MM: Sehr geehrter Herr Weiberg, wie kommt
man dazu, sich intensiv mit den Tagebüchern einer Großherzogin von Oldenburg
zu beschäftigen, die dieses Jahr 140 Jahre alt geworden wäre, was war ihre
Motivation?
Weiberg: Zu dem Thema des Buches kam ich
zunächst zufällig, entwickelte aber zunehmend Interesse und Begeisterung an
der spannenden Geschichte der deutsch-türkischen oder besser gesagt
deutsch-osmanischen Beziehungen vor 1918. Bei den Recherchearbeiten zu
meinem Buch über die Verlobung und Verheiratung des letzten deutschen
Kaiserpaares, also Kaiser Wilhelm II. und Kaiserin Auguste Victoria, wurde
ich auf die in Familienbesitz befindlichen Reisetagebücher der Großherzogin
Elisabeth von Oldenburg (1869-1955) aus den Jahren 1899 und 1902 aufmerksam.
Nach einer ersten Durchsicht wurde mir schnell klar, dass ich da einen
Schatz in Händen hielt, der einem breiteren Leserschaft zugänglich gemacht
werden sollte. Als ich dann noch einen weiteren Reisebericht von einem ihrer
Begleiter entdeckte, entschied ich mich auch ihn zu veröffentlichen, denn er
beschreibt in sehr anschaulicher Art die schillernde Metropole Istanbul -
oder Konstantinopel, wie die Europäer ganz unkritisch damals noch sagten -
im Jahr 1902, also vor den großen Umwälzungen, die 1909 mit der Revolution
der Jungtürken einsetzten. Damit der heutige Leser einen Einstieg in dieses
Thema findet, habe ich zwei einleitende Kapitel geschrieben - eines
beschäftigt sich mit den deutsch-osmanischen Beziehungen um 1900, und das
andere mit Reisen fürstlicher Frauen im Wandel der Zeit.
MM: Die Frau scheint ja viel gereist zu
sein, u.a. zu den Kalifen der Osmanen, was können wir von ihr bisher
weniger Bekanntes über die damaligen deutsch-osmanischen Beziehungen
erfahren?
Weiberg: Der Leser erfährt eine ganze
Menge von der Atmosphäre der deutsch-osmanischen Beziehungen vor 1918.
Das deutsche Kaiserreich war als einzige europäische Großmacht damals an
einem Erhalt des Osmanischen Reiches interessiert. Dafür waren aber
keineswegs idealistische Motive ausschlaggebend. Deutschland sah - aus
heutiger Sicht ganz modern - das riesige Osmanische Reich als
Absatzmarkt für seine Produkte! Im Rahmen seiner Kolonialpolitik gegen
Großbritannien wollte Deutschland außerdem das Osmanische Reich enger an
sich binden, was lag näher, als Freundschaft mit dem Sultan zu knüpfen?
So muss man diesen Fürstenbesuch 1902 verstehen, er diente der Festigung
der beiderseitigen guten Kontakte. Politische Gespräche wurden natürlich
nicht geführt, das war dem Kaiser und seinen Diplomaten vorbehalten,
aber man lernte sich kennen, zeigte Interesse und baute herrschende
Vorurteile ab. Anfang 1902 hatten sich die Deutschen und die Osmanen
über den Bau der Bagdad-Bahn verständigt, dieser Vertrag bildete
sicherlich den Hintergrund für den Besuch des oldenburgischen
Großherzogspaares und seinen freundlichen Empfang in Istanbul.
MM: Und was haben die Besucher dem
Gastgeber als Geschenk mitgebracht?
Weiberg: Bei meiner Beschäftigung mit
diesem Thema bin ich auf sehr aufschlussreiche Kleinigkeiten gestoßen:
Die beiderseitigen Beziehungen werden auch in den Geschenken deutlich,
die man sich machte: Der Sultan erhielt einen Elefanten aus
Halbedelsteinen, der in einer Oldenburger Werkstatt entstanden war, das
Großherzogspaar erhielt wertvolle Teppiche, Porzellane und Seidenstoffe.
Da Kaiser Wilhelm II. gerne Birnen aß, ließ ihm Sultan Abdülhamid II.
sogar ab und an eine Kiste mit besonderen Birnen aus den Yildiz-Gärten
senden, der deutsche Kaiser schenkte dem Sultan, mit dem er persönlich
befreundet war, einen goldenen Spazierstock, der einem Stock des
preußischen Königs Friedrich des Großen nachgebildet war. Die
Großherzogin, die eine gute Beobachterin war, liefert uns außerdem ein
sehr genaues Bild des Sultans. Abdülhamid II. wird bis heute in der
europäischen Literatur häufig völlig verzerrt dargestellt, er gilt als
wahnsinnig, grausam und völlig ungebildet. Großherzogin Elisabeth
schildert ihn als einen charmanten, würdigen Mann, der sich seinen
oldenburgischen Besuchern zunehmend öffnete, je länger er sie
kennenlernte. Am Ende des Besuches stellt der deutsche Botschafter
erstaunt fest, dass noch niemals der Sultan so heiter und offen erlebt
wurde wie bei dem Besuch des Großherzogspaares. Also hatte man das Ziel
der Reise erreicht!
MM: Was können Muslime für Eigenarten
des osmanischen Hofzeremoniells erfahren, das zu jener Zeit ja nicht
einmal mehr äußerlich etwas mit dem Islam zu tun hatte?
Weiberg: Das ist richtig, der osmanische
Hof hatte sich seit etwa 1830 zunehmend europäisiert, aber dennoch
hatten sich wichtige Bestandteile erhalten, die die Würde des Sultans
als Kalif betonten. Viele europäische Besucher berichten auch darüber.
So ließ der Sultan bis 1918 jedes Jahr die sogenannte "Heilige Karawane"
ausrüsten, die Geschenke und ein besonderes Schreiben an den Scherifen
von Mekka in diese heilige Stadt brachte. Der Abmarsch dieser großen
Karawane von Istanbul muss ein farbenprächtiges Schauspiel gewesen sein,
bei dem der Hof in den Augen der Europäer seinen orientalischen Glanz
entfaltete. Das gilt auch für den bis 1918 ganz besonders pompös in
Szene gesetzten wöchentlichen Moscheebesuch des Sultans. An diesem
sogenannten "Selamlik" nahmen als Zuschauer Tausende von Menschen teil,
wobei die europäischen Ehrengäste des Sultans eingeladen wurden von
einem speziellen Kiosk der an der Moschee unterhalb des Yildiz-Palastes
errichtet wurde, dem Zug der Hofbeamten, Sultaninen und des Sultans zur
Hamidyie-Moschee beizuwohnen. Ein scheinbar islamisches Merkmal war auch
bis um 1920 die Existenz des Harems, wobei der Sultan mehr Frauen hatte,
als der Prophet es erlaubte. Dieser Harem erregte sehr die Phantasie der
europäischen Besucher, die völlig falsche Vorstellungen vom Leben in
diesem Teil des Palastes hatten. Der Leser erfährt außerdem interessante
Details des Hoflebens: In der Gegenwart des Padischahs durfte nur
geflüstert werden, was die Großherzogin sehr irritierte, da sie
schwerhörig war. Außerdem sprach der Sultan nur türkisch mit seinen
Gästen, ihn direkt anzusprechen war verboten, so dass immer über einen
der Minister gedolmetscht werden musste. Allerdings verstand der Sultan
sehr gut französisch. Die Damen durften in Gegenwart des Herrschers
Zigaretten rauchen, mussten dies sogar tun, wenn er ihnen Zigaretten
anbot. In Europa wäre das damals völlig unvorstellbar gewesen, das
Rauchen galt für Damen als total unpassend. Man erfährt aber auch
Kleinigkeiten, die sonst kaum berichtet werden: Die Mannschaft des
Schiffes, mit dem der Großherzog gekommen war, wurde jeden Tag aus der
Küche des Sultans mit Brot, Butter, Kefir (was keiner von den Europäern
damals kannte!) und Sekt versorgt.
MM: Sind sie sicher, dass die
Schiffsmannschaft Sekt erhalten hat? Damen als Gäste, die Zigarre
rauchen müssen, während die eigenen dutzenden Ehefrauen gar nicht dabei
sind und Sekt für die Schiffsmannschaften, gab es denn kein Befremden
der gebildeten Gäste über solch einen merkwürdigen Islam?
Weiberg: Die Sitte mit den Zigaretten
hat die Großherzogin doch etwas erstaunt, aber sie nahm es hin, zumal
sie offenbar auch in Deutschland rauchte, allerdings sicherlich nicht
bei offiziellen Empfängen des Hofes in Oldenburg. Man darf nicht
vergessen, dass sie natürlich so erzogen war, dem Wunsch eines Kaisers,
als das galt ja der Sultan in Europa, zu gehorchen. Gegenüber Kaiser
Wilhelm II. war das kaum anders. Die Großherzogin und der Adjutant des
Großherzogs sprechen beide in ihren Berichten von Sekt für die
Schiffsmannschaft, das scheint zu stimmen. Befremdet waren sie nicht,
sie nahmen es als sehr tolerante Geste der Muslime gegenüber den
Europäern, denn sie berichten auch beide, dass ihnen bei den offiziellen
Diners an der Tafel des Sultans im Yildiz-Palast nur Wasser serviert
wurde.
MM: Was lässt sich zum damaligen Dialog
zwischen Christentum und Islam aus den Tagebüchern herauslesen?
Weiberg: Die Großherzogin selbst gibt im
Tagebuch folgendes Gespräch mit dem Sekretär des Sultans wieder. Jener
Sekretär, Achmat Izzat al-'Abid, kurz Izzat-Bey genannt, war einer der
wichtigsten Hofbeamten und Politiker dieser Zeit. Dass sie selbst sehr
religiös war zeigt sich in folgendem Gespräch sehr deutlich - und auch,
dass sie dem Islam voller Achtung und ohne Vorurteil entgegentrat. Die
Großherzogin schreibt: „Wir sprachen über Mohamedismus und
Christentum, wir sagten, dass wir doch nur eine Geschwisterschar eines
Vaters seien, und dass dieses Gespräch doch wieder ein schlagender
Beweis für diese Wahrheit sei, denn wo sich die Menschen vorher nie
gekannt, sich nie gesehen [...], doch auf der einen Basis des
Gottesglaubens fänden, da reichten sie sich die Hände als Geschwister,
als Kinder eines Vaters, also als Bekannte. Er [Izzat-Bey] sagte, die
Lebensaufgabe jedes Menschen sei, seine Seele so rein Gott abzuliefern,
wie er sie ihm bei der Geburt gegeben; ich sagte unter allen Menschen
nur Liebes anzutun und nie ein Leid, und das bestätigte er.“
MM: Wie kam es dazu, dass Selim Djem (Cem),
der Nachkomme eines Sultans, einleitende Worte zu Ihrem Buch verfasst
hat?
Weiberg: Über den "Ottoman Club", einen
osmanischen Geschichtsverein in Köln und seinen sehr engagierten
Vorsitzenden Herrn Marz habe ich Kontakt zu Prinz Selim Djem, der in der
Schweiz lebt, aufgenommen. Der Prinz ist sehr interessiert an der
Geschichte seiner Familie und des Osmanischen Reiches. Ich schickte ihm
mein Typoskript und nach kurzer Zeit erhielt ich die Zusage, dass er ein
Vorwort schreiben würde. Der Prinz ist dann auch als Ehrengast auf
Einladung der Herausgeber des Buches in Oldenburg bei der
Buchvorstellung dabei gewesen und hat einen interessanten Vortrag
gehalten.
MM: Wie waren die Reaktionen auf das
Buch?
Weiberg: Die positiven Reaktionen
besonders aus der Gruppe der Menschen, die durch Herkunft oder Interesse
mit der Türkei verbunden sind, sind für mich erstaunlich groß und freuen
mich sehr. Es ist eben eine Gelegenheit sich einen Aspekt der
gemeinsamen Geschichte zu erschließen, von dem ich bislang auch wenig
wusste, der mich aber zunehmend so interessiert, dass ich bereits an
einem neuen Buch arbeite, dass sich mit Sultan Abdülhamid II. befasst.
MM: Kaiserreich und Osmanisches Reich
sind beide Geschichte. Kann man denn aus der damaligen Zeit etwas
sinnvolles für heute ableiten?
Weiberg: Ja, natürlich kann man das. Ein
Fazit aus der gemeinsamen Geschichte muss sein, dem Gegenüber, in diesem
Fall die Türkei, als gleichberechtigt zu akzeptieren. Als Freund darf
ich auch Dinge kritisieren oder Veränderungen anregen, aber das muss
immer mit Augenmaß geschehen - und mit dem Bewusstsein, dass die
Geschichte einen langen Atem hat, dass es also langsam gehen kann. Das
Osmanische Reich wollte sich damals Europa ebenso annähern wie die
Türkei heute. Ob die Europäer allerdings aus ihrem sehr fragwürdigen
Verhalten von damals gelernt haben und heute - mehr als einhundert Jahre
später - sensibler vorgehen, erscheint mir immer wieder fraglich, wenn
ich an die aktuelle Situation denke. Als militärischer Partner war das
Osmanische Reich für Europa damals ebenso wichtig wie die Türkei heute,
wenngleich sich die Beweggründe sehr geändert haben. Auf die große
Bedeutung der Wirtschaftspolitik bin ich ja oben schon eingegangen,
daran hat sich bis heute nichts geändert. Allerdings hat die Türkei im
Vergleich zu dem Osmanischen Reich bedeutend an politischem und
wirtschaftlichem Gewicht gewonnen, diese Tatsache verändert auch ihr
Auftreten gegenüber den europäischen Partnern.
Die Ende des 19. Jahrhunderts begründete,
zukunftsweisende deutsch-osmanische Freundschaft war der Ausgangspunkt
für viele deutsch-türkische Berührungen im 20. Jahrhundert: Ich erinnere
nur daran, dass viele Juden nach 1933 in der Türkei Aufnahme fanden, als
sie in Deutschland nicht mehr leben durften. Dazu gehörte auch Hans
Poelzig, der schon 1916 einen Entwurf für das "Haus der Freundschaft" in
Istanbul lieferte.
MM: Herr Weiberg, wir danken für das
Interview.
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