MM:
Sehr geehrte Herr Dr.
Musa. Sie gehören zu der Generation von Palästinensern, die die
Staatsgründung Israels noch miterlebt haben. Was haben Sie noch in
Erinnerung?
Musa:
Leider sehr viele, aber
überwiegend negative und Furcht erregende Erlebnisse. Gerade konnte ich ein
wenig Lesen und Schreiben, da mussten wir die Schulbank schon wieder
verlassen, da die Schulen als Notunterkünfte für die palästinensischen
Flüchtlinge umfunktioniert werden mussten, die durch die gewaltsam
herbeigeführte Staatsgründung Israels im Jahr 1948 aus ihrem Heimatland
vertrieben worden sind. Über ein Jahr haben wir ohne Unterricht verbringen
müssen. Natürlich habe ich mich damals als Kind über diesen Zustand des
"offiziellen" Schulschwänzens gefreut, aber ich merkte schon damals, dass
einiges mit unserer Kindheit nicht in Ordnung war.
Die Bilder von
gewalttätigen Juden, die mit Terroranschlägen in den 1940er Jahren meine
Landsleute terrorisiert haben, bleiben mir bis heute im Gedächtnis haften.
Auch ich bin des öfteren, als ich alleine war, von vielen jüdischen Kindern
in Haifa, in meinem Alter und älter, angegriffen worden. Nur die Flucht war
für mich die Rettung. Für uns Palästinenser bedeutete die Vertreibung und
die Gründung Israels die Katastrophe (al-Nakba) schlechthin. Sie dauert bis
heute an und wird immer schlimmer. Israel bezeichnet zu Unrecht diesen 48er
Krieg als Unabhängigkeitskrieg. Es war der erste Krieg, in dem es eine
massenhafte "ethnische Säuberung" gab. Dies nennt auch der israelische
Historiker Ilan Pappe so. Diese historische Ungerechtigkeit ist bis heute
ungesühnt. Die westlichen Staaten tragen an dieser Tragödie meines Volkes
eine große Schuld. Sie muss korrigiert werden.
MM:
Erlauben Sie uns an
dieser Stelle einzuhaken. Im Gespräch mit Palästinensern werden die
Begriffe, Zionisten und Juden fast synonym verwendet, so dass der Eindruck
entsteht, als wenn sie etwas gegen Juden hätten, weil sie Juden sind, was
der Islam nicht erlaubt. Können Sie dieses Missverständnis etwas aufklären?
Musa:
In Palästina sprechen
alle meine Landsleute, von Juden, auch wenn damit immer nur die Israelis
gemeint sind. Diese Bezeichnung beinhaltet nichts Negatives, weil es so von
keinem gemeint ist. Wenn ich z. B. den Ausdruck Zionisten verwende, dann
bezeichne ich damit diejenigen Israelis und Juden, die dieser
verhängnisvollen Ideologie anhängen. Der Zionismus ist für mich eine Form
des Rassismus, weil er nur einen Staat für Bürger jüdischen Glaubens
schaffen will. Ein auf ethnischen Prinzipien beruhender Staat ist per
definitionem rassistisch. Die unzähligen Diskriminierungen meiner Landsleute
in Israel und den besetzten Gebieten sprechen eine eindeutige Sprache. Auch
viele Israelis, die keine Zionisten sind, werfen dem Zionismus Rassismus
vor. Wir in Palästina und in der gesamten islamischen und arabischen Welt
haben mit unseren jüdischen Landsleuten über 1400 Jahre friedlich
zusammengelebt, bis der kolonialistische Zionismus am Ende des 19.
Jahrhunderts auf den Plan getreten ist. Nicht wir sind das Problem, sondern
der Zionismus. Frieden in Palästina und in Israel kann es m.E. nur ohne die
zionistische Ideologie geben.
MM:
Wie kam es zu ihren
politischen Aktivitäten?
Musa:
Durch die geschilderten
Erlebnisse wurde der Grundstein für mein politisches Gedankengut früh
gelegt. Ich war etwa 10 Jahre alt, also im ersten Schuljahr nach der
Zwangsunterrichtsfreiheit, als in Jordanien Wahlen abgehalten werden sollten
– ebenso in Nablus. Durch die Erzählungen meines Vaters wusste ich etwas um
die politischen Umstände, und als Bassam Shakaa- der spätere Bürgermeister
von Nablus, der etwa acht Jahre älter war als ich, eine Kinderschar von etwa
10 Kindern anheuerte, um die Stimmauszählung der Wahlen zu torpedieren, die
übrigens in meiner Schule stattfinden sollte, habe ich nicht eine Sekunde
gezögert, um mitzumachen. Wir glaubten damals, nur die Günstlinge Abdallas
würden, durch Manipulation der Wahlergebnisse, die Wahl gewinnen. Angeführt
von Bassam Shakaa, hatten wir die Stimmauszählung nur stören, aber nicht
verhindern können. Die Soldaten Abdallas schossen mit scharfer Munition auf
uns. Mit ihnen haben wir Katz und Maus gespielt. Glücklicherweise wurde
niemand von uns getroffen. Bassam Shakaa war den Zionisten immer ein Dorn im
Auge, weil er nationale Tradition der Palästinenser betont hatte, was die
Zionisten besonders störte. Sein Auto wurde von jüdischen Extremisten, als
er in Nablus Bürgermeister war, in die Luft gesprengt, wobei er beide Beine
verlor.
In Nablus gab es
viele Handlanger des haschemitischen Königs Abdallah (der Erste König von
Jordanien), der aus Hijaz (Arabische Halbinsel- heute Saudi Arabien) kam und
von den Engländern, die dort als Mandatsmacht waren, gefördert wurde. Er
wurde als Emir von Transjordanien von den englischen Kolonisatoren
eingesetzt. Abdallah war, um seinen Machtbereich zu vergrößern, immer
gegenüber den Engländern und insbesondere den Zionisten sehr willfährig.
Auch aus diesem Grunde wurde er von einem palästinensischen Nationalisten
vor der Al-Aqsa-Moschee erschossen. Begleitet wurde er damals vom späteren
König Hussein, der ebenfalls eine enge Beziehung zum Westen und zu den
Zionisten und zum Staat Israel pflegte.
MM:
Nun gab es ja vor
einem Jahr erstmalig Wahlen, bei denen das palästinensische Volk nach ihrer
eigenen Meinung gefragt wurde. Aber das Ergebnis hat Europa nicht gefallen,
und so soll jetzt erneut gewählt werden. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Musa:
Die Wahlen vom Januar
2006 waren nach einhelliger Meinung aller internationalen Wahlbeobachter
absolut demokratisch und frei. Nur George W. Bush und dem israelischen
Ministerpräsidenten Ehud Olmert passte das Ergebnis nicht. Beide forderten
die westlichen und einige arabische Staaten auf, die demokratisch vom Volk
gewählte Regierung auf, zu boykottieren. Dieser Boykott zeigt die
Doppelmoral und Verlogenheit des Westens. Einerseits fordern sie Freiheit
und Demokratie für die islamische und arabische Welt, andererseits
boykottieren sie eine demokratisch gewählte Regierung. Dies ist blanker
Zynismus und Heuchelei ohne Ende. Der deutsche Dichter Berthold Brecht hat
den Regierenden ins Stammbuch geschrieben, dass, wenn ihnen das Wahlergebnis
eines Volkes nicht passe, sie sich doch ein anderes Volk wählen sollten.
Besonders
widerwärtig ist jedoch die Haltung des Vorsitzenden der Autonomiebehörde,
des "Präsidenten" Mahmud Abbas und seiner Fatah-Organisation. Er bekämpft
die eigene demokratisch legitimierte Regierung und versucht zusammen mit der
Hilfe der USA, Israels, des Westens und anderer korrupter arabischer Staaten
gegen die Regierung zu putschen. Abbas spielt die Rolle eines Quislings für
fremde Mächte gegen sein eigenes Volk. Der israelische Friedensaktivist Uri
Avnery hat die Umarmung und den Kuss von Olmert gegenüber Abbas als
"Todeskuss" bezeichnet in Anspielung an Judas Ischariot als er Jesus küsste.
MM:
Sie leben nunmehr mehr
als ein halbes Leben in Deutschland. Haben Sie Verständnis dafür, dass
Deutschland ein besondere Situation gegenüber Juden hat?
Musa:
Ja und Nein. Solange es
nicht auf Kosten und zu Lasten meiner Landsleute geht, können die Deutschen
ihr Sonderverhältnis pflegen wie sie wollen. Da ich ja ebenfalls Deutscher
bin, kann ich mich jedoch mit dieser Unterwürfigkeit nicht identifizieren.
Die Deutschen können ihre Schuldgefühle nicht auf unseren Schultern abladen
und uns dafür büßen und zahlen lassen. Mein Volk wurde ein Opfer der Opfer
der Nazi-Verbrechen. In dieser Rolle fühlen wir uns sehr unwohl. Niemand in
Palästina leugnet die Verbrechen des Nazi-Deutschlands gegenüber dem
europäischen Judentum. Nur Dummköpfe und Ignoranten tun dies. Wenn meine
lieben deutschen Landsleute meinen, Schuld wirklich sühnen zu müssen, warum
bieten sie den israelischen Juden und den Juden in aller Welt gemäß dem
Rückkehrrecht aus dem Jahre 1950 nicht ein Stück Land in Deutschland an? Von
der Größe Israels böte sich das Bundesland Hessen an. Die Landesgrenzen
sollten allerdings nicht endgültig festgelegt werden, um ausreichend Raum
für weitere Kolonisierungen zu ermöglichen, wie sie zurzeit in Palästina
geschehen. Wenn die Deutschen dann mit den Auswirkungen, wie mein Volk sie
in Palästina tagtäglich erfahren müsse, konfrontiert würden, fänden sie es
wohl nicht mehr so witzig. Die Sprachlosigkeit von Kanzlerin Merkel und der
gesamten politischen Klasse in Deutschland gegenüber dem
Menschrechtsverbrechen Israels ist unerträglich.
MM:
Sie leben nunmehr mehr
als ein halbes Leben in Deutschland. Haben Sie Verständnis dafür, dass
Deutschland ein besonderes Schutzbedürfnis gegenüber Juden hat?
Musa:
Nein. Warum soll eine
Nicht-Atommacht wie Deutschland eine Atommacht Israel schützen? Und vor wem?
Überall auf der Welt leben die Juden in absoluter Sicherheit, nur nicht in
Israel. Warum fragt der Westen nicht nach den Ursachen? Israel muss nur vor
sich selber geschützt werden, nachdem der "Faschist" (Haaretz) Avigdor
Lieberman Minister für strategische Bedrohung geworden ist. Er fordert z.B.
die Liquidierung palästinensisch-israelischer Abgeordneter, die Kontakte zu
Syrien und zur demokratisch gewählten Regierung in Palästina haben. Ebenso
hatte er die Bombardierung des Assuan-Staudammes in Ägypten gefordert. Es
wird berichtet, dass er zusammen mit den US-Neokonservativen und der
pro-Israellobby in den USA den Atomangriff auf Iran planen soll. Israel und
die Besatzungsmacht USA sind die größte Bedrohung für den Weltfrieden. Dies
hat auch die Umfrage der EU vor zwei Jahren ergeben.
MM:
Welche Ziele verfolgt
die Gesellschaft zur Humanitären Unterstützung der Palästinenser e.V. -
G.H.U.P.?
Musa:
Der Verein ist
politisch und konfessionell neutral Er dient ausschließlich gemeinnützigen
Zwecken und unterstützt die Palästinenser bei der Wahrung ihrer elementaren
und anerkannten und von der UN garantierten Menschenrechte und ihrem
Selbstbestimmungsrecht.
Unter dem Motto:
"Hilfe zur Selbsthilfe" wurde direkte humanitäre Projektförderung geleistet.
MM:
Können Sie sich nach
all dem, was geschehen ist, einen friedlichen Zusammenleben von Muslimen,
Christen und Juden in Jerusalem überhaupt noch vorstellen?
Musa:
Selbstverständlich. Wie
gesagt, haben Muslime, Christen und Juden über Jahrhunderte friedlich in
Jerusalem zusammengelebt. Die Störenfriede sind die Zionisten und ihre
rassistische Ideologie. Israel muss diese Ideologie auf dem Misthaufen der
Geschichte entsorgen, dann kann die alte Herrlichkeit, wie sie in Andalusien
und in vielen arabischen Ländern geherrscht hat, wieder aufleben. Denn die
orientalischen Juden (Mizrahim) werden nirgends so diskriminiert wie in
Israel – von den äthiopischen Juden gar nicht zu reden. Beide sind ebenfalls
Opfer des rassistischen Zionismus. Der Westen und besonders Deutschland
sollten diese Tatsachen endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
MM:
Herr Dr. Musa. Wir
danken für das Interview.
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