Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Verena Tobler
 

Muslim-Markt interviewt
Verena Tobler Linder, Expertin für interkulturelle Kommunikation

30.6.2009

Verena Tobler Linder (Jahrgang 1944) ist in Winterthur in der Schweiz geboren. Sie hat eine Erstausbildung als Primarlehrerin, später das Lizenziat in Ethnologin und Soziologin (Universität Zürich) sowie ein Diplom in Supervision und Organisationsberatung erworben.

Seit 2002 übt sie eine selbständige Lehr-, Kurs-, Referats- und Beratungstätigkeit aus, insbesondere zum Thema „Interkulturelle Konflikte und deren Überwindung“. Sie erteilt Kurse zur interkulturellen Kommunikation und Integration für: Spital-, Psychiatrie und Gefängnispersonal, für Schulen, Krippen, Horte, Mitarbeitende von Sozialämtern, Gemeinden, Gerichten, des Bundesamtes für Flüchtlinge und Immigration und andere vom Thema Betroffene.

Dabei greift sie auf ihre umfangreiche Theoriearbeit zurück, die sie als Dozentin für "Internationale Migration und Kulturkonflikte" an der Universität Zürich (1977-79, 1984-86) sowie an Lehrveranstaltungen zu den "Ursachen und Wirkungen der Migration" an der Universität Bern am Institut für Entwicklungssoziologie (1989-90) leistete. Nachdem sie die Theorie durch viele Jahre Praxis ergänzt hatte, wurde sie Dozentin für "Interkulturelle Kommunikation und Integration" an der Fachhochschule für Soziale Arbeit Zürich (1993-2002).

Auch als Selbständige ist sie weiterhin für Fachhochschulen tätig, fokussiert aber nun ihren eigenen Ansatz: Kernkultur. Sie hat dieses Konzept und Instrument zur inter-kulturellen Integration auch an der Sommerakademie der ETH Zürich in Cortona/Italien (2002, 2006) und in der BRD an der Fachhochschule Braunschweig (2002, 2006) sowie in der Studienwoche der Universität Ilmenau (2009) vorgestellt. In ihrer insgesamt 25 Jahren Lehrtätigkeit an Universitäten, Fachhochschulen und Volkshochschulen hat sie sich stets auf ihre reiche Praxiserfahrung abgestützt: Sie hat in der Schweiz 10 Jahre mit Flüchtlingen und Asyl Suchenden aus aller Welt gearbeitet. Vorher war sie in armen Weltregionen für UNHCR, WFP, Concern, Oxfam, den Swedish Children Fund, die DEZA (Direktion für Entwicklungszusammenarbeit) tätig.

Ihre Arbeit hat sie auch in viele Länder der muslimischen Welt, wie Sudan, Bangladesch und Pakistan gebracht, wo sie sich intensiv mit der Religion des Islams und mit den Ordungsvorstellungen muslimischer Völker auseinander gesetzt hat. Von Ihren Erfahrungen profitieren zahlreiche Organisationen und Gremien, in denen sie mitgearbeitet hat oder bis heute Mitglied ist – u. a.:

Beratende Kommission für die Hilfe an Entwicklungsländer des Stadtrats von Zürich (seit 1994); Stiftungsrat der Swiss Aid in Bern (seit 1987); Gesellschaft zur Förderung der Ethischen Forschung (1993-2001), Flüchtlingskommission des Schweizerisches Arbeiterhilfswerks (1986-1989); Stiftungsrat der Pestalozzi Kinderdorf Stiftung (1983-1986); Team 72, eine Selbsthilfeorganisation von Strafentlassenen (1975-1976). Es würde den Rahmen einer Kurzvorstellung sprengen, alle ihre Ämter aufzulisten. Sie ist in der Schweiz auch bekannt durch zahlreiche Radiosendungen, Interviews, Mitwirkung in TV-Programmen zu den Themen: Migration, Kulturkonflikt, Konfliktkultur, Rassismus, ungleiche Entwicklung.

Sie ist Autorin zahlreicher Aufsätze – ein Teil davon ist zu finden auf: www.kernkultur.ch.

Frau Tobler Linder ist verheiratet und lebt in Zürich.

MM: Sehr geehrte Frau Tobler. Wenn Sie einen Muslim im deutschsprachigen Raum treffen, ihm in aller Höflichkeit die Hand reichen und er sich entschuldigt, dass er Ihnen nicht die Hand gibt, weil er aus religiösen Gründen nur seine eigene Frau und nahe Verwandte des anderen Geschlechts berühren darf, fühlen Sie sich dann nicht zurückgewiesen?

Tobler: Im Gegenteil! Ich schäme mich, weil ich ja wissen sollte, dass es gläubigen Muslimen untersagt ist, "fremde" Frauen zu berühren. In Bangladesh, Pakistan, im Iran habe ich gelernt, dass das aus der Sicht gläubiger Muslime eine Form des Respektierens ist. Auch als ich mit jenen Paschtunen arbeitete, aus deren Reihen sich später die Taliban rekrutierten, haben mir diese Männern stets größten Respekt erwiesen. Als reisende UN-Delegierte wurde ich sozial als Mann behandelt. Betrat ich in meiner Funktion dann aber ein Haus oder Zelt, so baten mich die Männer stets darum, meine Schuhe auszuziehen, um den "Heiligen Bezirk" der Frauen nicht zu beschmutzen.

Mir wurde erklärt, dass im muslimischen Kontext der Respekt, den Männer und Frauen, Junge und Alte einander gegenseitig schulden, das Ideal und die unverzichtbare Basis für das Zusammenleben ist. Respekt ist also der Schlüssel zum Verstehen der muslimischen Sozialordnung.

MM: Als Integrationsexpertin haben Sie viel mit Muslimen zu tun. Ist Ihres Erachtens eine Muslima mit Kopftuch integrierbar?

Tobler: Selbstverständlich! Sowohl religiös als auch traditional orientierte Menschen bringen wunderbare Integrationsressourcen mit - das gilt besonders für Muslimas und Muslime. Doch die meisten Menschen, die von den weltwirtschaftlichen Rändern kommen, werden noch in gemeinschaftliche Vorstellungen einkulturiert, die Rechte und Pflichten balancieren. Nur ist diese Balance im Islam besonders wichtig und auch im europäischen Alltag vieler Immigrationsfamilien aus der Türkei, aus Kosovo, Algerien etc. zu finden. Demgegenüber werden in den westlichen Wohlfahrtsstaaten nur noch die individuellen Rechte betont. Die entsprechenden Pflichten sind vergessen oder werden verdrängt – ein wichtiger Grund dafür, dass bei uns die gesellschaftliche Integration abnimmt. Dennoch gilt: Zum einen lernen Menschen u. U. rasch und gern, dass sie hierzulande Rechte o h n e Pflichten haben, zum andern braucht es eine adäquate interkulturelle Übersetzung, soll der Brückenschlag zwischen religiösen und zivilgesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen gelingen.

MM: Wie stehen Sie zu den Bestrebungen verschiedener europäischer Länder, praktizierende Muslimas in verschiedenen Bereichen, sei es durch Schulverbot in Frankreich oder Berufsverbot in Deutschland, auszugrenzen?

Tobler: Diese Bestrebungen sind unsinnig und kontraproduktiv, ja in einigen Fällen klar rassistisch motiviert. Und wenn Sarkosy sich über die Burka empört, so weil er ihr seine eigene Bedeutung "unterstellt". Damit verpasst er eine doppelte Lernchance: Zunächst unterlässt er es, nach der Bedeutung zu fragen, welche diese Bekleidung im Islam hat. Wie habe ich "meine" Freiheit genossen, als ich im Iran, zwar mit Kopftuch bedeckt, jedoch als reisende Frau nie und nirgends behelligt oder belästigt wurde – ein überraschendes Paradies. Zudem vermag dieser sonst doch so gewitzte Staatspräsident nicht über seine eigenen Vorstellungen nachzudenken: Warum gehört es in Frankreich zur Freiheit und Würde der Frau, sich nackt fotografieren zu lassen? Wie wichtig ist, dass sie dafür Geld erhält? Denn würde das Nacktfoto ohne ihren Willen und ohne Bezahlung geknipst und veröffentlicht, wäre das ein Delikt. Würde sie sich aber "gratis" zur Schau stellen, wären ihr Spott und Verachtung sicher. So könnte Sarkosy einiges über die Kapitalisierung des weiblichen Körpers lernen und gründlicher über die Freiheit und Würde der Frau nachdenken. Mit Blick auf Ihre Frage schlage ich vor, mit der muslimischen Gemeinde in Dialog zu treten: Der Grad der Verhüllung hängt ja u. a. vom Grad der Sicherheit und Vertrautheit ab, den muslimische Gläubige im jeweiligen Kontext wahrnehmen. Denn der Islam kennt Unterschiede zwischen der Straße, dem Schulzimmer, der Familie und dem Ehebett.

MM: Und was schlagen Sie einem Betriebsleiter vor, bei denen eine Reihe von Muslimen tätig sind, die nicht zur Weihnachtsfeier kommen wollen, nicht wegen dem Anlass, sondern weil dort Alkohol ausgeschenkt wird?

Tobler: Warum können wir, wenn wir doch so rigoros rauchfreie Restaurants anordnen, nicht auch alkoholfreie Betriebsfeste erfinden? Denn sexuelle Belästigungen und Übergriffe nehmen mit dem Alkoholpegel massiv zu und sind ja per Gesetz verboten! Spaß beiseite.

Ich bin zwar eine äußerst nüchterne Frau, trinke aber gern mal einen Schluck Wein. Wohlwissend, dass mein Vorschlag eine starke Dynamik auslöst: Entweder will die Belegschaft alle dabei haben – und dann verzichtet sie auf Alkoholkonsum, oder die Mehrheit will dem Alkohol zusprechen - dann aber akzeptiert und respektiert sie, dass gläubige Muslime fernbleiben. Der Betriebsleiter könnte auch mit Untergruppen experimentieren: die eine mit Alkohol, die andere ohne! Weil der Alkohol oft nicht nur schamlos, sondern viele auch noch dumm macht, würde ich vermutlich bei den "von Alkohol Freien" mitfeiern.

MM: Vor einigen Jahren haben Sie eine Publikation zum Thema "Kulturelle Dominanz des Westens und der Kampf der Kulturen" veröffentlicht. Was ist darunter zu verstehen? Müssen jetzt alle Männer in der Welt zu bestimmten Anlässen Krawatte tragen?

Tobler: Nein, ich habe mit dem Text auf den Politologen Huntington reagiert, den ich für strukturblind halte. Blind dafür, dass erstens im Kern einer jeden Kultur verbindliche Ordnungsvorstellungen gelten, dass diese zweitens von der Position eines Landes in der Weltwirtschaft bzw. von dessen Zugriff auf Ressourcen abhängen. Die Sozialordnung früherer Gesellschaftsformationen wurde auf der Basis von Tradition oder Religion geregelt. Im Abendland entstanden - im Zuge der Herausbildung von Handel, Geld und Kapital - Staaten, in denen das Recht unabhängig von der Religion gemacht und durchmonetarisiert wurde. Inzwischen ist es bei uns ohne Geld nicht mehr zu haben. Konkreter: Richterinnen, Rechtsanwälte, Polizisten arbeiten gegen Lohn; Ausbildung, Gerichte, Gefängnisse kosten Geld; die Bevölkerung wird mit Bußen und Haftstrafen diszipliniert. All das ist n u r möglich, so lange die Bevölkerungsmehrheit ein formelles Erwerbseinkommen hat. Deshalb versagt das westliche Ordnungsmodell in Ländern, wo der Staat kaum Steuern oder Bußen einziehen kann, weil die Bevölkerungsmehrheit keine formellen Erwerbsarbeitsplätze hat. Auch die westliche Demokratie setzt diese Strukturbedingung voraus: Es braucht eine Mehrheit, die mit eigenen Erwerbsabgaben Schutz, Sicherheit, Ausbildung für alle und überfamiliäre Solidarnetze finanziert.

Leider sind viele PolitikerInnen für diese "Fundamentals" unserer Sozialordnung so strukturblind wie der Amerikaner Huntington. Nur kommt da noch Geschichtsblindheit hinzu: Denn auch in Europa hatte die Religion einstmals Sinn- und Rechtsfunktion.

MM: Sie argumentieren mit dem "Kern einer jeden Kultur" und Kernkultur.ch ist sogar der Name Ihrer Internetseite. Was ist diese Kernkultur?

Tobler: Ich muss vereinfachen. Aber allgemein kann unter Kultur die symbolische Konstruktion von Welt durch ein Kollektiv verstanden werden. Kernkultur greift jedoch nur die jeweils verbindlichen Ordnungsvorstellungen heraus, also die kontextspezifischen Rechts- und Moralitätsvorstellungen auf deren Basis Sozialverbände je funktionieren. So regeln alle Gesellschaften vier Kernaufgaben verbindlich: Produktion/Konsum, Schutz/Sicherheit, Solidarität/Umverteilung, Erziehung/ Ausbildung. Und um diese Aufgaben verlässlich zu organisieren, kristallisieren sie Kernrollen heraus: verbindliche soziale, affektive, technische Verhaltenserwartungen an ihre Gesellschaftsmitglieder.

In der ungleichen Weltwirtschaft sind nun die kontextspezifischen Ordnungsvorstellungen, also die jeweiligen Kernkulturen um diese Kernaufgaben und Kernrollen, zwangsläufig disparat, d.h. sie scheinen uns widersprüchlich zu sein und werden so konfliktiv.

MM: Und wo ist da der Unterschied zur deutschen "Leitkultur"?

Tobler: Kernkultur ist nicht an nationalstaatlicher Kultur orientiert, sondern das Konzept stützt sich auf wirtschaftliche, soziologische, ethnologische und psychologische Theorie ab. Der Westen übersieht, worauf sein Wohlfahrtsstaat basiert: auf dem grenzenlosen, so unökologischen wie ungerechten Zugriff auf die globalen Ressourcen. Das ist der Grund, weshalb bei uns alle - Arbeitlose, RentnerInnen, Fürsorgeabhängige - per Recht sowohl teilhaben an den Erträgen nationaler Produktivität als auch an den Profiten aus der ungleichen Weltwirtschaft. Die WTO sorgt dafür, dass es so bleibt und westliche Staaten alle vier Kernaufgaben über verbindliche Berufsrollen und formelle Erwerbsarbeit, also gegen Bezahlung, organisieren können.

In armen Ländern herrscht eine völlig andere Situation: Intern sind diese Staaten oft tief gespalten (oder fragmentiert), denn in die Weltwirtschaft integriert sind hier nur die Ober- und Mittelschichten, für die die Kernaufgaben ebenfalls über Geld und Berufsrollen organisiert sind. Die Bevölkerungsmehrheit hingegen, die nicht oder nur prekär in die Weltwirtschaft integriert ist, bleibt darauf angewiesen, dass vormonetäre Kernkultur und Kernrollen, also die Verwandtschafts-, Generationen- und Geschlechterrollen, verbindlich sind: Wer Kernaufgaben erfüllt, erhält hier kein Geld, sondern Anerkennung in Form von Respekt und Ehre, Pflichtvergessene werden mit Verachtung, Schande bestraft.

Zwar führt der Westen vorab Ressourcenkriege, doch ist er auch in Konflikt mit den Ordnungsvorstellungen der weltwirtschaftlichen Ränder: Unser auf Individuen zentriertes Rechtssystem konfligiert mit jedem Recht, das die Gemeinschaft fokussiert, und unabhängig davon, ob dieses Recht traditional oder religiös begründet wird.

MM: Das deutet auf die Substitution der "Selbst"verwirklichung durch eine "Wir"verwirklichung hin. Ist solch ein Ansatz realistisch für die Westliche Welt?

Tobler: Macht ist die Möglichkeit, nicht lernen zu müssen! Tragisch für den Westen, weil er dann an seinen eigenen Widersprüchen zerbricht. Der Westen hat mit seinem Überkonsum die globale Klimakrise ausgelöst und führt gleichzeitig Kriege, um sich seinen unökologischen und ungerechten Zugriff auf die Ressourcen zu erhalten. Noch verrückter: Er legitimiert seine Kriege damit, dass er den andern das Heil der westlichen Kultur bringe – auf deutsch: die durchmonetarisierte Kernkultur aufzwingt. Dabei bräuchte es drei Planeten, wollte der Rest der Welt so leben wie wir. Doch der Westen kommt unter Druck von außen - die Orte, wo sich künftig große Profite erzielen lassen, verschieben sich nach anderswo, und wir konsumieren zunehmend auf Pump - einer der Gründe für die Finanzkrise. Und wenn sich nun unsere Regierungen massiv verschulden, um in ihren Konsumdemokratien an der Macht zu bleiben, ist das ein weiterer Schritt in Richtung Abgrund. Doch Druck kommt auch von innen: In den global genährten Wohlfahrtsstaaten ist der Sinn für die Balance zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen, zwischen bezahlten und unbezahlten Leistungen untergegangen. Am Beispiel der Schweiz: Bei uns werden immer mehr Lebensbereiche und Alltagsaktivitäten verrechtlicht und von bezahlten Professionellen okkupiert bzw. kolonisiert. Elterliche Erziehung wird an professionellen Standards gemessen, und wenn Immigrierte ihre Kinder zur Strafe mal schlagen oder einsperren, sind sie diese rasch los. Neu sollen nun Tanten eine staatliche Bewilligung brauchen, wenn sie ihre Nichten und Neffen hüten wollen. Kinder und Jugendliche werden stattdessen in staatliche Obhut, Heime und Zentren gebracht, wo sie für teures Geld erzogen und nun u. U. für 8000 SFr. im Monat eingesperrt werden.

Was sie bräuchten, erhalten sie so nicht: ein stabiles Beziehungsnetz mit liebenden Erwachsenen, so dass sie im Dialog und gegenseitigen Respekt lernen können, eine gelingende Balance von Rechten und Pflichten auszuhandeln. Kurz - unter dem Unstern des Zugriffs auf die globalen Ressourcen sind bei uns Männer und Frauen in ihren Berufsrollen grenzenlos gefräßig geworden – ja, auch im Sozialbereich!

MM: Was macht denn die Verständigung zwischen der heutigen Westlichen Welt und den traditionalen und religiös orientierten Gemeinschaften so kompliziert?

Tobler: Weil Moral zwar nötig, aber auch schrötig ist. Sie macht blind dafür, dass die fremden Andern selten keine Moral, sondern i.d.R. nur eine andere Moral haben. An drei Schwierigkeiten konkretisiert:

(1) Die Menschen sind sich nicht bewusst, worauf sich ihre Welt- und Menschenbilder bzw. Ordnungsvorstellungen abstützen. Im Islam ist es die Religion, welche den Umgang mit Ressourcen und das soziale Miteinander regelt. Im Westen ist es das Geld – nur will das niemand wahrhaben. Doch erst Geld macht frei im westlichen Sinn.

(2) Viele islamische Länder sind strukturell gespalten: zwischen den Modernisten einerseits und den Traditionalisten bzw. Islamisten andererseits - so in Algerien, der Türkei, im Iran. Doch die Modernisten in Nord und Süd sind nicht in der Lage zu erkennen, was der traditional orientierte Islam für seine Menschen leistet. Noch schwieriger ist die Situation in Schwarzafrika, wo in einem einzelnen Staat oft hunderte Völker ohne überfamiliale Altersversorgung, Krankenkassen, Invalidenrenten zusammenleben müssen. Doch wer nicht mit einer Stimme sprechen kann, wird nicht gehört.

(3) Der Westen orientiert sich in diesem Stimmengewirr erst recht nur an sich selbst. Mit Blick auf die Immigrierten oder z. B. grad jetzt den Iran heißt das: Er anerkennt nur jene Bevölkerungsschichten, die in die monetarisierte Kernkultur integriert sind und die sich den Ordnungsvorstellungen der restlichen Bevölkerung völlig entfremdet haben.

MM: Und wie kann man diese komplizierte Situation entwirren?

Tobler: In dem wir mit jenen, die vermeintlich konträre Ordnungsvorstellungen haben, in einen offenen und respektvollen Dialog treten und die Gemeinsamkeiten erkennen. Wie erwähnt, zeigen die Irritationen, also Ärger, Empörung, Entsetzen, die sich mit Blick auf bestimmte Verhaltensmuster von Fremden einstellen, nur die verletzten eigenen Ordnungsvorstellungen an. Monsieur Sarkosy weiß rein gar nichts über die muslimischen Ordnungsvorstellungen. Diese müsste er zuerst abzuholen, wollte er sich verständigen. Zwar gilt: Alles verstehen heißt nicht, alles zu akzeptieren. Verstehen ist aber die Voraussetzung für Verständigung und Veränderung. Die Frage aber, wer sich künftig in welcher Hinsicht verändern soll, ruft nach differenzierten Antworten:

Es geht darum, Immigrierte mit den hierzulande geltenden Rechtsvorstellungen vertraut zu machen. "Kernkultur" erlaubt, ohne Abwertung über unterschiedlichste Ordnungsvorstellungen nachzudenken. Weil wir die eigenen Rechtsvorstellungen aber nur vermitteln können, wenn das fremde Gegenüber diese an seine eigenen anzudocken vermag, gilt es, hinter den Differenzen die transkulturellen Gemeinsamkeiten zu erkennen – auch das leistet "Kernkultur". Angesichts von Klimaerwärmung und ungleicher Weltwirtschaft hat der Westen gleichzeitig wesentliche Teile seiner eigenen Kernkultur zu verändern und hätte da von den weltwirtschaftlichen Rändern viel zu lernen.

MM: Wir haben mit Handgeben angefangen und hören damit auf. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter, und die wählt den Islam für sich als Lebensweg. Sie läuft nicht nur mit Kopftuch herum, sondern gibt auch einem Teil Ihrer Gäste nicht die Hand. Wie gehen Sie damit um?

Tobler: Töchter des Westens können aus den unterschiedlichsten Motiven zum Islam konvertieren und alle Gründe verdienen Respekt. Z.B. (1) Meine Tochter braucht Aufmerksamkeit, ist vom Fremden fasziniert und versucht, in eine Sonderrolle zu schlüpfen; (2) sie ist vom Grad der Integration und Intensität angezogen, die sie in der muslimischen Glaubensgemeinschaft erlebt, und fühlt sich dort geborgen; (3) sie sucht nach einem Sinn – für ihre Person und für ihr Leben. So würde ich mal abwarten und mit ihr Tee trinken, um zu erfahren, was sie zu diesem Schritt bewegt. Bei Grund Nummer 1 warte ich weiter ab und bete darum, dass meine Tochter zu sich finden kann. Die Gründe 2 und 3 zeigen mir an, dass sie gut unterwegs ist und ich beglückwünsche sie. Eine meiner liebsten Studierenden war eine Schweizerin: zum Islam übergetreten, kam sie mit dem Kopftuch in den Unterricht. Lieb war sie mir, weil sie gründlich und tief über das Leben, die Welt, das Zusammenleben sowie über sich selbst nachdenken konnte.

Persönlich gehöre ich weder einer Kirche noch einer Religion an. Aber ich kann im religiösen Streben der Menschen eine Art Ewigkeitsstreben ausmachen, das in der belebten und der unbelebten Natur steckt. Sehen Sie nachts den Sternenhimmel an! Vielleicht teile ich mit dem Islam die Vorstellung, dass Allah ein Prinzip ist, von dem ich mir weder eine Vorstellung noch ein Abbild mache?

MM: Frau Tobler, wir dank für das Interview.

Tobler: Auch ich danke fürs Gespräch und wünsche den MuslimInnen von Herzen viel Mut und Gelingen in Europa!

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