MM: Sehr
geehrter Herr Prof. Priddat, in einer jüngsten Forschungsprojekt wollen
Sie den "Glaube an das Wirtschaftswachstum als neue Religion"
untersuchen. Glauben sie denn nicht an das ewige Wirtschaftswachstum?
Prof. Priddat:
Wachstum ergibt sich in modernen,
dynamischen und arbeitsteilig ausdifferenzierten Wirtschaften. Nur
nehmen die Raten ab; große und alte Wirtschaften wachsen langsamer. Erst
neue Technologieschübe ergeben neue Wachstumsplattformen: Hier wird die
IT-Entwicklung treiben - und die Klimafrage, die hochwertige Forschungen
und Innovationen bringen wird. Wachstum ist keine Ideologie, sondern
notwendige Bedingung für das Bevölkerungswachstum. Ansonsten müssten wir
weltweit rigorose Geburtenkontrollen einführen. Gerade die
nicht-atlantischen Nationen sind deshalb auf Wachstum angewiesen: der (Geburten-)Reichtum
an Menschen bedeutet eine erhöhte Verantwortung für ihre Versorgung (und
für Umverteilungen der Vermögen und Chancen).
MM: Wie ist es aber mit Bevölkerungen, die
nicht mehr wachsen? Wie soll die Lebensmittelindustrie wachsen, wenn es
immer weniger Menschen gibt, die etwas verspeisen können?
Prof. Priddat: Diese Industrie wächst entsprechend weniger. Alte
Formen verschwinden, neue Märkte entstehen (mit gesünderen Produkten,
neuen Geschmäckern etc.). Wachstum ist kein reines Mengenthema, sondern
ein Ausdifferenzierungsthema. Gerade wenn man Gesellschaft als gestalt-
und entwickelbar ansieht, ergeben sich immer wieder neue Märkte. Und wir
forschen und erfinden ja immer wieder Neues.
MM: Und wie ist es in Bereichen, in denen
es aus ökologischen oder gesundheitlichen Gründen sinnvoll wäre, wenn es
gar kein Wachstum gäbe, wie z.B. bei der Energieversorgung oder der
Pharmaindustrie?
Prof. Priddat:
Warum sollte es dort kein Wachstum
geben? Energie wird neue Erzeugungsformen finden: mehr solar, Erdwärme,
Nutzung von Gezeiten, noch mehr Wind, chemische Energien, wahrscheinlich
wieder stärker Atomstrom und, wenn der Fusionsreaktor funktionieren wird
... Und wieso soll die Pharmaindustrie nicht wachsen – wenn wir z.B. die
genetische Forschung weiterentwickeln. Wir sind ja wissenschaftlich
bereits in neuen Räumen der Mikrobiologie, der Neuroscience etc..
MM: Schaut man in die Liste ihrer
Veröffentlichungen, wird deutlich, dass das Thema für Sie nicht ganz neu
ist. So haben Sie z.B. bereits 1988 über "das Geld und Vernunft"
geschrieben. Passen denn das kapitalistische Finanzsystem mit dem
zinsbasierten Verschuldungssystem und Vernunft überhaupt zusammen?
Prof. Priddat:
Der Kapitalismus ist ein notwendig
gekoppeltes Kapital- und Geldwirtschaftsystem. Unternehmen brauchen
Kredite für weitere Investitionen. Nicht der Zinsmechanismus ist
problematisch, sondern die Spekulation. Es gibt faktisch kaum zinslose
Kredite weltweit: Wenn offiziell kein Zins genommen wird, finden sich
bei genauerer Untersuchung andere Formen der monetären Kompensation.
Niemand gibt Geld als Quasi-Geschenk; gegebenenfalls wird man am
Unternehmensertrag beteiligt. Das Finanzsystem hat insofern Vernunft,
als es in eine Logik der Investition eingebettet ist. Problematisch wird
es, wo Akteure mit Geld, das ihnen nicht gehört, spekulieren, und nicht
haften. Die Frage der Haftung bei riskanten Anlagen muss geklärt werden
- ökonomisch wie strafrechtlich (vgl. die aktuellen Klagen gegen
Goldmann & Sachs). Letzthin sind alle Investitionen riskant - das muss
man wissen. Wer glaubt, groß gewinnen zu können, darf nicht enttäuscht
sein, wenn er alles verliert. Womöglich ist nachhaltiger Gewinn besser
als großer.
MM: Ist es nicht aber ein
großer sowohl moralischer als auch ökonomischer Unterschied, ob man sich
nach einem Geldverleih verantwortungsbewusst an einem Gewinn beteiligt
oder Zinsen verlangt, unabhängig davon, wie die Erträge dessen sind, der
die Zinsen zahlen soll?
Prof. Priddat: Die Beteiligung ist ja die riskantere Form für den
Verleiher. Weil risiskoreicher, stellt ein solches System insgesamt viel
weniger Kapital zur Verfügung, als für eine dynamische Wirtschaft
gebraucht wird. Außer man sichert sich gegen Verlust durch Pfand, d.h.
bekommt Rechte nicht nur am Gewinn, sondern bereits am vorhandenen
Eigentum. Ich halte den Kredit auf Zins nicht von vornherein für
unmoralisch. Der Kredit bringt erst die Investitionsdynamik, da nicht
nur Gewinn erwirtschaftet werden muss, sondern auch noch der Zins. Da
der Kreditgeber nicht beteiligt ist, d.h. nicht mit ins Risiko
einsteigt, ist er eher bereit, das Geld zu geben. Das ist meines
Erachtens der Erfolgsmechanismus des Kapitalismus, sein
Wachstumsgenerator. Würde man den Zins verbieten, könnten wir die
Gesellschaften nicht mehr so stark entwickeln, wie es uns heute gelingt.
MM: In vieler Veröffentlichungen wir der
Begriff "Ethik" verwendet. Was könnte einen im kapitalistischen
Wettbewerb befindlichen Akteur dazu bewegen, ethische Grundsätze zu
beachten?
Prof. Priddat:
Das ist keine einfache Frage. Ethische
Grundsätze sind eher eine Haltung zu den Dingen, die man einhalten will.
Es ergeben sich dann Grenzfragen: Soll ich das tun, oder verbietet mir
meine Haltung das? Hier gibt es keine generellen Regeln (auch wenn man
das bei Fragen der Ethik häufig glaubt). Es beinhaltet auch immer wieder
die Reflektion, ob die eigene Haltung auch weiterhin gelten kann. Solch
eine Haltung kann sein - Qualität für die Kunden, Anerkennung und
Respekt gegenüber den Mitarbeitern, Vorsicht vor hochriskanten
Investitionen etc. Man kann nicht immer seine private Haltung in den
Vordergrund stellen: Die Organisation/Firma hat womöglich ein eigenes
Profil, eine eigene Haltung. Über solche Haltungen bilden sich
spezifische Beziehungen heraus, die für die ökonomische Positionierung
im Wettbewerb nachhaltig wertvoll sein können.
MM: Bei der Durchsicht Ihrer
Publikationen ist uns auch der Titel "Ökonomische Knappheit und
moralischer Überschuss" aufgefallen. Liegt in der Westlichen Welt nicht
eher genau das Gegenteil vor?
Prof. Priddat:
Nein, das wäre ein Missverständnis des
Buchtitels. Ökonomische Knappheit ist ein Tatbestand von Wirtschaften.
Moralischer Überschuss meint Folgendes: Wir haben Moral - ich halte
nichts von der Rede des Wertverfalls - , aber zu viele (der pluralis ist
hier wichtig!). Was heißt das? Wir haben vielfältigst ausdifferenzierte
Werte, Moralen etc., aber keine 'eine Moral'. Moderne Gesellschaften
sind ausdifferenzierte Veranstaltungen, in denen verschiedene
Sozialisationen individuell (oder netzwerkweise) verschiedene moralische
Habitus entfaltet haben, die gewisse Schnittmengen aufweisen, aber in
vielen Fällen auch nicht überlappen. Gerade die deutsche Gesellschaft
pflegt mannigfaltige moralische öffentliche Diskurse, aber es gibt wenig
Konsens (oder nur vorübergehend). Das muss man als Faktum der Moderne
gelten lassen: Wir haben es deshalb eher mit lokalen
Moralgleichgewichten zu tun, die dort auch wirksam werden, aber nicht
mit übergreifenden Reglungen, Normen etc. (außer im Rechtsbereich).
Gesellschaften mit homogenerer Moral haben noch nicht den
Ausdifferenzierungsgrad erreicht, um modern zu sein, d.h. sie geben den
Individuen weniger Rechte und Selbstbewusstsein als den Gemeinschaften.
Das hemmt Initiative, Innovationen und Entwicklung.
In Ihrer Frage klingt an, dass die Westlichen
Gesellschaften eher einen nicht-moralischen Weg gehen. Das kann man nur
aus einem Blickwinkel nicht-moderner Gesellschaften so sehen: man darf
nicht unterschätzen, dass die Westlichen Gesellschaften über die
Aufklärung und ihre Folgen eine soziale Emanzipation erreicht haben, die
auch die Standards für Moral geändert hat. Man ist Normen und Moralen
gegenüber skeptischer geworden, weil man erkannt hatte, dass Normen auch
Herrschaftsformen sind. Wer definiert die Norm? In welchem Interesse? In
letzter Konsequenz sind daraus die demokratischen Politikverfassungen
entstanden, die die Frage, was als Norm gelten soll, letztlich politisch
klären. Die Frage der Moral ist letztlich eine der politischen
Abstimmung, d.h. faktisch auch der möglichen Änderbarkeit. Moral hat
seine eigene politisch-soziale Dynamik bekommen. Es gibt keine
tradierten Regeln mehr, weil das hieße, dass die in den Regeln
einbeschlossene Ordnung geschichtslos aufrecht erhalten würde. Dann aber
hemmen diese Ordnungen die Entwicklung (der Gesellschaft, ihrer
Wirtschaft und der Individuen).
MM: Ist es wirklich so einfach? Denn
wenn Moral eine Frage der der politischen Abstimmung ist, welches Recht
hätte man dann, etwas gegen Hitler zu unternehmen? Wollen Sie wirklich,
dass sozusagen die Bild-Zeitung festlegt, welche Moral in Deutschland
Gültigkeit hat?
Prof. Priddat:
Das ist ja nun wirklich nicht einfach,
sondern – im Gegenteil – eine komplexe Angelegenheit. Wer soll sonst die
Normen aufstellen als die, für die sie gelten? Alles andere ist
Fremdbestimmung. Wie will man legitimieren, dass jemand anderes als die
Menschen selber ihre Normen bestimmen können? Das wäre ja ein Ausverkauf
des Rechtes auf Selbstbestimmung. Wieso soll eine Gesellschaft wollen
können, dass jemand anderes als sie selbst ihre Regeln definiert? Dann
würde man sich ja selber aufgeben, schwach werden. Demokratie ist nicht
einfach, und hat nicht immer ideale Resultate. Aber es sind die eigenen
Resultate, mit denen man sich wieder auseinandersetzen muss.
Selbstbestimmung und Freiheit sind hochwertige Menschenrechte, auf deren
Basis gesellschaftliche Ordnungen begründet werden sollen.
MM: Bei ihren Betrachtungen schwingt die
Überzeugung durch, dass die höhere Wertung des individuellen Wohls
gegenüber dem Gemeinwohl Antrieb der modernen Entwicklung sei. Ist solch
eine Vorstellung nicht gleichzeitig eine Art Bankrotterklärung des
Systems, denn warum sollte sich z.B. irgendein Soldat dann für die
Verteidigung eines solchen Gemeinwohls individuell opfern oder
irgendwelche Menschen Freiheiten individuell freiwillig aufgeben, um
z.B. Kinder zu erziehen oder Eltern zu pflegen?
Prof. Priddat:
Es gibt soziale Regeln, die man
akzeptiert, weil ihr Ergebnis vernünftig ist. Kooperation ist in vielem
vorteilhaft. Es geht nicht darum, das individuelle Wohl egoistisch
durchzusetzen; wo Kooperation sinnvoll ist, ist es für die Individuen
besser, zu kooperieren. Dafür kann man sich sehr wohl opfern: für die
Freiheit, die Formen der Kooperation selber zu bestimmen. Das hieße ja
gerade, die Freiheit zu verteidigen. Und natürlich gibt es ein
Gemeinwohl: aber nicht unabhängig von den Entscheidungen der Individuen,
welches es sein soll und in welchem Maße. Man muss das, was allgemein
gelten soll, immer wieder beraten und anpassen. Wir haben ja bei uns
geschichtlich sehr große Wohlfahrtssteigerungen erreicht, und soziale
Versorgung aller, die es nicht mehr alleine schaffen. Der Sozialstaat
ist ja ein Gemeinwohlstaat. Die Form der Gesellschaft, die wir in
Deutschland haben, ist eine soziale Form: soziale Marktwirtschaft.
MM: Ihre Analysen richten sich ja nicht
nur auf die Seite der so genannte Mächtigen, sondern Sie untersuchen
z.B. auch das Konsumverhalten. Haben die Konsumenten denn eine
ernsthafte Chance Einfluss auf das Gesamtsystem zu nehmen?
Prof. Priddat:
In einem gewissen Sinne ja. Konsumenten
können verweigern, bestimmte Produkte zu kaufen. Das kann über medial
inszenierte Kampagnen laufen, meist aber über die Kommunikation in
Netzwerken. Es ist eine Form eines 'virtuellen Qualitätsmanagements'.
Für gewisse Segmente entstehen neue Märkte: z.B. für gesündere oder
ökologische Nahrung. Ich glaube, es läuft nicht so sehr über die
Verweigerung, sondern über die qualitative Differenzierung, über neue
Angebote, die dem Konsumenten klar machen, dass das alte gewohnte
Produkt Mängel hat, die er nicht tolerieren muss. Er kauft dann eben das
andere. Die Macht der Konsumenten besteht darin, sich neuen Angeboten
zuzuwenden. Es geht weniger um Kritik, sondern um Kritik + Alternativen.
MM: Herr Prof. Priddat, wir danken für
das Interview. |