MM:
Sehr
geehrter Herr von Raussendorff, bevor wir zu Ihren aktuellen Aktivitäten
kommen, erlauben Sie uns eine Frage zu Ihrer Vergangenheit. Was denken Sie
rückwirkend darüber, dass sie vier Jahre im Gefängnis verbringen mussten,
verurteilt für die Spionage für einen Staat, den es heute nicht mehr gibt?
von
Raussendorff: Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten diente
die Strafverfolgung der ehemaligen Kundschafter der DDR nicht mehr dem
legitimen Schutz der BRD gegen die Spionage der "fremden Macht" DDR. Dass es
trotz dieser rechtlichen Problematik zur Verfolgung der ehemaligen
DDR-Agenten kam, entsprach allein einem Wunsch nach Rache und Abrechnung.
Die DDR sollte "delegitimiert" werden. Das machte es auch leichter, die
Vermögenswerte der DDR und ihrer Bewohner zu enteignen. Die scheinbar
"normale" Bestrafung von DDR-Spionen bildete den Einstieg in die
Verfolgung und Diskriminierung Hunderttausender ehemaliger Funktionsträger
der DDR. Dies hatte auch den Zweck, diejenigen, die für den Aufbau eines
sozialistischen Staates gelebt und gekämpft hatten, aus dem öffentlichen
Leben auszuschalten und als Zeitzeugen zum Schweigen zu bringen. Das Ziel
war, "Die DDR unterm Lügenberg" zu begraben, wie der Titel eines kürzlich
erschienenen Buches des ehemaligen DDR-Diplomaten Ralph Hartmann lautet...
MM:
Würden
Sie sich heute noch als Kommunisten bezeichnen, oder eher als
Antikapitalisten?
von
Raussendorff: Kommunisten sind Gegner des Kapitalismus. Sich für
antikapitalistisch zu halten aber das Ziel einer höheren Form der
Gesellschaft, die auf Gemeineigentum und wirklicher Demokratie beruht,
abzulehnen, kann einem in dieser Gesellschaft vielleicht einigen Ärger
ersparen, erscheint mir aber nicht besonders konsequent. Wer einmal in die
wissenschaftliche Weltanschauung des dialektischen Materialismus
eingedrungen ist, hat wahrscheinlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder er
oder sie wendet sich bewusst vom Marxismus ab, was nicht heißt, automatisch
Anti-Kommunist zu werden. Oder er oder sie bemüht sich, die marxistische
Philosophie und Denkmethode immer bewusster zu handhaben. Das hat natürlich
praktische Folgen. Man sucht nach Möglichkeiten, wie man selbst dazu
beitragen kann, die Barbarei des Kapitalismus zu überwinden. Dieses Ziel ist
es, das man zum Ausdruck bringt, wenn man sich als Kommunist bezeichnet.
MM: Aus Sicht vieler Muslime ist
der Marxismus aber durch seine rein materielle Anschauungsform und Grundlage
und dieser Verneinung der spirituellen Bedürfnisse des Menschen nur ein Bruder
des Kapitalismus. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
von
Raussendorff: Ich habe eine hohe Meinung vom Islam, besonders weil der
Islam, wenn ich recht verstehe, dem rationalen Denken und der Philosophie
eine eigene Zuständigkeit und Würde eingeräumt hat, und zwar im Unterscheid
zum Christentum von Anfang an. Daher waren frühe islamische Denker auch in
der Lage, das philosophische Denken der Antike zu bewahren und
weiterzugeben. Angesichts der Aufforderung des Islam, rational zu denken,
kann ich einfach nicht glauben, dass es allzu viele Muslime gibt, die sich
von dem plumpen Versuch täuschen lassen, den Marxismus, eine Weltanschauung,
mit dem Kapitalismus, einer Gesellschaftsformation, gleichzusetzen.
Schließlich sind Marxisten die schärfsten Kritiker des Kapitalismus und
wollen ihn theoretisch und praktisch überwinden. Nachvollziehbar scheint mir
allerdings, dass eine bestimmte Politik der Sowjetunion, die darin bestand,
die revolutionären Befreiungsbewegungen weitgehend wie Spielkarten im
Großmächtepoker des kalten Krieges zu behandeln und dabei das Ziel des
Weltsozialismus aus den Augen zu verlieren, aus der Sicht islamischer und
anderer Länder den Anschein einer Kumpanei feindlicher Brüder haben konnte.
Islam und Marxismus sind Weltanschauungen unterschiedlichen Typs. Der
Marxismus ist konsequenter Monismus: Die Totalität des Seins wird als
dialektische Einheit von Materie und Geist, von Materie und Widerspiegelung
aufgefasst. Der Islam geht, soweit ich verstehe, von einer Dualität aus: Das
göttliche Absolute und die reale Welt werden nicht als Pole einer
dialektischen Einheit verstanden, aber das Göttliche ist in der von ihm
streng unterschiedenen Realität von Mensch und Natur dennoch allgegenwärtig.
Trotz dieses ontologischen Unterschieds kommen Marxismus und Islam vielfach
zu gleichen ethischen Schlussfolgerungen, z. B. in der Frage der
universellen Gerechtigkeit, für die es zu streiten lohnt.
MM:
Sie waren ja nicht nur Spion sondern auch deutscher Diplomat in
hohen Stellungen. Wie ist es ihrer Meinung nach zu erklären, dass die
heutige deutsche Diplomatie zunehmend Gefahr läuft, auf Seiten von
Völkerrechts- und Kriegsverbrechern zu stehen?
von
Raussendorff:
von
Raussendorff:
Ja,
ich war Spion. Mögen Historiker herausfinden, ob und wie wir
DDR-Kundschafter in der besonderen Situation des kalten Krieges und der
deutschen Zweistaatigkeit der Sache des Friedens und des Sozialismus gedient
haben. Ich jedenfalls bin davon angesichts der gefährlichen Entwicklung nach
der vorläufigen Niederlage der Arbeiterklasse mehr denn je überzeugt. Ich
musste mich damals nicht verstellen, um für die BRD als Diplomat zu
fungieren. Nicht nur, dass dieser Beruf meinen Neigungen und Interessen
entgegenkam. Da gab es auch eine Menge Aufgaben, die ich trotz des
kapitalistischen Charakters der BRD und ihrer Politik als legitim und
sinnvoll ansah und engagiert erfüllt habe. Dagegen frage ich mich jetzt
manchmal, wie die heutigen deutschen Diplomaten damit zurecht kommen, dass
die Regierung unseres Landes sich an Völkerrechtsbruch und Kriegsverbrechen
beteiligt. Dies ist keine in der Zukunft liegende Gefahr, wenngleich eine
weitere Eskalation zu befürchten ist, sondern z.B. in Afghanistan ebenso wie
zuvor in Jugoslawien aktuelle Wirklichkeit. Um diese verhängnisvolle Wendung
der deutschen Politik zu erklären, bedürfte es einer umfassenden und
komplexen Analyse der Weltlage. Einfach gesagt: Den USA, Deutschland und
anderen imperialistischen Staaten steht heute keine Koalition
antiimperialistischer Kräfte als Gegengewicht gegenüber. Dass allerdings die
Politik der NATO- und EU-Regierungen auf wachsenden Widerstand und die
vielfältigsten Formen von Gegenreaktionen stößt, kann man mit großem
Interesse feststellen. Ende Juli
schlug der russische General Iwaschow vor, dass die
Staaten der 1999 gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ),
der Russland, China und Indien (als Beobachter) angehören, „ihre
Bündniskräfte und das
Potential aller Länder zusammenschließen, die eine selbständige Politik
betreiben können und wollen". Wenn sich die islamische Welt und die Länder
Lateinamerikas der Shanghaier Organisation anschließen, meint dieser
General, so werde die SOZ zu einer Organisation mit globalem Einfluss.
MM:
Zu Ihrem
Engagement gehört auch, sich für die Freilassung von Marwan Barghouti aus
israelischen Gefängnissen einzusetzen. Wie erklären Sie sich, dass auf der
einen Seite einige engagierte Bürger sich selbst um Einzelpersonen einsetzen
und auf der anderen Seite der Großteil der Bevölkerung gar nichts von
Tausenden von politischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen weiß,
darunter auch Frauen und Kinder?
von
Raussendorff:
Gerade um auf die Lage aller palästinensischen politischen Gefangenen
Israels aufmerksam zu machen, von denen Marwan Barghouti der wohl
prominenteste war und ist, haben wir vor vier Jahren in Berlin eine
Konferenz organisiert, an der unter anderem eine israelische Rechtsanwältin
und einer ihrer israelisch-palästinensischen Kollegen teilnahmen. Wie
üblich, fand das Thema dieser Konferenz so gut wie kein Interesse bei den
Medien. Ja, wie kann man sich erklären, dass ein einziger gefangener
israelischer Soldat weltweit monatelang Schlagzeilen macht, während
Palästinenser, die von israelischen Sicherheitskräften sozusagen
routinemäßig verschleppt, gefoltert und inhaftiert werden, im öffentlichen
Bewusstsein nicht zu existieren scheinen? Es ist außerordentlich schwierig,
allein mit Informationen und Aufklärung Breschen in diese selektive
Wahrnehmung der Öffentlichkeit schlagen zu wollen. Das liegt meiner Ansicht
nach daran, dass in einer Gesellschaft, in der Profit und Ausbeutung oberste
moralische Werte sind, und die Konkurrenz aller gegen alle eine seelische
Kälte und Verkrüppelung erzeugt, auch Mitgefühl mit anderen Menschen, zumal
in fremden Ländern, spontan nur dann entsteht, wenn diese Art Empathie mit
irgendwelchen Erwägungen der Nützlichkeit für sich oder die eigene Klasse
übereinstimmen. Diese Art selektiver Empathie nimmt unter den gegebenen
Herrschaftsverhältnissen meist einen ausgesprochen rassistischen Charakter
an. Mitleid wird zu einer Frage der Hautfarbe, Religion oder kulturellen
Identität. Wo man sich hingegen bewusst ist, mit allen Menschen, die unter
den herrschenden Verhältnissen ausgebeutet, erniedrigt und unterdrückt
werden, in der gleichen Lage zu stecken, da entsteht internationalistische
Solidarität, das kann Mitgefühl mit einem gefangenen israelischen Soldaten
einschließen, der letztlich Opfer seiner eigenen Regierung ist.
MM:
Haben Sie
Ihrem Ex-Chef Markus Wolf vor seinen Israel-Reisen kontaktiert, damit er
sich für die Palästinenser einsetzt?
von
Raussendorff:
Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit. Leider ist „Mischa“ im November
letzten Jahres gestorben. Ich will aber auch betonen, dass nach meiner
Auffassung, nur der Widerstand der Palästinenser - zusammen mit einer
internationalen Mobilisierung zur Unterstützung ihrer legitimen Bestrebungen
- den Druck auf die herrschende Klasse in Israel und den USA erzeugen kann,
der nötig ist, um zu einem friedlichen Zusammenleben von Israelis und
Palästinensern zu kommen. Es hilft natürlich, wenn Prominente wie der
ehemalige US-Präsident Jimmy Carter deutlich darauf hinweisen, dass die
israelische Apartheid-Politik schlimmer ist als die des früheren
rassistischen Südafrika.
MM:
Sie haben 2003 zu einem
Buch einen Artikel mit dem Titel beigetragen: "Die Schlacht ist noch zu
gewinnen". Um welche "Schlacht" geht es da, und kann man nicht
auch in anderen Kategorien versuchen die Welt zu verbessern als in "Schlachten"?
von
Raussendorff:
Der Titel bringt die
Überzeugung zum Ausdruck, dass es den Völkern der Welt auch nach der
vorläufigen Niederlage der Arbeiterklasse immer noch möglich ist, sich von
einem irrationalen, zerstörerischen Gesellschaftssystem zu befreien. Die
Metapher der Schlacht ist hier erkennbar im Sinne eines umfassenden Kampfes
für eine bessere Gesellschaftsordnung gemeint. Auch
Dschihad,
ein Wesenszug der islamischen Zivilgesellschaft, ist ein
solcher umfassender Begriff. Ich beziehe mich dabei auf den bedeutenden
islamischen Denker Rachid Al-Ghannouchi. Dieser schreibt: „Dschihad ist
das ständige Bemühen, gegen alle Formen von politischer oder ökonomischer
Tyrannei zu kämpfen, weil im Schatten des Despotismus das Leben keinen Wert
hat. Der Islam führt Krieg gegen Despotismus“. Ghannouchi, der auch Führer
einer islamischen Partei Tunesiens ist, benutzt also ebenfalls eine
militärische Metapher, und er definiert diesen "Krieg" als "eine Abfolge von
Haltungen, die von einem Herzen ausgehen, welches das Böse scheut. Dies kann
dann, je nach Fähigkeit und Ressourcen, weiter führen zu einer Verurteilung
des Despotismus mit nicht-gewaltsamen Mitteln wie der freien
Meinungsäußerung, des öffentlichen Redens, Schreibens oder Demonstrierens
und, wenn nötig, bis zum Gebrauch von Gewalt." Auch der Kommunismus führt
"Krieg", aber er ist nicht "von Natur aus gewalttätig", auch wenn dies von
seinen Gegnern immer wieder behauptet wird. Bewaffneter Widerstand gegen
fremde Besatzung ist politisch, moralisch und völkerrechtlich legitim. Wenn
behauptet wird, der Islam verherrliche die Gewalt um der Gewalt willen, so
dient dieser Vorwurf oft nur dem Zweck, Muslime - und nicht nur diese -
einzuschüchtern, damit sie auf Distanz gehen, wenn in Irak, Afghanistan,
Libanon und Palästina von islamischen und anderen Kräften Widerstand gegen
Krieg und Besatzung geleistet wird.
MM:
Ihr jüngster Beitrag zu einem Buch ist betitelt "Der
Israel/Palästina-Konflikt - Zur weltpolitischen Dimension eines Kampfes für
nationale Souveränität und Demokratie". Sie behandeln ein Thema, bei dem
gerade die deutsche Sicht vergangenheitsbedingt nicht unbefangen ist. Was
halten Sie von der Vorstellung, dass der Konflikt nicht "national" sondern
menschlich dadurch gelöst wird, dass ein gemeinsamer Staat von
gleichberechtigten Bürgern vergleichbar Südafrika angestrebt wird?
von
Raussendorff: Dass Israel zu einem Staat aller seiner Bürger werden
muss, ist in den letzten Monaten von den politischen Repräsentanten der
palästinensischen Staatsbürger Israels so klar und nachdrücklich wie nie
zuvor gefordert worden, auch wenn die meisten westlichen Medien keine Notiz
davon nehmen. Die etwa 1 Million palästinensischen Israelis sind im
"jüdischen" Staat Israel nur am Rande geduldet, "am Rande der israelischen
Gesellschaft wie am Rande der regionalen Gesellschaft", um den
israelisch-palästinensischen Politiker Azmi Bishara zu zitieren, der von den
israelischen Behörden gerade als Vorkämpfer der Umwandlung Israels in einen
demokratischen Staat ohne ethnische Privilegien verfolgt wird. Dass Israel
das Existenzrecht der Palästinenser missachtet, indem es alles tut, um die
Bildung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zu verhindern, dass
Israel die palästinensischen Gebiete durch die israelischen
Sicherheitsorgane, durch jüdische Siedlungen, durch Isolierung der
palästinensischen Enklaven von einander sowie von der Außenwelt sowie jüngst
sogar durch Inszenierung eines palästinensischen Bürgerkrieges einem in der
Welt beispiellosen Besatzungsregime unterwirft, wird mit der Behauptung
gerechtfertigt, dass dies zur Sicherung der Existenz Israels notwendig sei.
Aber nicht die Existenz des Staates Israel ist gefährdet. Unhaltbar ist der
zionistische Charakter des Staates Israel, der Juden in aller Welt, ob sie
dies wollen oder nicht, exklusive Rechte einräumt, während er den
wirklichen, lebendigen Menschen, die in ihrer angestammten palästinensischen
Heimat im Staate Israel und unter israelischer Besatzung leben, das Recht
verweigert, in Würde zu leben. Um den Nahostkonflikt einer friedlichen
Regelung näher zu bringen, genügt es nicht, eine "Zwei-Staaten-Lösung"
anzustreben, zu der sich ja, wenigsten in Worten, auch die deutsche
Regierung bekennt. Es ist nach Meinung vieler fortschrittlicher Israelis und
Palästinenser erforderlich, alle Probleme des Israel/Palästina - Konflikts
(Status von Jerusalem, Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge,
Verteilung der Wasserressourcen etc.) auf der Grundlage des Prinzips einer
jüdisch-palästinensischen Binationalität anzugehen. Das bedeutet, dass nur
binationale staatliche Strukturen in Israel selbst wie auch vielleicht eines
Tages in Gestalt einer israelisch-palästinensischen Föderation eine sichere
Zukunft für Palästinenser und Juden gewährleisten können. Die Zukunft von
Juden in Israel zu sichern, bedeutet nach Meinung der fortschrittlichen
Israelis, sich für die Lebensrechte der Palästinenser einzusetzen. Dies
scheint mir auch die einzig richtige Schlussfolgerung, die wir Deutsche aus
unserer historischen Schuld des Völkermords an den europäischen Juden ziehen
müssen.
MM:
Einstmals
haben sie sich mit dem damaligen Feindbild intensiv beschäftigt. Können Sie
sich vorstellen sich genau so intensiv mit dem neuen Feindbild der
westlichen Welt zu beschäftigen?
von
Raussendorff: Früher habe ich mich nachrichtendienstlich mit realen
feindlichen Mächten beschäftigt. Heute beschäftige ich mich, wie Sie richtig
vermuten, publizistisch unter anderem auch mit Feindbildern, d.h. mit der
Frage, wie und wozu sie produziert werden. Das Feindbild "Islam", auf das
Sie offenbar ansprechen, ist in der westlichen Zivilisation nicht "neu",
sondern hat eine Geschichte, die sich über mindestens 900 Jahre erstreckt.
Das erleichtert die Diabolisierung islamischer Kräfte, weil an überkommene
Ressentiments und Klischees angeknüpft werden kann. Auch ist die aktuelle Islamophobie nicht in dem Sinne neu, dass sie nun das Feindbild
"Kommunismus" gänzlich verdrängen würde. Gerade in jüngster Zeit erleben wir
in Osteuropa ein Wiederaufleben aggressiver anti-kommunistischer Tendenzen,
wozu auch bestimmte Kräfte in der EU und im Europarat beigetragen haben. Die
antiislamische Feindbild-Produktion zu kritisieren, bedeutet zunächst, über
die soziale Wirklichkeit islamischer Länder in relevanten Zusammenhängen und
differenziert zu informieren. Man muss aber auch erklären, wie ein
bestimmter Rahmen der Wahrnehmung erzeugt wird. Es ist, wie die
Medienwissenschaftler sagen, ein solcher "frame", der dafür sorgt, das die
einzelnen Informationen von den Medienkonsumenten in einem vorgegebenen
Sinne eingeordnet werden. So entsteht eine zumindest passive Akzeptanz
dafür, dass die Machteliten des Westens den Völkern des Großen Mittleren
Ostens nicht gestatten, ihr politisches Schicksal selbst in die Hand zu
nehmen. Ein solcher Rahmen beruht auf der generellen Vorstellung, dass der
Westen in dieser Region wie überhaupt in der Welt eine "zivilisatorische"
Mission hat. Um westliche Einmischung und Aggression gegen islamische Länder
akzeptabel erscheinen zu lassen, wird der Islam als "irrational",
"gewaltbereit", "bedrohlich" etc. dargestellt, und dies durchaus auf der
Basis ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Denkweisen. Die Skala der am
Feinbild "Islam" mitwirkenden Ideologien ist breit. Da ist in erster Linie
ein bestimmter totalitärer Säkularismus, der aus jeglichen historischen
Zusammenhängen herausgelöst ist. Dies ist die bevorzugte Ideologie der
Diktatur der Märkte, die heute dominant ist. Daraus ergibt sich der Anspruch
auf ein Definitionsmonopol für Demokratie und Menschenrechte, das dazu
beiträgt, die Strukturen islamischer Zivilgesellschaften zu verkennen und
pauschal abzuwerten. Hinzukommt ferner auf "spirituellem" Gebiet eine
angeblich überlegene theologische und moralische Kompetenz des Christentums
und seiner Instanzen. Und nicht zuletzt betreiben Rechtsextreme und
Pro-Zionisten eine offen rassistische Hetze gegen Muslime. Diese
Erscheinungen stellen eine enorme Herausforderung dar, denen sich
fortschrittliche Religions- und Ideologiekritik zu stellen hat.
MM:
Herr von
Raussendorff, wir danken für das Interview.
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