht auch an die Ehefrau eines Pfarrers.

Dorothee Roer: ... Ich glaube ernsthaft, dass das marxistische Menschenbild so gut wie nichts zu tun hat mit dem, wofür es gern gehalten wird. Mein "Lieblings"-Theoretiker, der sowjetische Psychologe A.N. Leontjev, wäre sehr verwundert, wenn er hören würde, dass MarxistInnen generell leugneten, dass Menschen auch spirituelle Wesen sind. Er stellt sie sich denkend, fühlend, wollend, und, und, und ... vor, ich glaube, ähnlich, wie Sie sie sich vorstellen. Was, sehr vereinfacht, das Marxistische an seinem und meinem Menschenbild ausmacht, ist die Annahme, dass all dies nicht in seinen Genen oder seinem "Wesen" liegt, oder ihm durch höhere Mächte eingegeben wird, sondern dass er sich selbst entwickelt und verändert in der Auseinandersetzung mit seiner realen Lebenswelt. Dieses Denken hilft mir sehr, die kulturelle und historische Bestimmtheit biografischer AkteurInnen zu respektieren und andere nicht am Maßstab meiner Gewordenheit zu messen und zu bewerten. Insofern passt dieses Menschenbild perfekt zu der Menschenrechtsorientierung, die ich skizziert habe. 

MM: Nun ist die Partei die Linke einstmals angetreten mit dem Vorsatz auch Sprecher der "kleinen Leute" zu sein. Glauben Sie, man kann Sprecher der kleinen Leute sein, wenn man gar nicht mit ihnen zusammenlebt und sozusagen nicht mit ihnen auf dem Boden sitzt und zusammen mit ihnen isst usw.? Oder anders an die 68er gefragt: Was ist nur aus den alten idealen geworden?

Dorothee Roer: Das sind zwei Fragen und einige Unterstellungen in einem. Also: eins nach dem anderen: weder Die Linke selber noch ich halten  die Partei für eine Partei "der kleinen Leute", sondern für eine, die sich soziale Gerechtigkeit und die Verteidigung der Menschenrechte auf ihre rote Fahne geschrieben hat. Solange sie sich an diese Ziele hält, bin ich dabei, auch wenn ich nicht "auf dem Boden sitze" und mit dem Armen esse. Ich weiß nicht, ob Sie mit Ihrer Frage auf den Vorsitzenden der Linkspartei und seinen Porsche anspielen. Darüber kann man wohl unterschiedlicher Meinung sein. Ich persönlich habe in meinem Leben bisher kein solches Auto gebraucht. Allerdings lebe ich weder in Armut noch  im Schatten der israelischen Apartheitsmauer und trotzdem kommt es mir wichtig vor, die Sache der PalästinenserInnen zu unterstützen. Die Frage an die 68erin würde ich deshalb so beantworten: die Ideale sind gar nicht alt und immer noch sehr handlungsleitend.

MM: Und warum soll Springer heute nicht mehr enteignet werden?

Dorothee Roer: Ja, warum eigentlich nicht? Die Bildzeitung ist wirklich eine Gefahr für unsere Demokratie, vor allem auch für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher nationaler, ethnischer, kultureller und religiöser Herkunft. Allerdings glaube ich nicht, dass ein Verbot dieses und all der anderen reaktionären Blätter dazu führen würde, dass die dort propagierten miesen Ideen verschwinden würden. Die Bildzeitung erfindet Fremdenfeindlichkeit, Anti-Islamismus und Etnozentrismus ja nicht, sie greift nur populistisch die Stammtischtiraden und die opportunistischen Festreden der Sarrazinisten auf und verkauft sie. Wenn wir also ursächlich gegen Rassismus und Co vorgehen wollen, dann nicht, indem wir versuchen, Verbote durchzusetzen - eine Perspektive, die angesichts der derzeitigen politischen Situation auch ziemlich utopisch erscheint - sondern indem wir die Irrationalität, Lächerlichkeit und Gefährlichkeit der "Bild"-Argumente klarstellen und uns für eine demokratische und humanitäre Diskussionskultur stark machen. Wenn wir über Kontinuitäten sprechen: dieser Meinung war ich auch schon 1968, was nicht bedeutet, dass ich mich nicht daran beteiligte, die Auslieferung von "Bild" zu verhindern.

MM: Frau Prof. Roer, wir danken für das Interview?

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