MM: Sehr geehrter Herr Rehder, die Würde des Menschen ist gemäß
dem ersten Artikel des bundesdeutschen Grundgesetzes unantastbar. Das
Problem dabei ist, dass weder "die Würde" noch "der Mensch" genau
definiert sind, sondern sich offenbar vielmehr einem Zeitgeist anpassen.
Wie würden Sie "die Würde" und "der Mensch" definieren und was ist die
Basis Ihrer Definition?
Rehder: Ich hoffe es überrascht Sie nicht, aber ich halte es für
keinen Fehler, dass Begriffe wie "Mensch" und vor allem der Begriff der
"Würde" im Grundgesetz nicht völlig eindeutig definiert sind. Gerade
Letzteres geschah meines Erachtens mit voller Absicht. Dahinter steht,
dass die Idee der Würde, die in Europa letztlich auf dem christlichen
Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen basiert, auch
zustimmungsfähig für all diejenigen Menschen wird, die den christlichen
Glauben nicht teilen. Man kann – wie ich zum Beispiel das tue – die
besondere Würde des Menschen darauf zurückführen, dass Gott, wie
Christen dies glauben, den Menschen nach seinem eigenen Bild und als
sein Abbild erschaffen hat, aber man muss das nicht. Wenn man diese
Begründung allerdings ablehnt, dann darf man eines nicht tun: Nämlich
die Würde zu eng auslegen.
Würde ist etwas, das nicht an bestimmte Fähigkeiten und Vermögen des
Menschen gekoppelt ist, sondern das dem Mensch als Menschen zu zukommt.
Das muss ich nicht unbedingt mit Gott begründen, auch wenn dies in
meinen Augen sicher die tiefste und sinnvollste Begründung wäre. Ich
kann aber auch einfach argumentieren, dass kein Mensch das Recht hat,
über einen anderen als Mensch zu Gericht zu sitzen. Über seine Taten und
Handlungen – das schon, aber nicht über seine Zugehörigkeit zur
Menschheit, die sich von der eigenen durch nichts unterscheidet.
"Untermenschen", Menschen "zweiter" oder "dritter" Klassen, die kann es
nicht geben und zwar unabhängig davon, ob ich Würde religiös begründe
oder säkular – im Sinne eines Überschusses zur Gattungszugehörigkeit.
MM: Dennoch muss es ja eine Art Definition geben, damit ein
Rechtsgrundsatz Sinn macht?
Rehder: Wie weit die Würde – unabhängig von der Art sie zu
begründen – ausgelegt werden muss, das hat das Bundesverfassungsgericht
als höchstes deutsches Gericht in einem seiner Abtreibungsurteile
deutlich gemacht, als es formulierte: „Wo menschliches Leben
existiert, kommt ihm Würde zu“. Würde ist nämlich das, was sich
jeder Bewertung entzieht. Und zwar nicht nur einer Bewertung durch
Dritte, sondern auch der Bewertung durch einen selbst. Weder andere noch
ich selbst können mir die Würde rauben oder absprechen. Man kann – und
es wird ja auch leider ständig praktiziert – Menschen so behandeln, als
hätten sie keine Würde. Und auch die Menschen können sich selbst so
aufführen, als hätten sie keine Würde. Fakt bleibt: Weder durch das eine
noch das andere Fehlverhalten geht man der Würde – anderes als zum
Beispiel der Ehre – verlustig.
Wenn es in Artikel 1 des Grundgesetzes heißt, „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“, dann soll damit also auch kein Wunsch oder ein
Gebot zum Ausdruck gebracht werden. Sondern hier wird einfach
festgestellt: So und nicht anders ist es: Würde hat man, ob man will
oder nicht. Erst im Anschluss an diese Feststellung wird dann im
weiteren Verlauf des Artikels betont, dass der Staat verpflichtet ist,
die Würde zu achten und zu schützen. Misst man ihn daran, und genau
daran muss man ihn zuerst messen, wird man leider nicht umhin kommen
festzustellen: Hier geschieht leider immer noch viel zu wenig.
MM: Ihr neuestes Buch über die so genannte Sterbehilfe trägt im
Titel den Begriff "Euthanasie, ein Begriff, der auch für die
systematischen Morde zur Zeit des Nationalsozialismus als Teil der
"Rassenhygiene" verwendet wurde. Ist das nicht ein wenig hart?
Rehder: Nun, darüber kann man vermutlich unterschiedlicher
Meinung sein. Eigentlich kommt der Begriff "Euthanasie" ja aus dem
Griechischen und bedeutet dort soviel wie "leichter Tod". Grundsätzlich
bin ich der Meinung, dass der Missbrauch eines Wortes – nicht einmal
durch die Nazis – seinen korrekten Gebrauch verhindern können sollte. In
meinem aktuellen Buch gebrauche ich den Begriff der "Euthanasie" als
Oberbegriff für unterschiedliche Formen der Fremd- und Selbsttötung.
Dazu zähle ich die "Tötung auf Verlangen", die in den Niederlanden ja
bereits in rund 1000 Fällen pro Jahr zu einer "Tötung ohne Verlangen"
mutiert ist, den "ärztlich assistierten" sowie den von medizinischen
Laien begleiteten Suizid. Gemeinsam ist allen diesen Methoden, dass sie
mit dem Ziel gesucht und verabreicht werden, den Betroffenen einen
"leichten Tod" – oder besser, das was man dafür hält – zu bescheren.
Insofern halte ich den Begriff der "Euthanasie" sowohl für zulässig als
auch treffend. Darüber hinaus empfinde ich die negative Konnotation, die
der Begriff der "Euthanasie" aufgrund der menschenverachtenden
Rassenpolitik der Nazis in Deutschland und andernorts besitzt, eher als
angenehmen Kontrast zu der weit verbreiteten, meines Erachtens jedoch
unerträglich euphemistischen Rede von "Sterbehilfe". Denn hier wird
Menschen ja nicht beim Sterben geholfen. Sofern sie nicht getötet
werden, wird ihnen allenfalls dabei geholfen, sich selbst das Leben zu
nehmen.
MM: Der zweite Begriff im Titel, der uns ein wenig überrascht
hat, war "Todesengel". Die Engel Gottes holen eine Seele ausschließlich
auf Geheiß des Allmächtigen. Welche Beweggründe haben menschliche
"Todesengel" beim Sterben etwas "nachzuhelfen"?
Rehder: Nach christlichem Verständnis sind die Engel Diener und
Boten Gottes. In den biblischen Erzählungen greifen die Engel auf
vielfache Weise in die Geschichte der Menschen, als Künder oder
Überbringer göttlicher Botschaften aber auch als Begleiter in Not und
Gefahr. Dennoch kennt die Bibel – anders als der Koran – keine
Todesengel. In unserer gegenwärtigen Welt, in der Gott ebenso wie das
Heil der Seele aus dem Blickfeld vieler Zeitgenossen geraten sind,
dienen sich selbsternannte Suizidbegleiter notleidenden Menschen als
Beschützer vor weiterem Leiden und als Begleiter auf ihrer letzten
Wegstrecke an. Diejenigen, die sich in ihrer Not auf sie stützen, weisen
ihnen dabei oft eine engelähnliche Rolle zu. Doch was die menschlichen
"Todesengel" bieten können, ist selbstverständlich nicht das Heil,
sondern bloß der Tod. Mit der Metapher des Todesengels habe ich daher
vor allem Zweierlei zum Ausdruck bringen wollen: Die unglaubliche
Anmaßung, die hinter den Angeboten der Suizidbegleiter steht, aber auch
die traurige Verlassenheit der Abnehmer solcher Angebote.
Was die Beweggründe betrifft, so kann natürlich auch ich keine Gedanken
lesen. Und ich halte es auch durchaus für wahrscheinlich, dass viele der
"einfachen" Suizidbegleiter derart fehlgeleitet sind, dass sie
tatsächlich glauben, mit ihren Taten anderen Menschen einen Dienst zu
erweisen. Was die Spitzen dieser Organisationen betrifft, bin ich
allerdings anderer Meinung. Hier ist nicht nur zu viel Geld im Spiel,
hier gibt es vor allem auch viel zu wenig Transparenz, um glauben zu
dürfen, dass es hier nur falsch verstandene Barmherzigkeit ginge. Ich
meine, dass hier sicher auch das Streben nach Profit eine große Rolle
spielt, auch wenn sich das bislang nur begrenzt nachweisen lässt.
MM: Sie sehen in der heutigen Form der so genannten
Patientenverfügung eine "Kapitulation vor den Missständen im
Gesundheitswesen". Das Gesundheitswesen ist aber nur ein Teil des
bestehenden auf Gewinnmaximierung getrimmten Systems. Wie soll man Ihrer
Ansicht nach Schwerstkranke in einem Gesundheitssystem längerfristig und
mit hohem medizinischem Aufwand versorgen können?
Rehder: Zunächst halte ich die Krise des Gesundheitssystems für
weitgehend selbst gemacht. Die Idee eines solidarischen
Gesundheitssystems hat als Teil des viel umfassenderen Modells des
Generationenvertrages in Deutschland solange funktioniert, wie die
Menschen hierzulande in ausreichender Zahl Kinder bekamen. In meinem
Buch zeige ich darum auch ausführlich, wie der demografische Wandel,
eine wachsende Lebenserwartung, steigende Gesundheitskosten sowie
massenhafte Abtreibungen, der Euthanasie westlichen Industrienationen
den Weg ebnen. Um die Finanzierung einer medizinisch adäquaten
Versorgung in Zukunft sicherstellen zu können, brauchen wir langfristig
vor allem mehr Beitragszahler. Das bedeutet konkret: Wir brauchen mehr
und größere Familien und weniger Arbeitslose. Die Politik agiert hier
bislang sehr kurzsichtig, wenn sie sich ausschließlich darum bemüht,
Frauen in versicherungspflichtige Jobs zu treiben. Das wird zwar
kurzfristig mehr Geld in die Sozialkassen spülen, langfristig wird
dadurch aber der anhaltende Trend zu immer weniger Familien mit einer
ausreichenden Kinderzahl noch weiter forciert. Wenn das so weiter geht,
wird Gesundheit tatsächlich irgendwann unbezahlbar.
Momentan ist das noch nicht der Fall. In meinem Buch zeige ich, dass der
flächendeckende Ausbau von Hospizen und Palliativmedizin, bei denen
Sterbende in der letzten Phase ihres Lebens auf Erden menschenwürdig
begleitet werden und "Palliativ Care" erhalten, eine pflegerische und
medizinische Rundum-Betreuung erfahren, die sogar die Angehörigen
miteinbezieht, in Deutschland durchaus bezahlbar wäre. Experten rechnen
hier mit Mehrkosten von 600 bis 700 Millionen Euro im Jahr. Das ist auch
für ein so reiches Land wie Deutschland sicher viel Geld. Aber es ist
nicht unbezahlbar. Wir müssen nur andere Prioritäten setzen wollen. Was
fehlt, ist nicht das Geld, sondern der Wille. Die Deutschen haben in den
letzten acht Monaten für fünf Milliarden Euro neue Autos gekauft. Wenn
das die Prioritäten in diesem Land bleiben sollten, dann darf sich
allerdings niemand wundern, wenn der Begriff der "Abwrackprämie"
demnächst nicht nur im Zusammenhang mit Alt-Autos verwandt wird.
MM: Tatsächlich nimmt die Zahl der Bürger in Deutschland trotz
Zuwanderung ab. Aber kann es andererseits ein ewiges Wachstum auf einer
begrenzten Erde geben? Muss es nicht auch ein Konzept der
Qualitätsverbesserung verbunden mit den Konzepten Dankbarkeit und
Genügsamkeit geben, die auch bei gleichbleibender Bevölkerungszahl zu
realisieren wären?
Rehder: Grundsätzlich habe Sie da völlig Recht. Ewiges Wachstum
funktioniert weder auf begrenztem Raum noch mit begrenzten Ressourcen.
Aber wenn wir nachhaltig wirtschaften würden und endlich anfingen das
Erwirtschafte gerechter zu verteilen, gäbe es auf dieser Erde noch für
weit mehr Menschen Platz. Das Problem sind nicht die vielen Menschen,
sondern der unglaubliche Reichtum einiger, und die entsetzliche Armut
anderer. Und wenn Sie meinen, dass hier mehr Dankbarkeit und
Genügsamkeit auf Seiten der Besitzenden Einzug halten muss, gebe ich
ihnen wieder recht. Schwieriger finde ich, lassen sich jedoch
Einschnitte in der Gesundheitsversorgung rechtfertigen, auf die wir
zusteuern. Ich glaube, hier schulden wir einander, die bestmögliche
Pflege und Versorgung, was allerdings auch nicht heißt, dass das immer
auf teuere High-Tech-Medizin herauslaufen muss.
MM: Im Judentum, im Katholizismus und im Islam ist der Selbstmord
eine schwere Verfehlung gegen die dem Menschen von Gott geschenkte
menschliche Natur und dementsprechend auch die Beihilfe zum Selbstmord
eine schwere Sünde. Warum wird das in einer Gesellschaft, die vorgibt
sich zumindest auf die jüdisch-christlichen Wurzeln zu berufen, so
eklatant vernachlässigt?
Rehder: Wir sind in Deutschland keine christliche Gesellschaft
mehr. Gott ist, wie ich schon sagte, aus dem Blickfeld vieler Menschen,
das sich zunehmend auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse verengt,
verschwunden. In unserem weitgehend hedonistisch gewordenen Land werden
Begriffe wie Selbstverwirklichung und Lustmaximierung längst zu den
entscheidenden "Werten" stilisiert. Vor dreißig Jahren noch hätte man
solche Menschen noch einfach "Egoisten" genannt und sie verbal als
"asozial" gebranntmarkt. Heute interessiert man sich weniger dafür, ob
ein Mensch Tugenden hat oder sich sozial verhält, sondern mehr dafür,
welche Umsätze er mit seinen Kreditkarten zu Stande bringt. Viele
schauen zu solchen Menschen auf. Wo aber der Mensch vornehmlich als
Konsument hofiert wird, da wird auch der Platz für religiöse Kategorien
wie "Sünde" und "Heil" rar. Nicht umsonst heißt es etwa in der Bibel:
„Niemand kann zwei Herren dienen“. Wir werden uns daher entscheiden
müssen: Zwischen Gott und dem Mammon oder zumindest zwischen einer
Sicht, in der andere Menschen als Bruder oder Schwester betrachtet
werden und einer Sicht, in der andere Menschen auch nur ein weiteres
Mittel darstellen, das ich zu meinem eigenen Vorteil und Nutzen
manipulieren und ausnutzen darf.
MM: Aber selbst wenn man dem Mammon dienen würde, erscheint die
Tötung zumindest aus Sicht der Wirtschaft nicht besonders "ertragreich".
Denn schließlich ist der noch lebende Patient kostenintensiver, als der
zum Selbstmord getriebene. Kann es nicht sein, das hier neben
materialistischen Aspekten auch unmenschliche Vorstellungen wie
"lebensunwertes Leben" eine Rolle spielen?
Rehder: Es spielt sicher beides eine Rolle. Wenn ich das richtig
sehe, begreift sich unser Staat ja gewissermaßen auch als Unternehmen.
Und in gewisser Weise muss er das, da er das Geld, das er an Steuern und
Abgaben einnimmt, auch nur einmal ausgeben kann. Im Sinne des
Lean-Management geht es also auch beim Staat darum, Kosten zu vermeiden.
Das als vermeidbare Kosten auch die betrachtet werden, die alte und
kranke Menschen verursachen - und im Alter ist das natürlich
üblicherweise viel mehr als in jungen Jahren – das mag auch mit dem
Menschenbild zusammen hängen. Das manchen nur das Starke und
vermeintlich Autonome für "lebenswert" und das Schwache und vermeintlich
Abhängige für "lebensunwert" halten, hängt mit einer hedonistischen
Lebenseinstellung und einem evolutionistischen Weltbild zusammen. Das
wiederum kann aber in einer Welt, die Gott zu vertreiben sucht, auch
nicht wundern, wie ich meine.
MM: Die Kritik in Ihren Büchern zielt letztendlich darauf ab,
dass der Mensch die von Gott gegeben Werte missachtet. Sehr plakativ
bringen sie das in Ihrem früheren Buch "Gott spielen", das sich u.a. mit
der Manipulation des menschlichen Erbguts beschäftigt, zum Ausdruck.
Sind Sie ein Antikapitalist?
Rehder: Ich bin ein Antikapitalist, wenn sie unter einem
Kapitalisten jemanden verstehen, für den Geld das höchste Gut darstellt,
und der Moral und Ethik daran bemisst, in weit sie ihm helfen, dieses
Gut zu vermehren oder dabei zumindest nicht im Wege stehen. Ich bin aber
sicher kein Antikapitalist, wenn sie unter einem Kapitalisten jemanden
verstehen, der Wert darauf legt, dass das, was er einsetzt – Geld,
Arbeitskraft oder Hirnschmalz – Früchte bringt und sich irgendeiner
Weise vermehrt.
Und was die Kritik in meinen Bücher betrifft, so sehe ich das doch ein
wenig anders. Als Katholik, der sich bemüht, gemäß seinem Glauben auch
zu leben – was vielen sicher bedeutend besser gelingt als mir – schaue
ich natürlich von einem bestimmten Standort aus auf die Welt. Ich weiß,
dass daraus resultierende Standpunkte nicht von allen geteilt werden und
kann das auch respektieren. Worum es mir in meinen bioethischen Bücher
geht, ist darum auch nicht eine Apologetik des katholischen Glaubens und
seiner Lehre. Es stimmt, ich bin der Überzeugung, dass der Mensch, die
von Gott gegebene Ordnung mit Füßen tritt. Und dennoch ist das
eigentlich nicht mein Punkt.
Worum es mir geht, ist etwas anderes: Ich sehe, dass es uns als Menschen
nicht gut tut, so leben, wie wir derzeit – besonders in den westlichen
Industrienationen – leben. Und nirgendwo lässt dies sich meines
Erachtens besser beobachten als auf dem Feld der Biotechnik, wo zugleich
viele Weichen noch nicht endgültig gestellt sind. Dass wir Kinder im
Mutterleib töten und Kinder im Labor zeugen, dass wir Kinder eigens als
Zellspender für andere Kinder zeugen und dass wir – wie in
Großbritannien – menschliches Erbgut mit tierischem vermischen, ja dass
wir ernsthaft versuchen, Menschen zu klonen, all das tut uns nicht gut.
Und es tut uns deshalb nicht gut, weil der Mensch hier jedes Mal als
Mittel gebraucht, statt um seiner selbst willen gewollt wird. Natürlich
könnte man fragen, warum schaden wir uns mit all dem selbst?
MM: ... Ja, genau das hätten wir jetzt gefragt ...
Rehder: In "Gott spielen" zitiere ich den Philosophen Günter
Andres, der einmal mit Blick auf das "Human Engineering" meinte, weil
hier der Mensch „ins Lager seiner Geräte desertiere“. Man braucht
kein Prophet sein, ja noch nicht noch einmal ein religiöser Mensch, um
einzusehen, dass so etwas nicht auf Dauer ohne Folgen für die
Menschenrechte bleiben kann. Denn als Menschen mögen wir unsere Werke
und Geräte ja bewundern, aber wir pflegen ihnen keine Rechte
einzuräumen, und schon gar keine unantastbaren. Mit meinen Büchern
möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass meinen Kindern, potentiellen
Enkelkindern und unserer ganzen Gesellschaft ein Szenario erspart
bleibt, in dem Menschen andere Menschen gewissermaßen als ihre Kreation
und ihr Eigentum betrachten. Gott, der allmächtig und barmherzig ist,
kann – ich hoffe, das klingt nicht despektierlich, denn so ist es nicht
gemeint – meines Erachtens gut für sich selbst sorgen. Oder um es anders
zu sagen: Gott braucht mich nicht, um für seine Rechte zu streiten. Wenn
ihm das, was wir Menschen hier unten veranstalten, zu bunt wird, kann er
den Basar zu dem wir die Erde gemacht haben, jederzeit schließen. Der
Mensch aber, der weder allmächtig noch besonders barmherzig ist, der
bleibt bis dahin darauf angewiesen, dass wir uns gegenseitig achten und
uns eben nicht gegenseitig wie "Geräte" behandeln. Hierzu im Rahmen
meiner begrenzten Fähigkeiten und Einsichten einen wahrnehmbaren Beitrag
zu leisten, darin sehe ich meine Aufgabe und das ist auch der Grund für
meine beiden, von Ihnen zitierten Bücher.
MM: Gott braucht den Menschen nicht, denn Er ist sich selbst
genüge. Und genau das ist ja auch der Beweis für die absolut selbstlose
Liebe Gottes gegenüber dem Menschen, ihn erschaffen zu haben, obwohl er
ihn nicht braucht. Der Mensch hingegen kann nicht derart absolut und
vollkommen selbstlos lieben. Gerade im Fall der Selbstmordhilfe stellt
in vielen Fällen der langfristig Schwerkranke und Pflegebedürftige eine
zugegebenermaßen hohe Belastung für die Angehörigen dar. Wie können wir
uns selbst dazu erziehen, diese Belastung ebenfalls als Gnade zu
empfinden, um sie nicht "loswerden" zu wollen?
Rehder: Nur indem wir einander noch besser lieben lernen. In
aller Regel tragen wir doch gerne die Lasten derjenigen Menschen, die
wir wirklich lieben oder zumindest den Teil, den wir ihnen abnehmen
können. Wenn nun geliebte Menschen leiden, dann ist es oft gar nicht die
"Arbeit", die uns dadurch entsteht, welche uns belastet, sondern, dass
die Arbeit oft nicht ausreicht, um das Leiden zu beenden. Hier lässt
sich meines Erachtens durch ein Wechsel der Perspektive schon viel
erreichen. Wenn es uns zum Beispiel gelingt, unsere eigene Perspektive
zu verlassen, in der - sagen wir – eine völlig schmerzfreie Stunde uns
nicht allzu viel erscheint, und stattdessen die Perspektive des
Leidenden einnehmen, in der eine völlig schmerzfreie Stunde weit mehr
bedeuten kann, als zwei Wochen Urlaub am Meer für einen gesunden
Menschen, dann schätzen wir den Beitrag, den wir in der Pflege und
Betreuung eines Kranken leisten, viel besser ein und können daraus neue
Kraft und Motivation ziehen.
Manchmal werden wir in unserer schnelllebigen Welt, die uns oft sehr
viel abverlangt, auch an der einen oder anderen Stelle für Entlastung
sorgen müssen, damit wir uns besser um andere Menschen kümmern können.
Und wenn es trotzdem schwerfällt, uns immer wieder neu geduldig einem
anderen Menschen zuzuwenden, obwohl wir ihn längst lieb gewonnen haben,
dann hilft – zumindest mir – der Gedanke, dass Gott auch mit mir
unendliche Geduld beweist. Das macht mich dankbar und ist Ansporn
zugleich.
MM: Herr Rehder, wir danken für das Interview.
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