Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Gerrit Wunstmann
 

Muslim-Markt interviewt 
Gerrit Wustmann - Autor, Dichter, Journalist und Orientalistikstudent

27.4.2007

Gerrit Wustmann (Jahrgang 1982) studiert Orientalistik in Köln und Bonn. Er ist bekannt für zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften. Seit 2007 auch vermehrt journalistische Arbeiten, u.a. für Telepolis und Zenith. Die Arbeitsschwerpunkte liegen dabei auf Weltpolitik und speziell der arabisch islamischen Kultur.

Wustmann ist Mitglied im Komitee für eine demokratische UNO. Seine aktuellste Veröffentlichung ist: "Erinnerung & Morgenröte" (Leipzig, 2006). Derzeit Arbeit an einem zweiten Lyrikband, sowie einem Sachbuch zum Thema UNO und Demokratie.

Wustmann ist ledig und lebt in Kerpen.

 

MM: Sehr geehrter Herr Wustmann, woher stammt ihr Interesse an der islamischen Kultur?

Wustmann: Dieses Interesse entstand auf mehreren Ebenen. Zum einen über den Kontakt zu Menschen. Bis heute halte ich mich, von Ausnahmen abgesehen, sehr gerne in der Gegenwart von Menschen aus dem arabisch-persisch-islamischen Kulturkreis auf. In aller Regel ist dort der zwischenmenschliche Umgang wärmer, freundlicher, ja – aufgeschlossener. Das gilt u.a. auch für Deutsche, deren Wurzeln außerhalb des westlichen Kulturkreises liegen, was sicher kulturelle Gründe hat. Es liegt meines Erachtens aber auch daran, dass viele dieser Menschen, etwa wenn sie selbst als Immigranten oder Flüchtlinge nach Deutschland kamen, Entbehrungen kennen, die der deutschen Nachkriegsgeneration weitgehend fremd sind. Solche Erlebnisse schärfen den Blick für das Wesentliche im Leben.

Die zweite Ebene ist die Politik, und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass das Erweckungserlebnis in diesem Zusammenhang der 11. September 2001 gewesen ist. Es ging unglaublich schnell, dass unsere Massenmedien mit pauschalen Urteilen zur Stelle waren, und seitdem erinnert die Stigmatisierung des Islam oder bloß islamisch oder arabisch aussehender Menschen auf unangenehme Weise an ein anderes düsteres Kapitel der deutschen Geschichte. Damit konnte und wollte ich mich nicht abfinden, also begann ich, mich intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzen. Ich denke, dass es unglaublich wichtig ist, immer zu hinterfragen. Wenn man Informationen – gerade im heutigen Medienzeitalter – ungefiltert aufnimmt, dann ist man bereits der Manipulation ausgeliefert und wird zum Spielball der Meinungsführer. Es ist dabei nicht unbedingt relevant, was gesagt wird. Viel relevanter sind die Dinge, die sehr gezielt verschwiegen werden.

Zuletzt darf ich die Literatur nicht vergessen. Die westliche Literatur brachte und bringt bis heute ganz phantastische Werke hervor. Dasselbe gilt aber auch für die arabischen Länder, was hier weitestgehend im Dunkeln bleibt. Spätestens mit Goethe hätte eigentlich ein breites öffentliches Interesse an den östlichen Autoren entstehen müssen, tatsächlich blieb es aber bis heute auf einen kleinen Kreis Kulturschaffender beschränkt. Nagib Machfus kennt man noch, aber wie steht es mit Sadeq Hedayat? Wer Kafka liest, der muss im Grunde auch Hedayat lesen. Das ist nur ein einsames Beispiel, es gäbe zahllose weitere. In der arabischen und der persischen Literatur, gerade auch in der Lyrik, gibt es viel zu entdecken. Diese Literatur ist sehr reichhaltig, bis heute, zumal Dichter in jenen Ländern ein hohes Ansehen genießen. Der Respekt vor der Sprache ist ungleich größer, was man unter anderem daran sehen kann, dass offizielle Reden meist auf Altarabisch – der Sprache des Qur’an – gehalten werden. Können Sie sich vorstellen, dass ein deutscher Politiker Mittelhochdeutsch sprechen würde?

MM: Worin liegen die Schwerpunkte ihres Studiums der Orientalistik? Bei dem Studium fällt in nahezu allen Fächern auf, dass die Literaturverzeichnisse aller Arbeiten immer mehr westliche Quellen nennen als muslimische. Kann solch eine Herangehensweise nicht zu einer Verzerrung wissenschaftlicher Ergebnisse führen?

Wustmann: Das ist so nicht korrekt. Im Gegenteil. Das Orientalistikstudium ist so aufgebaut, dass in der ersten Hälfte der Schwerpunkt auf den Sprachen liegt. Daneben gibt es Einführungen in Geschichte und Kultur. Ziel ist aber, Arabisch und Persisch soweit zu erlernen, dass man in der Lage ist, die originären Quellen zu lesen, eben damit man nicht eventuellen Fehlern in westlicher und auch östlicher Sekundärliteratur unterliegt. Der zentrale Aspekt auch des Studiums ist immer das Hinterfragen. Die wissenschaftliche Literatur stützt sich selbst auf Originalquellen, westliche Quellen werden meist nur zum Vergleich und zur Überprüfung der Forschungsergebnisse herangezogen. Das ist schon deshalb wichtig, weil Übersetzungen immer nur Annäherungen, nie exakte Übertragungen sind. Es geht im Studium also darum, die islamische Kultur von innen her kennen zu lernen, nicht von außen. Richtig ist, dass populärwissenschaftliche Arbeiten, mit denen der Markt seit 2001 überschwemmt wird, zumeist westliche Quellen – also bereits sekundäre Literatur – heranziehen, was sie für Fehler sehr anfällig macht, zumal vieles einfach schlampig recherchiert ist.

MM: Und welche Berufsaussichten hat man in Deutschland mit solch einem Studium, außer für den Verfassungsschutz zu arbeiten?

Wustmann: Die Berufsaussichten sind zahlreich, und der Verfassungsschutz – der ja, wenn es nach Herrn Schäuble geht, bald alles und jeden kontrollieren und ausspionieren darf – gehört weniger zu meinen Zielen. Es steht außer Frage, dass die Verfassung eingehalten werden muss. Aber nicht um den Preis des Verlustes der Bürgerrechte. Solche Regelungen sind selbst verfassungsfeindlich.

Zum einen werde ich sicherlich im publizistischen Bereich weiterarbeiten. Gerade die meinungsführenden Massenmedien lassen die nötige Fundiertheit oft vermissen. Das muss sich ändern. Wenn ein großes Hamburger Nachrichtenmagazin mit dem Titel „Die schleichende Islamisierung Deutschlands“ aufmacht, dann werden dort Ressentiments bedient. Das ist der politischen Situation nicht förderlich. Und endlos zitierte Begriffe wie Becksteins „Parallelgesellschaften“ tragen massiv zur Verhärtung der Fronten bei. Es gibt beispielsweise mit zenith einen sehr differenzierten und fundierten Orientjournalismus in Deutschland. Nur erreicht der eben nicht die breite Bevölkerung, weshalb solche Projekte unbedingt Unterstützung benötigen. Wenn man in diesem Bereich ernsthaft engagiert ist, kann man all die selbsternannten Islamexperten, die täglich durch die Medien geistern und kaum etwas anderes tun als die Gräben zu vertiefen, nur schwer ertragen.

Was kann man sonst noch machen? Nun, man kann, wenn man ausreichende Sprachkenntnisse erlangt hat, vor Ort arbeiten, im sozialen Bereich etwa, oder auch an Universitäten. Letztendlich sind mir solche Tätigkeiten wichtig, die dazu beitragen, den interkulturellen Dialog zu fördern.

MM: Gibt es denn unter den Dozenten auch Personen mit Sympathie für den Islam?

Wustmann: Die gibt es. Ehrlich gesagt habe ich bis heute keinen einzigen Dozenten kennen gelernt, der keine Sympathien für die islamische Kultur hegte. Mein Eindruck ist, dass die Beschäftigung an den Universitäten mit dem Thema aus einer – problemorientierten – Zuneigung heraus entsteht, aber nicht aus Ablehnung. Zumal nicht wenige Dozenten selbst Araber oder Perser sind. Der Islam wird – wie jede andere Religion auch – natürlich kritisch im Spiegel der jeweiligen Zeit betrachtet. Fragestellungen werden analysiert, es kommt aber nicht zu Verurteilungen. Das wäre anmaßend und widerspräche der wissenschaftlichen Neutralität.

MM: Sie sind Mitglied im Komitee für eine demokratische UNO (KDUN). Wie kamen Sie dazu?

Wustmann: Der Journalist Jürgen Streich, mit dem ich seit Langem befreundet bin, gehört zu den Gründern der Organisation. Als er mich um Mithilfe bat, stand alles Weitere für mich außer Frage. Das Komitee ist eine gute Sache. Nicht umsonst zählt der Vorsitzende Andreas Bummel zu den Preisträgern des diesjährigen Vision Summit. Die Stimmen, die die Legitimation der UNO in Frage stellen, sind seit Beginn des Irakkrieges nicht zu Unrecht immer lauter geworden. Deshalb geht es uns in erster Linie eben darum, der UNO eine demokratische Legitimation zu verschaffen. Es darf in einer globalisierten Welt nicht sein, dass eine überstaatliche Institution, die sich der Friedenssicherung verschrieben hat, den Einzelinteressen weniger Regierungen ausgeliefert ist. Das positive ist, dass die langfristigen Pläne des KDUN auch umsetzbar sind, und dass demokratische Regierungen keine plausiblen Einwände gegen die Pläne haben können. Es wird viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen, aber das sehe ich optimistisch. Die globalen Probleme können nur mittels Dialog und Zusammenarbeit gelöst werden. Das gilt es zu erkennen und umzusetzen.

MM: Ihre journalistische Tätigkeit ist die Weltpolitik, hingegen ist ihre dichterische Tätigkeit auf Lyrik ausgerichtet, wie verträgt sich das?

Wustmann: Das verträgt sich bestens. In der Politik geht es darum, Sachverhalte zu hinterfragen, zu analysieren, nach Lösungsansätzen zu suchen. Wenn Sie so wollen, ist es in der Lyrik ähnlich. Lyrik betrachtet. Die Welt, den Menschen, die Sprache, und versucht dabei, neue Ausdrucksformen zu finden, ungewöhnliche Perspektiven. Lyrik ist immer auch ein Spiegel der Zeit, in der sie verfasst wird. Das Lebensgefühl, die Mentalitäten jeder Kultur und jeder Epoche kann durch die in ihr entstandene Lyrik nachempfunden werden. Mein Arbeitsschwerpunkt liegt dabei auf der Frage nach der Erinnerung. Was ist Erinnerung, was macht sie mit uns? Erinnerung kann individuell sein oder kollektiv, sie kann schmerzhaft oder erhebend sein. Wichtig ist, Erinnerung bewusst zu erleben, denn das, was wir in der Erinnerung finden ist der Grund dafür, dass wir sind wie wir sind. In der Geschichte ist es ebenso. Niemand kann das Jetzt begreifen, der nicht weiß, woraus es entstanden ist, der nicht über eine historische Erinnerung verfügt. Und je schnelllebiger und aktionistischer unsere Gesellschaft wird, desto wichtiger ist meines Erachtens die Erinnerung. Sie ist aufwühlend, ist aber zugleich auch Ruhepol. Sie führt den Menschen letztendlich zu sich selbst. Ein großer Teil meines Buches „Erinnerung & Morgenröte“ entstand in einer persönlich sehr schweren Zeit. Ich schrieb über Dinge, die noch gegenwärtig waren und erst im Prozess des Schreibens zu Erinnerung wurden. Erst darin habe ich selbst erkannt, dass Erinnerung nichts statisches, sondern etwas Lebendiges ist, das sich mit der Zeit verändert und mit dem Abstand, den man zu den Dingen gewinnt. Durch den sich vergrößernden Abstand entwickelt sich eine neue Form der Nähe, da die Dinge klarer und begreiflicher werden, je mehr Distanz man zu ihnen gewinnt. So ist das Gewesene ebenso wie das Gegenwärtige ein ständiger Veränderungs- und Lernprozess und die Haltung des Lyrikers die eines neugierig Schauenden, die Haltung von einem, der keine Antworten sucht, sondern Fragen stellt.

Zudem ist nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen von Lyrik eine sehr sinnliche Angelegenheit, Man braucht dafür Zeit und Ruhe, muss sich darauf einlassen. Lyrik verschließt sich dem schnellen, oberflächlichen Konsum, und das ist gut so. Die Auseinandersetzung damit schärft und erweitert die Wahrnehmung und trägt zur Reflexionsfähigkeit bei. All das sind Aspekte, die auch beim verantwortungsvollen Umgang mit Politik unabdingbar sind.

MM: Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Wustmann: Das kommt darauf an, was man unter Glauben versteht. Wenn man es dogmatisch versteht, dann sicherlich nicht. Ich bin evangelisch getauft, verstehe mich aber nicht als Christen, da meines Erachtens Christentum, Judentum und Islam gleichberechtigt existieren. Ich möchte meine Position daher nicht einengen. Glaube unterliegt meines Erachtens immer einer persönlichen Interpretation. Ich glaube nicht an Gott als ein physisch existentes höheres Wesen. Die christlichen Theologen bezeichnen Gott als etwas, das „größer ist, als gedacht werden kann“, folglich etwas, das sich der menschlichen Wahrnehmung entzieht. Man kann dagegen einwenden, dass dies eine ausweichende Simplifizierung ist. Andererseits stellt es jedem Menschen die Aufgabe, zu einem eigenen Gottesverständnis zu gelangen, sich eben nicht an Dogmen zu orientieren, sondern selbst Fragen zu stellen. Ich verstehe Gott daher als metaphysische Vorstellung, zu der jeder, der sich mit Ihm auseinandersetzt auf individuellen Wegen finden muss. Nehmen wir die Schriften. Ich halte die Evangelien, die Bergpredigt und den Qur'an für die wichtigsten und visionärsten Texte, die jemals verfasst wurden, denn sie zeigen allgemein verständliche Wege auf, die ein friedliches Miteinander aller Lebewesen ermöglichen. Jesu Vorstellung vom „Reich Gottes“ kann man also als den Zustand absolut friedlichen Miteinanders verstehen. Dass dies bis heute nicht eingetreten ist, liegt vordergründig daran, dass es bis heute nicht wenige Menschen gibt, die Religion als machtpolitisches Instrument missbrauchen. Religion will aber nicht spalten, sondern einen, weshalb niemand, der Gewalt anwendet, sei es nun ein Selbstmordattentäter oder der amerikanische Präsident, glaubhaft von sich behaupten kann Muslim beziehungsweise Christ zu sein.

MM: Was halten Sie von folgendem "lyrischen" Text über Gott: "Seine Erhabenheit entfernt Ihn nicht von irgendeinem Seiner Geschöpfe, noch bringt sie Seine Nähe auf gleiche Ebene mit Ihm. Er hat dem (menschlichen) Verstand nicht (vollständig) über die Unbegrenztheit Seiner Eigenschaften informiert, aber Er hat ihn (auch) nicht vor der notwendigen Erkenntnis Seiner." abgeschirmt.

Wustmann: Zuerst einmal würde ich das Zitat – zumindest in der Übertragung – nicht als lyrisch bezeichnen. Um mir darüber ein Urteil zu erlauben müsste ich das arabische Original kennen. Aber zum Inhalt: Es findet hier eine Personifizierung statt, Gott wird als denkendes und agierendes Wesen dargestellt. Das entspricht nicht meinem persönlichen Gottesverständnis, wie ich es geschildert habe. Andererseits aber ist die Handlungsaufforderung, die ich erwähnt habe, auch hier enthalten. Der Mensch wurde nicht vollständig informiert, aber auch nicht von der Erkenntnis abgeschirmt. In diesem Sinne wird zum eigenständigen Denken aufgefordert. Gott ist nicht von seinen Geschöpfen entfernt, aber auch nicht mit ihnen auf gleicher, Ebene, das bedeutet: Er will gesucht werden. Was Gott ist, das wird hier bewusst im Ungenauen gelassen. Das wiederum deutet auf die Individualität der Glaubenserfahrung. Insofern halte ich das Zitat für eine zutreffende Interpretation, die würdig ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das zumindest hat es mit der Lyrik gemein: dass es sich dem schnellen und oberflächlichen Verständnis entzieht. Und wie ich bereits sagte: Das ist gut so! Religion muss etwas sein und bleiben, mit dem sich jedes Individuum intensiv auseinandersetzen muss, um zumindest Ansätze von Antworten zu finden. Der Mensch, der glaubt, Antworten auf dem Tablett präsentiert zu bekommen, ist zum Scheitern verurteilt. Es gibt solche Antworten. Aber man sollte ihnen mit Vorsicht begegnen.

MM: Welche Projekte planen Sie für die Zukunft?

Wustmann: Nun, ich werde erstmal die Dinge weiterverfolgen, an denen ich zur Zeit arbeite. Mein zweiter Lyrikband ist nahezu fertig und schon lektoriert. Die nächste Etappe ist die Suche nach einem Verlag. Dazu kommen meine journalistischen und feuilletonistischen Arbeiten, sowie das UNO-Komitee, dessen Kampagne gerade sehr erfolgreich begonnen hat. Gespannt bin ich auch auf den Vision Summit Anfang Juni, dem ich persönlich beiwohnen werde. Mein Sachbuch über die Demokratisierung der UNO ist ohne Gewähr für Frühjahr 2008 eingeplant. Und im Vordergrund all dessen steht natürlich weiterhin mein Studium. Sie sehen, ich bin beschäftigt. Es gibt eben viel zu tun in einer globalisierten Welt.

MM: Herr Wustmann, wir danken für das Interview.

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