MM: Sehr geehrter Herr Wustmann, woher
stammt ihr Interesse an der islamischen Kultur?
Wustmann:
Dieses Interesse entstand auf mehreren Ebenen. Zum
einen über den Kontakt zu Menschen. Bis heute halte ich mich, von Ausnahmen
abgesehen, sehr gerne in der Gegenwart von Menschen aus dem
arabisch-persisch-islamischen Kulturkreis auf. In aller Regel ist dort der
zwischenmenschliche Umgang wärmer, freundlicher, ja – aufgeschlossener. Das
gilt u.a. auch für Deutsche, deren Wurzeln außerhalb des westlichen
Kulturkreises liegen, was sicher kulturelle Gründe hat. Es liegt meines
Erachtens aber auch daran, dass viele dieser Menschen, etwa wenn sie selbst
als Immigranten oder Flüchtlinge nach Deutschland kamen, Entbehrungen
kennen, die der deutschen Nachkriegsgeneration weitgehend fremd sind. Solche
Erlebnisse schärfen den Blick für das Wesentliche im Leben.
Die zweite Ebene ist die Politik, und ich muss zu
meiner Schande gestehen, dass das Erweckungserlebnis in diesem Zusammenhang
der 11. September 2001 gewesen ist. Es ging unglaublich schnell, dass unsere
Massenmedien mit pauschalen Urteilen zur Stelle waren, und seitdem erinnert
die Stigmatisierung des Islam oder bloß islamisch oder arabisch aussehender
Menschen auf unangenehme Weise an ein anderes düsteres Kapitel der deutschen
Geschichte. Damit konnte und wollte ich mich nicht abfinden, also begann
ich, mich intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzen. Ich denke, dass es
unglaublich wichtig ist, immer zu hinterfragen. Wenn man Informationen –
gerade im heutigen Medienzeitalter – ungefiltert aufnimmt, dann ist man
bereits der Manipulation ausgeliefert und wird zum Spielball der
Meinungsführer. Es ist dabei nicht unbedingt relevant, was gesagt wird. Viel
relevanter sind die Dinge, die sehr gezielt verschwiegen werden.
Zuletzt darf ich die Literatur nicht vergessen. Die
westliche Literatur brachte und bringt bis heute ganz phantastische Werke
hervor. Dasselbe gilt aber auch für die arabischen Länder, was hier
weitestgehend im Dunkeln bleibt. Spätestens mit Goethe hätte eigentlich ein
breites öffentliches Interesse an den östlichen Autoren entstehen müssen,
tatsächlich blieb es aber bis heute auf einen kleinen Kreis
Kulturschaffender beschränkt. Nagib Machfus kennt man noch, aber wie steht
es mit Sadeq Hedayat? Wer Kafka liest, der muss im Grunde auch Hedayat
lesen. Das ist nur ein einsames Beispiel, es gäbe zahllose weitere. In der
arabischen und der persischen Literatur, gerade auch in der Lyrik, gibt es
viel zu entdecken. Diese Literatur ist sehr reichhaltig, bis heute, zumal
Dichter in jenen Ländern ein hohes Ansehen genießen. Der Respekt vor der
Sprache ist ungleich größer, was man unter anderem daran sehen kann, dass
offizielle Reden meist auf Altarabisch – der Sprache des Qur’an – gehalten
werden. Können Sie sich vorstellen, dass ein deutscher Politiker
Mittelhochdeutsch sprechen würde?
MM: Worin liegen die Schwerpunkte ihres
Studiums der Orientalistik? Bei dem Studium fällt in nahezu allen
Fächern auf, dass die Literaturverzeichnisse aller Arbeiten immer mehr
westliche Quellen nennen als muslimische. Kann solch eine Herangehensweise
nicht zu einer Verzerrung wissenschaftlicher Ergebnisse führen?
Wustmann: Das ist so nicht korrekt. Im Gegenteil. Das Orientalistikstudium ist so
aufgebaut, dass in der ersten Hälfte der Schwerpunkt auf den Sprachen liegt.
Daneben gibt es Einführungen in Geschichte und Kultur. Ziel ist aber,
Arabisch und Persisch soweit zu erlernen, dass man in der Lage ist, die
originären Quellen zu lesen, eben damit man nicht eventuellen Fehlern in
westlicher und auch östlicher Sekundärliteratur unterliegt. Der zentrale
Aspekt auch des Studiums ist immer das Hinterfragen. Die wissenschaftliche
Literatur stützt sich selbst auf Originalquellen, westliche Quellen werden
meist nur zum Vergleich und zur Überprüfung der Forschungsergebnisse
herangezogen. Das ist schon deshalb wichtig, weil Übersetzungen immer nur
Annäherungen, nie exakte Übertragungen sind. Es geht im Studium also darum,
die islamische Kultur von innen her kennen zu lernen, nicht von außen.
Richtig ist, dass populärwissenschaftliche Arbeiten, mit denen der Markt
seit 2001 überschwemmt wird, zumeist westliche Quellen – also bereits
sekundäre Literatur – heranziehen, was sie für Fehler sehr anfällig macht,
zumal vieles einfach schlampig recherchiert ist.
MM: Und welche Berufsaussichten hat man in
Deutschland mit solch einem Studium, außer für den Verfassungsschutz zu
arbeiten?
Wustmann: Die Berufsaussichten sind
zahlreich, und der Verfassungsschutz – der ja, wenn es nach Herrn Schäuble
geht, bald alles und jeden kontrollieren und ausspionieren darf – gehört
weniger zu meinen Zielen. Es steht außer Frage, dass die Verfassung
eingehalten werden muss. Aber nicht um den Preis des Verlustes der
Bürgerrechte. Solche Regelungen sind selbst verfassungsfeindlich.
Zum einen werde ich sicherlich im publizistischen
Bereich weiterarbeiten. Gerade die meinungsführenden Massenmedien lassen die
nötige Fundiertheit oft vermissen. Das muss sich ändern. Wenn ein großes
Hamburger Nachrichtenmagazin mit dem Titel „Die schleichende Islamisierung
Deutschlands“ aufmacht, dann werden dort Ressentiments bedient. Das ist der
politischen Situation nicht förderlich. Und endlos zitierte Begriffe wie
Becksteins „Parallelgesellschaften“ tragen massiv zur Verhärtung der Fronten
bei. Es gibt beispielsweise mit
zenith
einen sehr differenzierten und fundierten Orientjournalismus in Deutschland.
Nur erreicht der eben nicht die breite Bevölkerung, weshalb solche Projekte
unbedingt Unterstützung benötigen. Wenn man in diesem Bereich ernsthaft
engagiert ist, kann man all die selbsternannten Islamexperten, die täglich
durch die Medien geistern und kaum etwas anderes tun als die Gräben zu
vertiefen, nur schwer ertragen.
Was kann man sonst noch machen? Nun, man kann, wenn
man ausreichende Sprachkenntnisse erlangt hat, vor Ort arbeiten, im sozialen
Bereich etwa, oder auch an Universitäten. Letztendlich sind mir solche
Tätigkeiten wichtig, die dazu beitragen, den interkulturellen Dialog zu
fördern.
MM: Gibt es denn unter den Dozenten auch
Personen mit Sympathie für den Islam?
Wustmann: Die gibt es. Ehrlich gesagt habe
ich bis heute keinen einzigen Dozenten kennen gelernt, der keine Sympathien
für die islamische Kultur hegte. Mein Eindruck ist, dass die Beschäftigung
an den Universitäten mit dem Thema aus einer – problemorientierten –
Zuneigung heraus entsteht, aber nicht aus Ablehnung. Zumal nicht wenige
Dozenten selbst Araber oder Perser sind. Der Islam wird – wie jede andere
Religion auch – natürlich kritisch im Spiegel der jeweiligen Zeit
betrachtet. Fragestellungen werden analysiert, es kommt aber nicht zu
Verurteilungen. Das wäre anmaßend und widerspräche der wissenschaftlichen
Neutralität.
MM: Sie sind Mitglied im Komitee für eine
demokratische UNO (KDUN). Wie kamen Sie dazu?
Wustmann: Der Journalist Jürgen Streich, mit
dem ich seit Langem befreundet bin, gehört zu den Gründern der Organisation.
Als er mich um Mithilfe bat, stand alles Weitere für mich außer Frage. Das
Komitee ist eine gute Sache. Nicht umsonst zählt der Vorsitzende Andreas
Bummel zu den Preisträgern des diesjährigen Vision Summit. Die Stimmen, die
die Legitimation der UNO in Frage stellen, sind seit Beginn des Irakkrieges
nicht zu Unrecht immer lauter geworden. Deshalb geht es uns in erster Linie
eben darum, der UNO eine demokratische Legitimation zu verschaffen. Es darf
in einer globalisierten Welt nicht sein, dass eine überstaatliche
Institution, die sich der Friedenssicherung verschrieben hat, den
Einzelinteressen weniger Regierungen ausgeliefert ist. Das positive ist,
dass die langfristigen Pläne des KDUN auch umsetzbar sind, und dass
demokratische Regierungen keine plausiblen Einwände gegen die Pläne haben
können. Es wird viel Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen, aber das
sehe ich optimistisch. Die globalen Probleme können nur mittels Dialog und
Zusammenarbeit gelöst werden. Das gilt es zu erkennen und umzusetzen.
MM: Ihre journalistische Tätigkeit ist die
Weltpolitik, hingegen ist ihre dichterische Tätigkeit auf Lyrik
ausgerichtet, wie verträgt sich das?
Wustmann: Das verträgt sich bestens. In der
Politik geht es darum, Sachverhalte zu hinterfragen, zu analysieren, nach
Lösungsansätzen zu suchen. Wenn Sie so wollen, ist es in der Lyrik ähnlich.
Lyrik betrachtet. Die Welt, den Menschen, die Sprache, und versucht dabei,
neue Ausdrucksformen zu finden, ungewöhnliche Perspektiven. Lyrik ist immer
auch ein Spiegel der Zeit, in der sie verfasst wird. Das Lebensgefühl, die
Mentalitäten jeder Kultur und jeder Epoche kann durch die in ihr entstandene
Lyrik nachempfunden werden. Mein Arbeitsschwerpunkt liegt dabei auf der
Frage nach der Erinnerung. Was ist Erinnerung, was macht sie mit uns?
Erinnerung kann individuell sein oder kollektiv, sie kann schmerzhaft oder
erhebend sein. Wichtig ist, Erinnerung bewusst zu erleben, denn das, was wir
in der Erinnerung finden ist der Grund dafür, dass wir sind wie wir sind. In
der Geschichte ist es ebenso. Niemand kann das Jetzt begreifen, der nicht
weiß, woraus es entstanden ist, der nicht über eine historische Erinnerung
verfügt. Und je schnelllebiger und aktionistischer unsere Gesellschaft wird,
desto wichtiger ist meines Erachtens die Erinnerung. Sie ist aufwühlend, ist
aber zugleich auch Ruhepol. Sie führt den Menschen letztendlich zu sich
selbst. Ein großer Teil meines Buches „Erinnerung &
Morgenröte“ entstand in einer persönlich sehr schweren Zeit. Ich schrieb
über Dinge, die noch gegenwärtig waren und erst im Prozess des Schreibens zu
Erinnerung wurden. Erst darin habe ich selbst erkannt, dass Erinnerung
nichts statisches, sondern etwas Lebendiges ist, das sich mit der Zeit
verändert und mit dem Abstand, den man zu den Dingen gewinnt. Durch den sich
vergrößernden Abstand entwickelt sich eine neue Form der Nähe, da die Dinge
klarer und begreiflicher werden, je mehr Distanz man zu ihnen gewinnt. So
ist das Gewesene ebenso wie das Gegenwärtige ein ständiger Veränderungs- und
Lernprozess und die Haltung des Lyrikers die eines neugierig Schauenden, die
Haltung von einem, der keine Antworten sucht, sondern Fragen stellt.
Zudem ist nicht nur das Schreiben, sondern auch das
Lesen von Lyrik eine sehr sinnliche Angelegenheit, Man braucht dafür Zeit
und Ruhe, muss sich darauf einlassen. Lyrik verschließt sich dem schnellen,
oberflächlichen Konsum, und das ist gut so. Die Auseinandersetzung damit
schärft und erweitert die Wahrnehmung und trägt zur Reflexionsfähigkeit bei.
All das sind Aspekte, die auch beim verantwortungsvollen Umgang mit Politik
unabdingbar sind.
MM: Sind Sie ein gläubiger Mensch?
Wustmann: Das kommt darauf an, was man unter
Glauben versteht. Wenn man es dogmatisch versteht, dann sicherlich nicht.
Ich bin evangelisch getauft, verstehe mich aber nicht als Christen, da
meines Erachtens Christentum, Judentum und Islam gleichberechtigt
existieren. Ich möchte meine Position daher nicht einengen. Glaube
unterliegt meines Erachtens immer einer persönlichen Interpretation. Ich
glaube nicht an Gott als ein physisch existentes höheres Wesen. Die
christlichen Theologen bezeichnen Gott als etwas, das „größer ist, als
gedacht werden kann“, folglich etwas, das sich der menschlichen Wahrnehmung
entzieht. Man kann dagegen einwenden, dass dies eine ausweichende
Simplifizierung ist. Andererseits stellt es jedem Menschen die Aufgabe, zu
einem eigenen Gottesverständnis zu gelangen, sich eben nicht an Dogmen zu
orientieren, sondern selbst Fragen zu stellen. Ich verstehe Gott daher als
metaphysische Vorstellung, zu der jeder, der sich mit Ihm auseinandersetzt
auf individuellen Wegen finden muss. Nehmen wir die Schriften. Ich halte die
Evangelien, die Bergpredigt und den Qur'an für die wichtigsten und
visionärsten Texte, die jemals verfasst wurden, denn sie zeigen allgemein
verständliche Wege auf, die ein friedliches Miteinander aller Lebewesen
ermöglichen. Jesu Vorstellung vom „Reich Gottes“ kann man also als den
Zustand absolut friedlichen Miteinanders verstehen. Dass dies bis heute
nicht eingetreten ist, liegt vordergründig daran, dass es bis heute nicht
wenige Menschen gibt, die Religion als machtpolitisches Instrument
missbrauchen. Religion will aber nicht spalten, sondern einen, weshalb
niemand, der Gewalt anwendet, sei es nun ein Selbstmordattentäter oder der
amerikanische Präsident, glaubhaft von sich behaupten kann Muslim
beziehungsweise Christ zu sein.
MM: Was halten Sie von folgendem "lyrischen"
Text über Gott: "Seine Erhabenheit entfernt Ihn nicht von irgendeinem
Seiner Geschöpfe, noch bringt sie Seine Nähe auf gleiche Ebene mit Ihm. Er
hat dem (menschlichen) Verstand nicht (vollständig) über die Unbegrenztheit
Seiner Eigenschaften informiert, aber Er hat ihn (auch) nicht vor der
notwendigen Erkenntnis Seiner." abgeschirmt.
Wustmann: Zuerst einmal würde ich das Zitat
– zumindest in der Übertragung – nicht als lyrisch bezeichnen. Um mir
darüber ein Urteil zu erlauben müsste ich das arabische Original kennen.
Aber zum Inhalt: Es findet hier eine Personifizierung statt, Gott wird als
denkendes und agierendes Wesen dargestellt. Das entspricht nicht meinem
persönlichen Gottesverständnis, wie ich es geschildert habe. Andererseits
aber ist die Handlungsaufforderung, die ich erwähnt habe, auch hier
enthalten. Der Mensch wurde nicht vollständig informiert, aber auch nicht
von der Erkenntnis abgeschirmt. In diesem Sinne wird zum eigenständigen
Denken aufgefordert. Gott ist nicht von seinen Geschöpfen entfernt, aber
auch nicht mit ihnen auf gleicher, Ebene, das bedeutet: Er will gesucht
werden. Was Gott ist, das wird hier bewusst im Ungenauen gelassen. Das
wiederum deutet auf die Individualität der Glaubenserfahrung. Insofern halte
ich das Zitat für eine zutreffende Interpretation, die würdig ist, sich mit
ihr auseinanderzusetzen. Das zumindest hat es mit der Lyrik gemein: dass es
sich dem schnellen und oberflächlichen Verständnis entzieht. Und wie ich
bereits sagte: Das ist gut so! Religion muss etwas sein und bleiben, mit dem
sich jedes Individuum intensiv auseinandersetzen muss, um zumindest Ansätze
von Antworten zu finden. Der Mensch, der glaubt, Antworten auf dem Tablett
präsentiert zu bekommen, ist zum Scheitern verurteilt. Es gibt solche
Antworten. Aber man sollte ihnen mit Vorsicht begegnen.
MM: Welche Projekte planen Sie für die
Zukunft?
Wustmann: Nun, ich werde erstmal die Dinge
weiterverfolgen, an denen ich zur Zeit arbeite. Mein zweiter Lyrikband ist
nahezu fertig und schon lektoriert. Die nächste Etappe ist die Suche nach
einem Verlag. Dazu kommen meine journalistischen und feuilletonistischen
Arbeiten, sowie das UNO-Komitee, dessen Kampagne gerade sehr erfolgreich
begonnen hat. Gespannt bin ich auch auf den Vision Summit Anfang Juni, dem
ich persönlich beiwohnen werde. Mein Sachbuch über die Demokratisierung der
UNO ist ohne Gewähr für Frühjahr 2008 eingeplant. Und im Vordergrund all
dessen steht natürlich weiterhin mein Studium. Sie sehen, ich bin
beschäftigt. Es gibt eben viel zu tun in einer globalisierten Welt.
MM: Herr Wustmann, wir danken für das
Interview.
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