MM: Sehr geehrter Herr Prof. Fischer, was
kann der heute lebende Mensch für seine Zukunft aus der
Wissenschaftsgesichte lernen?
Prof. Fischer: Er kann lernen, dass eine
Zukunft, die sich lohnt und diesen Namen verdient, Wissenschaft
braucht. Wir haben verstanden, dass Geschichte nicht etwas ist, was
uns zustößt. Geschichte ist das, was wir machen - vor allem durch
Wissenschaft, wie es Blick in den Alltag zeigt. Sie bestimmt unsere
Gegenwart, wie Stichworte wie Automobil, E-Mail, Fernsehen, Rundfunk
und mehr verdeutlichen. Wir müssen wissen, aus welchem Grundgedanken
solche Entwicklungen betrieben werden.
MM: Welches Ziel darf, kann oder muss
Naturwissenschaft ihrer Meinung nach aus der Erfahrung der Geschichte
heraus haben?
Prof. Fischer: Die moderne
Naturwissenschaft hatte ursprünglich nur ein Ziel, nämlich die
Lebensbedingungen des Menschen zu erleichtern, seine
Existenzmöglichkeiten zu verbessern. Daran sollte man ab und zu
erinnern. Dabei kann man auch darauf hinweisen, dass der Grundantrieb
zur Wissenschaft aus der Freude kommt, die uns das Naturerleben macht.
Wissenschaft kann Freude vermehren und Leiden vermindern. Darum geht
es - immer und immer wieder.
MM: Ist das wirklich so? Malen Sie hier
nicht ein zu rosiges Bild der Ziele? Waren es nicht oft auch
militärische Forschungen, die zum Fortschritt beigetragen haben,
schließlich gab es die Atombombe vor dem Atomkraftwerk und selbst das
so schöne Wort "Bionik" ist von einem Militärforscher entwickelt
worden.
Prof. Fischer: Das Militärische spielt
leider in unserem Leben eine Rolle, keine Frage. Der Krieg ist der
Vater aller Dinge, wie schon Heraklit gewusst hat. Das ist schlimm,
aber für alle Menschen und nicht spezifisch für Wissenschaftler. Die
Atombombe haben sie nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag von
demokratisch verfassten Staaten gegen eine nationalsozialistische
Mörderbande konstruiert. Und was die Atomkraftwerke angeht, so warten
Sie einmal die Zeit ab, wo wir auf deren Energie angewiesen sind, weil
der letzte Tropfen Öl verbraucht ist.
MM: Nun ist die Wissenschaftsgeschichte
auch immer eine Machtgeschichte gewesen. In wie weit kann die
historische Betrachtung der Naturwissenschaft von anderen Disziplinen,
wie z.B. Politik, Wirtschaft usw. entkoppelt werden?
Prof. Fischer: Sie kann es nicht.
Allerdings - es sind die anderen, die sich von der Wissenschaft
abkoppeln. Wenn man ein normales Geschichtsbuch aufschlägt, das den
politischen Werdegang von Staaten oder die ökonomischen Bedingungen
von Völkern beschreibt, hat man den Eindruck, dass das alles ohne
Wissenschaft gegangen ist und geht. Dies ist ein großer Irrtum. Wir
verdanken unseren Wohlstand der Entscheidung, Wissenschaft zu treiben.
Und darüber sollte man etwas wissen. Dass die Wissenschaft selbst von
politischen Gedanken geprägt ist, kann dann in einem zweiten Schritt
erläutert werden. Ein klassisches Beispiel findet man beim
Immunsystem, dessen Wirken immer noch als Krieg im Körper dargestellt
wird. Das erklärt sich aus den Kriegen, in die Nationen im 19.
Jahrhundert verstrickt waren, als die Medizin sich an die Erkundung
der Immunabwehr machte. Wahrscheinlich verstehen wir unseren Körper
besser, wenn wir statt der militärischen Metaphern ökologische
verwenden. Die Zeit ist jetzt reif dafür.
MM: Naturwissenschaft und Bildung hängen
Ihrer Meinung nach in Deutschland nicht unbedingt zusammen. Wie ist
das möglich in einem Land, das vor allem von der angewandten
naturwissenschaftlichen Leistung im Ingenieursbereich lebt?
Prof. Fischer: Naturwissenschaft und
Bildung hängen in Deutschland nicht nur nicht zusammen. Sie werden
eigens und mit großer Sorgfalt getrennt. Das Buch von Dietrich
Schwanitz über "Bildung" konnte vor allem deshalb zum Bestseller
werden, weil es seinen Lesern versprach, sie nicht mit
Naturwissenschaften zu belästigen. Sie gehören nicht zur Bildung.
Punkt. Deshalb wissen wir auch gar nicht, was Sie in der Frage
ansprechen, dass wir unseren Wohlstand Ingenieuren verdanken. Nun
fragen Sie, wie sich das Desinteresse der Gebildeten an den
Wissenschaften erklärt. Warum rennen Menschen in Massen in Museen,
ohne wirklich etwas von moderner Kunst zu verstehen, meiden aber
wissenschaftliche Vorträge, weil sie Angst haben, hier etwas nicht zu
verstehen? Ein Hinweis liefert die Bemerkung von Marcel Reich-Ranicki,
der sich dazu bekennt, selbst die naturwissenschaftlichen Schriften
von Goethe nicht zu lesen, weil ihn die Natur langweilt. So spannend
die Naturwissenschaften sein können - sie wirken oft langweilig, weil
sie alles erklären bzw. zu erklären scheinen. Was Menschen mehr
interessiert, ist das Geheimnisvolle. Vielleicht sollten die Physiker,
Biologen und andere Naturforscher mehr sagen, dass selbst einfach
wirkenden Dinge wie Licht geheimnisvoll bleiben, auch wenn man viel
über sie weiß. Das Leben bleibt doch trotz aller Molekulargenetik ein
wundervolles Geheimnis."
MM: Kann es auch damit zusammen hängen,
dass heutige Naturwissenschaftler oft die Faszination der Schöpfung
verkennen und diese spirituelle Ader des Menschen vernachlässigen, der
auch immer nach einem Sinn fragt und nicht nur nach einer Formel?
Prof. Fischer: Große Naturwissenschaft
steckt voller Spiritualität, aber wir haben diese Dimension aus den
Schulen verbannt. Wir lehren dort nur das Rationale und Systematische
und übersehen das Irrationale und Emotionale. Das ändert sich in
diesen Tagen, was aber nicht leicht sein wird. Wir haben im Westen
Angst vor der Faszination. Sie ist nicht berechenbar, sie entzieht
sich der Rationalität, aber sie gibt es natürlich. Große Forscher sind
besessen von ihrem Tun. Sie können nicht anders. Sie werden getrieben,
und die Menschen spüren das. Sie spüren auch, dass Wissenschaft sie zu
Objekten macht. Wissenschaft will ja objektiv sein. Aber Menschen sind
keine Objekte. Sie suchen, wie Sie sagen, immer auch nach subjektivem
Sinn, nach "logos", wie es griechisch heißt. Deshalb interessieren
sich bis heute mehr Menschen für Astrologie als für Astronomie. Die
Wissenschaft sollte das wissen, wenn sie sich an die Öffentlichkeit
wendet. Vielleicht sollte man immer zwei Antworten auf eine Frage
geben - eine richtige und eine wichtige. Es gibt das schöne Beispiel
von Heinrich von Kleist: Warum stürzen Gewölbe nicht ein? Die richtige
Antwort handelt von physikalischen Kräften; die wichtige lautet: Weil
alle Steine gleichzeitig fallen wollen. Das ist schöner, aber auch
schwieriger.
MM: Wissenschaftsgeschichte ist auch eine
Geschichte von Patenten und Wissenschaftsmonopolen, sei es das
Wissenschaftsmonopol der Kirche im Mittelalter oder die heutigen
Monopole bei Aids-Medikamenten und Atomenergie mit der daran
gekoppelten Gewalt gegen alle, die jenes Monopol antasten? Kann man
aus der Wissenschaftsgeschichte Handlungsvorschläge entwickeln, mit
der die Welt friedlicher gestalt werden kann?
Prof. Fischer: Der Friede und das
Friedliche, da hat die Wissenschaft Mühe, die ja die evolutionäre
Natur des Menschen und damit seine Kampfbereitschaft im Auge hat.
Wissenschaft kann Versöhnung erklären, aber nur nach der Aggression.
Wenn aus der Geschichte der Wissenschaft Handlungsvorschläge erwartet
werden, kenne ich nur den Hinweis, das Wissen offen zu legen und allen
Menschen bzw. Staaten zur Verfügung zu stellen. Das Geheimnisvolle ist
schön - siehe oben -, aber Geheimhaltung ist von übel.
MM: Obwohl Naturwissenschaftler
sicherlich zu den wichtigsten Persönlichkeiten im Lande zählen, haben sie
weitestgehend ihre Vorbildfunktion verloren. Warum fällt es so schwer,
Naturwissenschaftler als Vorbilder für die Jungen zu vermitteln?
Prof. Fischer: Wir suchen nach den
falschen Naturwissenschaftlern. Wir zeichnen die technisch guten
Personen aus - etwa mit Nobelpreisen - und übersehen diejenigen, die
sich interdisziplinär betätigen und dabei eventuell irren. Der
kürzlich verstorbene Carl Friedrich von Weizsäcker ist kaum als
Physiker und mehr als Philosoph bekannt geworden. Wir müssen
Wissenschaftlern mehr Mut machen, sich zur Qualität ihres Denkens zu
bekennen - wenn sie es umfassend kennen. Die Wissenschaft sollte auch
aus sich heraus dazu beitragen, einen Star zu kreieren. Wissenschaft
braucht ein Gesicht, vor allem im Medienzeitalter.
MM: Als wissenschaftlicher Berater der
Stiftung "Forum für Verantwortung" denken Sie nicht nur über eine
nachhaltigen Entwicklung nach sondern auch über die Beziehung von
Naturwissenschaft, kultureller Werte und Religion. Nun ist es bekannt, dass
sehr viele große Naturwissenschaftler eine hohe Ehrfurcht vor der Schöpfung
haben, warum spiegelt sich das so wenig in ihren modernen Schriften wieder?
Prof. Fischer: Ihnen fehlt der Mut, sich
zu bekennen. Vermutlich leben viele Naturwissenschaftler noch in dem
Glauben, dass sie Konkurrenten zur Religion sind. Tatsächlich haben
beide - die Religion und die Wissenschaft - im 19. Jahrhundert um
Anerkennung gerungen, und eine zeitlang sah es so aus, als ob die
Wissenschaft triumphieren könne. Schließlich bewältigte sie die Angst
der Menschen - etwa vor Seuchen - besser. Tatsächlich gehören
Wissenschaft und Religion sehr eng zusammen - zumindest in Europa, wie
der historische Blick zeigt. Wir sind Nachkommen von Menschen, die
sowohl Gott gefunden als auch die Wissenschaft entwickelt haben. Ich
habe gerade eine Biographie von Max Planck abgeschlossen. Bei ihm
heißt es, dass der religiöse Mensch sich am Anfang zu Gott bekennt,
während der naturwissenschaftliche Mensch am Ende zu Gott findet. Wer
wirklich etwas über die Natur versteht und dies spürt, macht eine
religiöse Erfahrung. Was denn sonst?
MM: Sie sind inzwischen Großvater; was
wollen Sie Ihrem Enkel an Naturwissenschaft vermitteln?
Prof. Fischer: Ich bin davon überzeugt,
dass Menschen primär ästhetische Wesen sind, die sinnlich neugierig
die Welt erkunden und erleben. Diese Lust möchte ich in meinem Enkel
finden und fördern. Er soll Freude an der Wahrnehmung der Natur
bekommen. Wenn er ihre Schönheit entdeckt, bekommt er vielleicht Lust,
anschließend die Naturgesetze zu erkunden und zu nutzen. Kindern muss
man Angebote machen. Entscheiden können nur sie allein.
MM: Herr Prof. Fischer, vielen Dank für
das interview.
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