Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Becker
 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dr. Jörg Becker, Geschäftsführender Gesellschafter und Geschäftsführer des KomTech-Instituts für Kommunikations- und Technologieforschung
14.1.2010

Prof. Dr. Jörg Becker (Jahrgang 1946) hat Germanistik, Pädagogik und Politikwissenschaft an den Universitäten Marburg, Bern, Tübingen und Cambridge (USA) studiert. Es folgte 1977 die Promotion in Politikwissenschaft an der Universität Marburg mit einer Arbeit über Rassismus 1977 und die Habilitation 1981 in Sozialwissenschaft. Von 1987 bis 1992 war er Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seit 1987 ist er Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg, Geschäftsführer des KomTech-Instituts für Kommunikations- und Technologieforschung in Solingen und seit 1999 Gastprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck/Österreich. 2002 war er als Gastprofessor an der American University in Beirut/Libanon und 2006 an der Hongkong Baptist University in Hongkong tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Internationale Beziehungen, Entwicklungsländerforschung, Osteuropa, Peru, Vietnam und Türkei, internationale und deutsche Medien-, Kultur- und Technologieforschung, empirische Sozialforschung. Zudem ist er ehrenamtlicher Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Solingen.

Prof. Dr. Jörg Becker hat zahlreiche Veröffentlichungen, die in mehr als zehn Sprachen übersetzt wurden, darunter Themen wie: "Türkische Medienkultur in Deutschland", "Medien zwischen Krieg und Frieden", "Konflikt und Kommunikation". Baden-Baden (Nomos) 2002. 2006 gehörte er zu denjenigen, die das "Manifest der 25: Deutsche Wissenschaftler für mehr Vernunft in der deutschen Nahostpolitik" initiiert und unterzeichnet haben.

Prof. Dr. Jörg Becker ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Solingen.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Becker, viele Missverständnisse entstehen durch Kommunikation bzw. das Fehlen von Kommunikation. Inwieweit kann ein Institut, wie Sie es leiten, entgegen wirken?

Prof. Becker: Ich will Sie zunächst ein wenig korrigieren resp. ergänzen: Missverständnisse können außerdem durch ein Zuviel an Kommunikation entstehen. Gerade in der gegenwärtigen so genannten Informationsgesellschaft heißen die Stichworte in diesem Zusammenhang Informationsmüll und Overkill. Weniger könnte gerade heute Mehr sein! Vor allem aber geht es bei Kommunikationsstörungen 1. oft weniger um Missverständnisse als um Interessenskonflikte und 2. geht es eher um Vorurteile als um Missverständnisse.

MM: Im Rahmen einer Entgegnung auf Halbwissen einer Türkin bezüglich Muslime und Holocaust haben Sie eine umfassenden Leserbrief geschrieben. Darin heißt es u. a.: "Muslime waren nicht nur Opfer in deutschen KZs, Muslime haben auch häufig genug Juden vor deutschen KZs gerettet". Wie kann es aus Sicht der Kommunikationsforschung geschehen, dass solch grundlegende Aspekte der so nahe liegenden Geschichte geradezu auf den Kopf gestellt werden können?

Prof. Becker: Aus der Sicht der Kommunikationsforschung ist das völlig klar. In der Medienrezeption gilt grundsätzlich, dass der Rezipient kognitive Dissonanzen vermeiden will - und deswegen spricht der Islamfeind lieber über die Verbindungen zwischen den Nazis und dem Großmufti von Jerusalem als über Muslime als KZ-Opfer -, dass der Rezipient aus der Vielfalt der Medienangebote eine selektive Auswahl vornimmt und diese Selektion orientiert sich an seinen prä-kommunikativen Einstellungen - und so spricht der Islamfeind natürlich gerne und bevorzugt über den Großmufti - und dass der Rezipient im Überangebot der so genannten Informationsgesellschaft einer Ökonomie der Aufmerksamkeit gehorcht, in der viele Details und Verschiedenartigkeiten homogenisiert werden (darunter leidet dann die Wahrnehmung des Islam als einer ausgesprochen heterogenen Religion). In Bezug auf die Islamrezeption steht exemplarisch für viele dieser Verkürzungen und Verzerrungen das Werk des deutschen Journalisten Matthias Küntzel.

MM: Vor über 30 Jahren haben Sie eine Dissertation zum Thema Rassismus verfasst. Wie aktuell ist das Thema heute noch?

Prof. Becker: Meine Dissertation von 1977 befasste sich speziell mit Rassismus im deutschen Kinderbuch. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass die Einkaufszentrale für Öffentliche Büchereien (ekz) in Reutlingen in ihrer Rezension den Bibliotheken davon abriet, sich mein Buch anzuschaffen, da ich den Rassismus in Deutschland übertreiben würde, dass außerdem der damals der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nahe stehende Pahl & Rugenstein-Verlag mein Buch deswegen nicht veröffentlichen wollte, weil ich nicht erkannt hätte, dass Rassismus nur ein "Nebenwiderspruch" des Hauptwiderspruches "Klassenkampf" sei. Die kritischen Ideen meiner Dissertation konnte ich damals übrigens sehr publikumswirksam in einer Ausstellung (+ Publikation) "Die Dritte Welt im Kinderbuch" auf dem Messeschwerpunkt "Kinderbuch" der Frankfurter Buchmesse von 1978, den ich zu verantworten hatte, umsetzen. Zum großen Ärger vieler Kinderbuchverleger setzte sich damals die gesamte deutsche Presse sehr kritisch mit Rassismus und Ethnozentrismus im deutschen Kinderbuch auseinander. Ich war mit meiner Arbeit damals eine Art Frühindikator und Vorreiter für viele wissenschaftliche Arbeiten, die sich nach mir mit Rassismus im Kinderbuch beschäftigt haben. Und alle Arbeiten kommen unisono zu dem gleichen Ergebnis, dass gerade im Kinderbuch Rassismus auch heute noch gang und gäbe ist – nicht nur im Kinderbuch, sondern ganz Allgemein in den Populärmedien, in der Bild-Zeitung, in der sog. Trivialliteratur, also im Alltag. Deswegen eben der Titel meiner damaligen Arbeit "Alltäglicher Rassismus" oder latenter oder struktureller Rassismus. Wie Rassismus in der EU heute en detail aussieht kann man recht gut den Berichten der Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bei der EU-Agentur für Grundrechte in Wien entnehmen.

MM: Bereits in Bezug auf die Operation Balkan haben Sie Werbung und Public Relations für Krieg und Tod kritisiert. Seither ist Deutschland in viel mehr Kriegen engagiert. Kann Kommunikationsforschung die mögliche Verrohung einer Gesellschaft überhaupt feststellen und hat sie Instrumente, um Sensibilität für das Leid, das durch Krieg entsteht, zu fördern?

Prof. Becker: Selbstverständlich kann man als Wissenschaftler die Verrohung einer Gesellschaft feststellen, auch und gerade als Kommunikationswissenschaftler. Solche Zusammenhänge sind empirisch messbar. Ich gebe mal ein paar Beispiele: Von 1986 bis 1994 nahm bei ARD und ZDF der Anteil von Gewaltdarstellungen in den Nachrichten- und politischen Informationssendungen zu. Oder: Heutzutage geben Regierungen bei weitem mehr Geld zur medialen Beschönigung ihrer eigenen Kriegsführung (= Propaganda) aus als früher. Oder: Nach den Forschungsarbeiten des US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftlers Professor Dr. George Gerbner (Kultivierungsanalyse) ist davon auszugehen, dass die Zahl der Leichen, denen Kinder im US-amerikanischen TV-Programm ausgesetzt werden, von Jahr zu Jahr ansteigt. Also: Solche Trends lassen sich gut messen und feststellen; dagegen anzugehen, ist freilich viel schwieriger, vor allem deswegen, weil man gegen ein gewaltiges und mächtiges Konglomerat von unternehmerischen Profitinteressen und die sie abstützenden Regierungen angehen muss. Es kommt ein weiteres Problem insofern hinzu, als es bei weitem einfacher ist, die Menschen mit Medienfeindbildern aufeinander zu hetzen als sie mit Hilfe der Medien zu friedlichen Lämmern zu erziehen.

MM: Gleich mehrfach haben Sie sich inzwischen kritisch zum neuen Feindbild Islam geäußert. Worin steckt die Gefahr für die Westliche Welt?

Prof. Becker: Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass Feindbilder stets mehr über den aussagen, der sie äußert als über den, dem sie gelten sollen. Mit anderen Worten: Wer über die vermeintlich typische Gewalt im Islam herzieht, der hat meistens selber ein Problem mit Gewalt – siehe meine vorige Antwort. Des weiteren ersetzt das Feindbild Islam natürlich das alte anti-kommunistische Feindbild aus dem Kalten Krieg. Diesen Wechsel kann man exemplarisch an den Zeitungsartikeln des konservativen Journalisten Herbert Kremp in "Die Welt" nachvollziehen. Wenn man aus seinen anti-kommunistischen Hasstiraden der 60er und 70er Jahre das Adjektiv "kommunistisch" in das Adjektiv "islamisch" umtauschte, dann bräuchte dieser Autor keine eigens neu geschriebenen anti-islamischen Artikel mehr zu schreiben. Seine gegenwärtigen Essays gegen den Islam passen 1:1 in sein altes Anti-Kommunismus-Schema. Es gibt des weiteren viele höchst problematische Aspekte des Feindbildes Islam für "den Westen".

MM: .. und die wären ... ?

Prof. Becker: "Der Westen" verdrängt zum Beispiel, dass der Islam integraler Bestandteil der europäischen Kultur ist (Andalusien, Sizilien, Bosnien) und dass eine europäische Aufklärung ohne den Übersetzungstransfer der griechischen Klassiker ins Arabische nicht denkbar gewesen wäre. Gefährlich ist dieses Feindbild aber außerdem auch, weil es dem, der es äußert, eine vermeintliche Sicherheit im eigenen als gut empfundenen Leben vorgaukelt, die schon lange nicht mehr gegeben ist. Europas ökonomische und soziale Fundamente sind inzwischen derartig stark im Wanken begriffen, dass alle nach außen projizierten Feindbilder eine realitätsadäquate Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit blockieren. Doch jenseits der Wahrnehmungs- ist auch noch eine Interessensdiskussion zu führen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der alten Bi-Polarität USA-UdSSR gruppiert sich die globalisierte Welt neu. Beim Willen zu eigenständigem Leben und Überleben erfordert Europas Interesse bei der Gestaltung seiner Außenbeziehungen (Außenhandel, Sicherheit, Energie, Migration usw.) eine Relativierung seiner bisherigen engen transatlantischen Beziehungen zu den USA und stattdessen eine Renaissance seiner Beziehungen zu den Entwicklungsländern und besonders zu der arabischen Welt. Vor dem Hintergrund dieses Interesses sind anti-islamische Feindbilder für Europa sogar ausgesprochen kontraproduktiv.

MM: Ein Aspekt eines jeden Feindbildes, unabhängig davon wie sehr es sich an der Realität orientiert, ist die Kommunikation. Woran mangelt es derzeit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen?

Prof. Becker: Eine Antwort auf diese Frage ist schwieriger als man denkt, denn die nahe liegende Antwort, es müsse zwischen Muslimen und Nichtmuslimen mehr Kontakt geben, dann würden sich Feindbilder von alleine abbauen, stimmt so nicht. Generell gilt vielmehr, dass Feindbilder relativ unabhängig von ihrem so genannten Realitätsgehalt existieren. Und aus zahlreichen Tourismusstudien weiß man, dass Touristen aus einem fremden Land unter Umständen mit mehr Vorurteilen zurückkommen als sie sie vor der Reise in dieses Land sowieso schon hatten. Abbau von Feindbildern hieße vor allem ein Abbau von Ängsten auf beiden Seiten und weiter hieße es für beide Seiten, Gesellschaften so aufzubauen, dass sie friedlicher, gerechter und sozialer sind als es gegenwärtig der Fall ist. Überspitzt formuliert: Wer wie in Deutschland seit rund 15 Jahren weiter an der Schraube der Auseinanderentwicklung von Arm und Reich dreht, schafft (unter anderem) einen idealen Nährboden für Islamfeindlichkeit.

MM: So schlecht das Bild von Muslimen derzeit in Deutschland ist, so wenig bekommt die deutsche Bevölkerung mit, wie sehr ihr eigenes Ansehen in der muslimischen Welt an der derzeitigen nahezu grenzenlosen Ankopplung an die US-Politik leidet. Gibt es nicht genügend Medienforscher, die das Land über diese Entwicklung aufklären?

Prof. Becker: Zum einen: Dass Deutschland so schlecht über die muslimische Welt unterrichtet ist, ist eher ein Problem der Medien als eines der Medienforscher. Man kann davon ausgehen, dass Entwicklungsländer - und die muslimische Welt ist zum größten Teil auf der südlichen Hälfte unserer Erdkugel - an den Inhalten unserer Medien durchschnittlich nur mit einem Anteil von 1 bis 2 Prozent beteiligt sind. Diese Unterrepräsentanz hat sehr viel mit der Ökonomie privatwirtschaftlicher Medien zu tun, in der vorzugsweise nur die Rezipientenmärkte bedient werden, die ökonomisch groß und wichtig sind. Zum anderen: Eine "grenzenlose" Ankoppelung Deutschlands an die USA – wie Sie das formulieren – in Bezug auf die muslimische Welt sehe ich so nicht. Ich konnte beispielsweise bei der Berichterstattung der deutschen Presse über den Irak-Krieg sehr deutlich heraus arbeiten, dass es in Deutschland erhebliche Vorbehalte gegen den politischen Kurs der USA gegenüber dem Irak gibt. Freilich wünschte ich mir eine noch größere Distanz zu den USA als es gegenwärtig der Fall ist.

MM: Vor einigen Jahren haben Sie – aus unserer Sicht als einer der wenigen Mutigen – das "Manifest der 25: Deutsche Wissenschaftler für mehr Vernunft in der deutschen Nahostpolitik" mit unterzeichnet. In der Folge waren mehrfach deutsche Spitzenpolitiker in Israel und haben derart einseitig für die Regierungspolitik in Israel und faktisch gegen die Palästinenser ergriffen, wie es die deutsche Politik in den letzten Jahrzehnten kaum erlebt hat; so zumindest unser Eindruck. Ist Ihr Manifest überhaupt nicht erhört worden?

Prof. Becker: Doch, unser Manifest ist inhaltlich durchaus wahr- und ernstgenommen worden - wenn ich mal von dümmlichen und aggressiven Attacken im Netz absehe. Es gab dazu eine Serie von Beiträgen in der "Frankfurter Rundschau", sowie eine ganze Reihe von zustimmenden und ablehnenden, sowohl gedruckten als auch ungedruckten, Leserbriefen. Das findet sich alles in der über 200 Seiten umfassenden Dokumentation meines Mitautors Reiner Steinweg im Auftrag des "Forum Crisis Prevention" unter http://www.crisis-prevention.info. Wir haben aufgrund des Manifests eine Einladung der Friedrich Ebert-Stiftung und des Netanya Institute for Strategic Dialogue nach Israel erhalten und das Manifest dort, aber auch mit palästinensischen Politikern in Jerusalem, vorgestellt und diskutiert. (Der in Vorbereitung befindliche zweite Band der Dokumentation wird darüber und über die Weiterentwicklung der Debatte berichten). Natürlich trifft es zu, dass die offizielle Politik von unserem Manifest keine Notiz genommen hat. Doch Aktionen wie diese haben ja in aller Regel eher länger- als kurzfristige Wirkungen und unser Manifest muss doch auch im Zusammenhang mit zeitgleich gestarteten ähnlichen Initiativen gesehen werden. Ich denke hier z. B. an die Aktivitäten des jüdischen Medizinprofessors aus Lübeck Rolf Verleger und seine Online-Petition "Shalom 5767" oder an die jüdische Gruppierung "A Time to Speak Out" in England (vgl. das von Karpf/Klug/Rose/Rosenbaum herausgegebene Buch "A Time to Speak Out. Independent Jewish Voices on Israel, Zionism and Yewish Identity" (London: Verso 2008).

MM: Wie sieht Ihr zukünftiges Engagement für eine friedlichere Welt aus?

Prof. Becker: Das weiß ich noch nicht so genau - und außerdem wird bei meinem Alter von 63 Jahren der vor mir liegende Planungszeitraum immer kleiner - auch deswegen, weil ich mein Leben viel weniger verplane als früher. Ich lasse nun Vieles einfach strömen. Aber, erstens: Da ich immer mehr realisiert habe, wie schwer es ist, die "große" Politik zu verändern, habe ich mich in den letzten Jahren verstärkt auf die "kleine" Politik hier in Solingen eingelassen und zwar in einer recht erfolgreichen Bürgerinitiative gegen die Privatisierung kommunalen Eigentums. Da werde ich am Ball bleiben. Zweitens liegt mir nach wie vor das deutsch-türkische Verhältnis ganz besonders am Herzen. Und ich freue mich schon darauf, dass ich Ende Februar 2010 einen Vortrag an der Hacettepe-Universität in Ankara halten darf. Und drittens wird es mir auch in Zukunft mit dem einen oder anderen Beitrag darum gehen, an einer tragfähigen Verbindung zwischen Religion, Sozialismus und Frieden mitbauen zu können. In diesem Sinne freue ich mich auf meinen ersten Vortrag über den Islam und zwar in der Friedenskapelle Vosshagen im bergischen Hückeswagen im Oktober diesen Jahres.

MM: Prof. Becker, wir danken für das Interview.

Prof. Becker: Friede sei mit Euch – schalom – salam alaikum!

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