MM: Sehr geehrte Ganim Authman, lassen Sie
uns mit Ihrer Flucht vor dem Saddam-Regime beginnen. Wie sind Sie damals in
Deutschland aufgenommen worden?
Authman: Erlauben Sie mir, dass ich nicht
nur von mir, sondern von so vielen Turkmenen berichte, die in Deutschland
oder in anderen Ländern Europas Asyl gesucht haben. wie bekannt, ist der
Irak ein an Bodenschätzen reiches Land, und die Älteren erinnern sich an die
Jahre 1960-1965 in denen der wirtschaftliche Aufschwung auch zu einer Art
inneren Frieden geführt hat. Aber die Unterdrückungspolitik Saddams gegen
Turkmenen - aber nicht nur gegen sie - und der von Saddam angezettelte Krieg
gegen die damals noch junge Islamische Republik Iran machten das Leben für
alle Bürger, die dem Regime nicht nahe standen zunehmend unerträglich. Viele
Turkmenen haben ihr Leben dabei verloren. Die Flucht aus dem Irak war ein
reiner Existenzkampf, eine Frage des Überlebens. Wir haben unsere Heimat
verlassen, um zu überleben! Und so bin auch ich einer von diesen
Flüchtlingen. Aufgrund des politischen Drucks gegen mich, während ich in
Bagdad an der theologischen Fakultät im dritten Lehrjahr ausgebildet wurde,
war derart groß, dass ich um mein Leben gefürchtet habe. Und so habe ich den
Irak verlassen und - Gott sei Dank - am Ende meiner Flucht politisches Asyl
in Deutschland beantragen können. Ich bin Deutschland, seiner Regierung und
der Bevölkerung sehr dankbar dafür, dass sie mir diese Möglichkeit eröffnet
haben.
MM: Warum wurden Turkmenen vom Saddam-Regime
verfolgt?
Authman: Die Ausgangssituation war so, dass
ca. 3 Millionen Turkmenen mit einem vergleichsweise hohen Bildungstand im
Irak lebten, über durchaus demokratisch zu nennende innere Strukturen in der
Basis verfügten und deren Vorfahren sich seit ca. 1000 Jahren im Irak
heimisch fühlten. Obwohl wir uns immer für die Einheit des Irak, für die
Gemeinsamkeit der Bevölkerung eingesetzt haben, gehörten die Turkmenen zu
einem der bevorzugten Ziele des Saddam-Regimes und ihrer
Unterdrückungspolitik.
Nach der gewaltsamen Machtergreifung der
Baath-Partei und der Machtsicherung in 1963 folgte 1970 die Erlaubnis der
turkmenischen Sprache im Beriech der Bildung, die Erlaubnis für turkmenische
Privatschulen und weitere Erleichterungen im kulturellen Bereich für die
Turkmenen. Allerdings wurden jene Erleichterungen binnen kürzester Zeit
wieder aufgehoben und ein Großteil der turkmenischen Lehrer aus ihrer Heimat
in Kerkuk (im Norden des Irak) in den Süden des Landes verbannt.
Nachdem Saddam die Macht ergriffen hat und dann
1979 den letztendlich 8 Jahre andauernden Krieg gegen den Iran begann, war
der Blutzoll unter den Turkmenen extrem hoch. Um die Verluste in der
Mehrheitsbevölkerung in Grenzen zu halten, wurden die Soldaten der
Minderheiten im Land an vorderster Front verheizt, nachdem sie
zwangseingezogen worden waren. Obwohl wir selbst keinerlei Feindschaft
gegenüber unseren Glaubensbrüdern im Iran hegten, wurden unsere Kinder für
Saddam an die vorderste Front beordert und viele starben dort, teilweise
unter dem Einsatz der Chemiewaffen, die Saddam gegen den Iran und gegen
eigene aufständische Gruppen eingesetzt hat, ohne dass die westliche Welt
damals ernsthaft dagegen protestiert hätte..
MM: Stellten denn die Turkmenen eine Gefahr
für das Saddam-Regime dar?
Authman: Eigentlich stellte jede halbwegs im
Irak funktionierende und zusammen haltende Gruppe im Irak eine Gefahr für
das Saddam-Regime dar, dass keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Die
Lage der Kurden von Halabdscha ist ja nur deshalb bekannt, weil darüber
berichtet wurde. Über die Vertreibungspolitik gegen andere Gruppen wurde
hingegen weniger berichtet.
So hat Saddam versucht die verschiedenen
Volksgruppen, die allesamt in Frieden miteinander lebten durch Umsiedlung
und Entwurzelung, auseinander zu reißen, damit sie keine Gefahr für sein
Regime darstellten. Viele Turkmenen wurden zwangsumgesiedelt. Andere
Turkmenen wurden enteignet und ihre Ländereien arabischen Volksgruppen
geschenkt, die wiederum ebenfalls dorthin zwangsumgesiedelt wurden. Man kann
sich in Deutschland gar nicht vorstellen, mit welchen inneren Methoden das
Unterdrückungsregime Saddams an der Macht gehalten wurde, und so lange
Saddam im Interesse der USA gegen den Iran krieg führte, wollte man es sich
wohl auch nicht vorstellen.
Das Embargo gegen die irakische Bevölkerung nach
dem zweiten so genannten Golfkrieg traf vor allem die Zivilbevölkerung.
Während die wenigen verbliebenen Ressourcen für Anhänger des Saddam-Regimes
aufgewandt wurden, haben andere Bevölkerungsteile keinen Anteil daran und
mussten noch mehr leiden. Die Aufstände gegen jene Unterdrückung, die am 18.
März 1991in Duhok, Erbil ve Süleymaniye begannen, sprangen schnell auf
Kerkuk über . Saddams Armee wurde in Gang gesetzt und die Aufstände wurden
blutig niedergeschlagen. Allein in der Stadt Tazehurmatu starben mehrere
Hundert Turkmenen im Kugelhagel der Armee. Der Rest der Bevölkerung
versuchte zu fliehen, wurde aber von der Armee eingeholt und getötet oder
verschleppt. ein teil konnte sich in den Iran oder die Türkei absetzen.
MM: Gab es denn zumindest einige
Erleichterung, als die Vereinten Nationen die nördlichen Bereiche des Landes
zum Schutz der Kurden zur Flugverbotszone erklärte?
Authman: Tatsächlich führte jene Regelung
zumindest zu einer Entlastung der kurdischen Bevölkerung. Allerdings betraf
die Regelung nur die Gebiete nördlich des 36. Breitengrades. Die aber von
Turkmenen bewohnten Gebiete Altunköprü, Musul, Kerkuk und andere waren davon
nicht betroffen, so dass Saddam jetzt seine ganze Unterdrückungsmaschinerie
auf die Turkmenen konzentrieren konnte. In der Folge wurde von den Turkmenen
verlangt, sich entweder dem kurdischen oder dem arabischen Bevölkerungsteil
zuzuordnen. Mit dieser Entscheidung einher sollte dann auch gehen, wo man
leben durfte. Beides war aber für die Turmenen nicht akzeptabel, da wir als
Turkmenen immer für die Einheit des Irak eingetreten sind.
MM: In der westlichen Welt gibt es im Irak
nur Kurden, Sunniten und Schiiten. Warum wird Ihrer Meinung nach nicht über
Turkmenen berichtet?
Authman: Zunächst einmal ist festzustellen,
dass jene Einteilung ein völlig absurde und willkürliche Einteilung der
Besatzer ist, die jegliche Vernunft vermissen lässt. Auf der einen Seite
erwähnt man religiöse Rechtsschulen und auf der anderen Seite eine
Volksgruppe. Sind denn nicht die meisten Kurden Sunniten? Und kann ein Kurde
denn nicht auch Schiit sein? Und was ist das überhaupt für eine Volksgruppe,
die man "Sunniten" nennt? Es gibt arabische Sunniten, Turkmenische Sunniten,
Kurdische Sunniten, aber jeder von denen könnte auch sich zur Schia
bekennen. Zudem haben wir im Irak doch auch viele Assyrische Christen. Wozu
gehören die dann? Die ganze Einteilung ist doch absurd. Tatsache ist, dass
die Bevölkerung im Irak weitestgehend im Frieden miteinander lebte und sich
gegenseitig bereicherte. Wir hatte nie Probleme zwischen Sunniten und
Schiiten, und es war nichts ungewöhnliches, wenn ein Turkmene einen Araber
heiratete.
Die "offizielle" Einteilung des Landes in drei
Bereiche aber hat zu viel Leid geführt, insbesondere für jene Minderheiten,
die gar nicht berücksichtigt wurden. Und die daran gekoppelte Besatzung
führt derzeit dazu, dass jede Tag ca. 100 Iraker umgebracht werden. Wenn
nach einigen Berichten inzwischen schon 1 Million Iraker aufgrund der
Besatzung und der daran gekoppelten Gewalt umgekommen ist, ist das kein
Völkermord? wie viele Menschen müssen denn gewaltsam umkommen, bis es als
Völkermord bezeichnet wird?
MM: Kommen wir nunmehr zur aktuellen
Situation. Wie ist die Lage heute für Turkmenen?
Authman: Nach der Besetzung des Irak durch
die USA in 2003 hat sich die Situation geändert. In der Verfassung vom
15.10.2005 sind die Turkmenen immerhin als anerkannte Minderheit erwähnt,
wenn auch Araber und Kurden als Kernbevölkerung des Irak bezeichnet werden.
Dementsprechend ist Kurdisch als zweite Sprache neben dem Arabischen
anerkannt. Zwar darf das Turkmenische in den Gebieten mit turkmenischer
Mehrheit gelehrt werden, aber der Verweis auf manche Regionen, in denen
Turkmenen angeblich in der Minderheit leben sollen, obwohl das nicht mit der
Realität übereinstimmt oder teilweise durch Zwangsumsiedlungen bewirkt
wurde, schmerz schon sehr. Turkmenen, die seit Jahrhunderten im Irak leben
und sich stets als loyale Bürger des Landes gefühlt haben, werden jetzt als
Minderheit abqualifiziert und ihrer Rechte als gleichberechtigte Bürger und
Volksgruppe beraubt.
Die aktuelle Situation der Turkmenen ist als sehr
schwierig zu bezeichnen, zumal sie auch weit über das land verstreut sind.
Mit den Ereignissen von 2003 hatten viele Turkmenen ganz andere Hoffnungen
verbunden. so bestand damals die Hoffnung, dass nach der dunklen Zeit der
Unterdrückung durch das Saddam-Regime eine Zeit der Befreiung und Demokratie
eingeleitet werden würde. Jene Hoffnungen sind angesichts des unübersehbaren
Charakters der Besatzung inzwischen erstickt worden. Wenn Sie mich fragen,
wird das Turkmenische Volk derzeit systematisch unterdrückt, was eines Tages
sogar als Völkermord beurteilt werden könnte. Die einzelnen Verschwörungen
gegen Turkmenen aufzuzählen würde wohl den Rahmen eines solchen Interviews
sprengen.
MM: Haben Sie denn keine Hoffnung?
Authman: Selbstverständlich haben wir
Hoffnung, zwar nicht auf die Besatzer aber auf den Rest der Weltgemeinschaft
und das gute Gewissen aller Menschen in allen Ländern und Völkern, und
natürlich vor allem hoffen wir auf Gott. Mehr denn je sind die
demokratischen Kräfte aller Länder gefragt, sich für Freiheit und
Gerechtigkeit einzusetzen, der die Basis für Frieden ist. Wir glauben aber
auch, dass die europäischen Regierungen, insbesondere auch die Deutsche,
wenn sie über den Schatten der bedingungslosen Unterstützung der USA
springen, durchaus die Werte vertreten können, für die sie einstehen.
MM: Sie sind Vertreter der Irakischen-Turkmenen-Front in Deutschland.
Welche ziele verfolgt die Gruppe und worin bestehen Ihre Aufgaben?
Authman: Irakische Turkmenen hatten aufgrund
der Unterdrückung durch das Saddam-Regime kaum Gelegenheit sich politisch zu
artikulieren. Erst nach der Aufteilung des Irak in drei Zonen begannen erste
poltische Interessenvertretungen der Turkmenen in der Stadt Erbil. Einige
Turkmenen kamen zusammen und gründete die Partei der Irakischen Turkmenen
Front (Irak Türkmen Cephesini - ITC). Bei der Übersetzung des Namens ist
allerdings ein Missverständnis auszuräumen. Der Begriff "Cephe" wird hier
zwar als "Front" übersetzt, steht aber nicht in dem Sinn, dass man "Front"
gegen irgendetwas machen will. Vielmehr wäre eine sinngerechtere Übersetzung
wohl "Arena", so dass auch Turkmenen in der politischen Arena in Erscheinung
treten wollen. Inzwischen gab es vier große Parteitage. Der Sitz der ITC ist
in Kerkuk. Der Vorstand besteht aus neun Personen und 71 Deligierte
Vertreten die verschiedenen Regionen. Neben den Büros in Bagdad, Diyala,
Musul und Erbil gibt es auch im Ausland Vertretungen in England,
Deutschland, USA, Syrien und Belgien. Und ich versuche als Vertreter in
Deutschland der Stimme der Turkmenen seit dem Jahr 2000 auch in Deutschland
Ausdruck zu verleihen und habe dabei - Gott sei Dank - positive Resonanz
erzielt.
MM: Finden Sie denn Gehör auf deutscher
Seite?
Authman: Fakt ist, dass wir in unserem
verstärkten Bemühen seit 2003, im Rahmen eines demokratischen Systems
unseren uns zustehenden gleichberechtigten Platz im Irak bisher nicht
einnehmen konnten. Unsere Sprache und Kultur findet weder in den Medien noch
in der Politik eine hinreichende Unterstützung, weder im Irak selbst noch im
Ausland, auch wenn es das eine oder andere Verständnis gibt. Was die
Situation in Deutschland angeht, so kann ich dennoch dankbar feststellen,
dass wir durch unsere Kontakte zu Abgeordneten und Medienvertretern durchaus
eine gewisse Sensibilisierung für die gerechten Anliegen der Turkmenen im
Irak erreichen konnten. Dabei versuchen wir auch zu erklären, dass die
Etablierung von Demokratie im Irak auch den Schutz von Minderheiten zur
Voraussetzung hat. Die bestehenden Volksgruppen im Irak sind eben nicht nur
jene drei merkwürdigen Einteilungen, die uns von Außen vorgegeben wurden,
und die bedauerlicherweise von einigen Irakern mitgetragen werden. Turkmenen
sind ein fester Bestandteil der irakischen Heimat und werden es auch
bleiben.
MM: Ihre Familie lebt inzwischen zweiter
Generation in Deutschland. Welchen Wunsch haben Sie für Ihre Kinder und
Enkel?
Authman: Jeder Mensch muss sich bemühen, der
Gesellschaft dienlich und nützlich zu sein, in der er lebt. So habe ich
allein schon dadurch, dass ich die Hälfte meines Leben in Deutschland
verbracht und hier geheiratet habe unweigerlich eine besondere Beziehung zu
diesem Land, das meine zweite Heimat geworden ist. Mein Kinder und Enkel
sind hier geboren. Für meine Kinder bin ich dankbar, dass sie in einer
demokratischen Umgebung groß werden können, in der die Menschenrechte
geachtet werden. Für meine Kinder und Enkel wünsche ich - wie jeder Vater -
dass es Ihnen eines Tages besser ergehen soll, und daher lege ich großen
Wert auf die Bildung, die in diesem Land angeboten wird. Es ist zudem ein
Bestandteil unserer islamischen Religion, zum Wohlstand der Gesellschaft
beizutragen, auch indem wir Anstand wahren und unserer eigenen Kultur genau
so bewusst sind, wie der deutschen Kultur und uns durch gegenseitigen
Respekt bereichern. Das wäre mein großer Wunsch von ganzem Herzen.
MM: Herr Authman, wir danken für das
Interview.
Authman: Ich habe zu danken für die
Gelegenheit, die Sie mir mit diesem Interview gegeben haben und wünsche dem
Muslim-Markt, dass Sie auch weiterhin eine Bereicherung für die Gesellschaft
sind, in der Sie leben, und segensreich für die gesamte islamische Welt
wirken können.
|