MM:
Sehr geehrter Herr Peters. Ihr neuer Roman "Ein Zimmer im Haus des Krieges"
behandelt den religiösen Fundamentalismus und Ursachen des Terrors. Was hat
Sie dazu bewegt dabei einen so weiten Bogen zwischen den 68ern bis hin zu
der heutigen Weltlage zu schlagen?
Peters:
Es
gab für mich eine ganze Reihe von Gründen, diese Bezüge herzustellen: Seit
Anfang der 90er Jahre erstmals Berichte über islamistische Gewalt durch die
hiesigen Medien gingen, waren die Reaktionen fast durchgängig von völligem
Unverständnis geprägt, nach dem Motto: "So was wäre bei uns undenkbar!"
Dabei lag die Hochzeit des linksextremistischen Terrors in Europa gerade mal
zehn Jahre zurück. Ich wollte zunächst eigentlich nur darauf hinweisen, dass
die Möglichkeit gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen und für bestimmte
Idealvorstellungen, Tote und Verletzte in Kauf zu nehmen, auch bei uns noch
bis vor Kurzem durchaus erwogen und in die Tat umgesetzt worden war. Darüber
hinaus haben - auch wenn man Kommunismus und Islam kaum miteinander
vergleichen kann - die 68er Bewegung und die islamischen
Erneuerungsbewegungen zumindest in Ägypten - eine Reihe von Ähnlichkeiten
sowohl in ihrer Entwicklung als auch in ihren Anliegen: Beide Bewegungen
hatten ihren Ursprung an den Universitäten und richteten sich gegen im
Geistigen wie im Sozialen verkrustete, autoritäre Strukturen ihrer
jeweiligen Gesellschaften. Beide standen oder stehen vor dem Problem, ihre
Vorstellung einer hier: gerechten, da: gottgefälligen Gesellschaft auf dem
Weg der Diskussion und schrittweisen Veränderung nicht verwirklichen zu
können, bzw. sogar für ihre Überzeugungen verfolgt zu werden. Deshalb
entscheiden sich Teile der jeweiligen Gruppierungen im Lauf der Zeit für
Gewalt als ultima ratio, obwohl deren Anwendung insbesondere wenn sie
Unbeteiligte trifft - ihren Idealen eigentlich zuwiderläuft bzw. streng
verboten ist. Dieser Zwiespalt führt zwangsläufig zu großen, letztlich nicht
auflösbaren Konflikten innerhalb der Bewegungen. Hier wie dort stellt jeder
Tote erneut die Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt, das Ziel die
Schritte rechtfertigt. Darüber hinaus haben der Niedergang des Sozialismus
und die damit verbundenen Enttäuschungen - insbesondere in vielen ärmeren
Ländern der Welt - eine neue Bereitschaft freigesetzt, sich auf das
jeweilige religiöse Erbe und seine gesellschaftsverändernde Kraft zu
besinnen. Ein weiterer Punkt war, dass einige der Hauptvorwürfe, die seitens
der islamistischen Bewegungen gegen den Westen erhoben werden, nämlich eine
Politik der Ausbeutung, des imperialistischen Strebens nach Weltherrschaft
zu betreiben - militärisch, ökonomisch und kulturell -, dass diese Vorwürfe
identisch sind mit dem, was die Linke in 68ern den eigenen Regierungen und
Wirtschaftsführern vorgeworfen hat.
MM:
Welche "Begegnungen" mit dem Islam hatten bzw. haben Sie denn, dass Sie sich
an solch ein kontrovers diskutiertes Thema herangewagt haben?
Peters:
Meine Beschäftigung mit dem Islam reicht sehr lange zurück: Die Schwester
meiner ersten Frau ist mit einem Ägypter verheiratet und schon vor zwanzig
Jahren zum Islam konvertiert. Dadurch war ich mehrfach für längere Zeit in
Ägypten und zwar eben nicht als Tourist sondern als Angehöriger einer
muslimischen Familie. Als ich 1993 zum ersten Mal nach Kairo kam, hatte ich
mehr oder weniger all die Vorurteile im Gepäck, die man als westlicher
Intellektueller dem Islam entgegenbringt. Ich war der Überzeugung, dass der
Islam die reaktionärste von allen Religionen sei, rechnete mit
unkontrolliert aggressiven Männern und verhuschten, geknechteten Frauen
doch was ich tatsächlich dort vorfand, passte in nichts zu meinen
Erwartungen und Klischees. Ich traf Menschen, die auf eine sehr freie und
selbständige Weise religiös bzw. fromm waren, obwohl oder gerade weil? -
sie sich an die Regeln ihrer Religion hielten. Fast jedes Gespräch landete
früher oder später bei religiösen Fragen, über die so selbstverständlich und
engagiert gesprochen wurde, wie ich es in Deutschland nie erlebt hatte, und
gleichzeitig so kontrovers, wie ich es bei "den Moslems" nicht für möglich
gehalten hätte. Jedenfalls war ich nach kurzer Zeit ziemlich verwirrt und
hatte zugleich das Gefühl, dass ich mich intensiver mit dem Islam
beschäftigen sollte. Meine Schwägerin gab mir "Al-Quran Al-Karim und seine
ungefähre Bedeutung in deutscher Sprache", und ich fing an, darin zu lesen,
was meine Verwirrung weiter verschärfte, weil der Text selbst in der
Übersetzung noch diesen sonderbaren Sog entwickelte, der einen nicht mehr
loslässt und den ich überhaupt nicht einordnen konnte. Als ich dann wieder
in Deutschland war, habe ich erst mal einige Wochen lang ausschließlich
Bücher zum Islam gelesen. Zu der Zeit traf ich dann auch einen
marokkanischen Studenten, der mir empfohlen worden war, weil er sowohl
perfekt Hocharabisch als auch Deutsch sprach, und nahm bei ihm einige Jahre
lang privat Arabisch-Unterricht. Der hatte viele Freunde, die allesamt zu
einer kleinen, frommen Studentengemeinde gehörten und mit denen ich viel
Zeit verbracht und intensive Gespräche geführt habe einschließlich
wechselseitiger Einladungen während des Ramadans.
MM:
Sie selbst waren in den 68ern noch sehr jung, dass Sie die Ereignisse nur
vom Hörensagen bzw. Lesen kennen können. Die eine Figur in ihrem Roman
verrät seine eigenen damaligen Ideale, um Karriere zu machen. Meinten sie
damit bestimmte Personen?
Peters:
Ich "meine" nie andere Personen, als die Figuren selbst. Ich würde im Falle
Cismars auch nicht von einem "Verrat" sprechen es ist mehr dieses
schleichende Aus-dem-Blick-Verlieren dessen, was er ursprünglich aus seinem
Leben machen wollte
Und das ist, glaube ich, ein kultur- und
generationsübergreifendes Phänomen.
MM:
Als fanatisierten Muslim stellen Sie einen ehemaligen deutschen
Drogenabhängigen dar. Glauben Sie, dass das ein typischer Vertreter für das
ist, was vermeintliche und echte Terroristen heutzutage darstellen?
Peters:
Nein. - Ich fürchte, eines der Hauptmissverständnisse hinsichtlich des
Romans ist, dass viele Leser denken, ich hätte einen typischen Islamisten
beschreiben und dazu ein paar allgemeingültige sozio-psychologische
Begründungen für ein verbreitetes oder gar "modisches" Phänomen liefern
wollen. In gewisser Hinsicht ist das Gegenteil der Fall: Sawatzky ist ein
radikaler Mensch und zwar von Anfang an, ganz gleich, ob er Drogen nimmt
oder Gott sucht oder beschließt, im Namen des Islam zu leben, zu sterben und
zu töten. Zugleich ist er dabei von großer gedanklicher Geradlinigkeit und
Konsequenz - und da versucht der Roman - möglichst wertneutral - zu zeigen,
dass der islamistische Terrorist weder ein tragischer
Modernisierungsverlierer noch ein irrationaler Psychopath sein muss. Aber
Sawatzky ist ein Einzelgänger auch wenn es in der jüngeren Zeit ein paar
Leute gegeben hat, die mit ähnlichem biographischen Hintergrund zu
islamischen Terroristen geworden sind. Er gehört eher dem sehr europäischen
Typus des zerquälten Sinnsuchers in der Tradition Dostojewskijscher Figuren
an, der nach der sowohl nihilistischen als auch tief mystischen Maxime lebt
"freedom is just another word for nothing left to loose".
MM:
Janis Joplin mag für Drogenabhängige ein Vorbild sein; Muslime hingegen
glauben eher, dass Freiheit ein anderes Wort für die Ergebung in Gott ist,
um alles zu gewinnen. Sind sie auch ein "Suchender"?
Peters:
Ich bin kein großer Freund moralischer Schnellschüsse - weder wenn es um
Drogenabhängige, noch wenn es um Muslime geht, deshalb würde ich diesen Satz
auch ungern so leichtfertig abtun: Die Freiheit, die aus dem Bewusstsein
entsteht, dass nichts mehr da ist, was man verlieren kann, setzt auf einer
tieferen Ebene die Akzeptanz der Erkenntnis voraus, dass einem nichts in
diesem Leben wirklich gehört, weder materiell noch geistig. Das ist zwar
noch nicht identisch mit der Ergebung in den Willen Gottes, wohl aber eine
unerlässliche Vorraussetzung dafür. Viele "Bekehrungs-Biographien", die in
den unterschiedlichen Religionen überliefert werden, kennen ja diesen
Tiefpunkt des totalen Gescheitert-Seins verbunden mit dem Zusammenbruch der
"selbstgestrickten" Persönlichkeit, der den Menschen eben erst bereit macht
für das göttliche Erbarmen und für die Anerkenntnis der absoluten Herrschaft
Gottes über die innere und äußere Welt.
Ich selbst
kann mich an keine Zeit meines Lebens erinnern, in der mich die Frage nach
Gott nicht intensiv beschäftigt hätte. Diese Auseinandersetzung ist im Laufe
der Jahre sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Herangehensweisen
gefolgt, teilweise stärker im Sinne vergleichender Religionswissenschaft,
teilweise primär persönlich-existentiell. Bis jetzt ist diese Suche oder
Forschung nicht abgeschlossen. Ob am Ende ein Ergebnis - und wenn ja welches
stehen wird, ist ziemlich offen.
MM:
Einmal unabhängig von den Extremsituation und -personen in Ihrem Roman ist
Ihnen sicherlich nicht entgangen, dass auch weniger "extreme" Muslime
derzeit in Deutschland viele Probleme haben. Glauben Sie, dass die westliche
Welt ihre eigenen Ideale verrät?
Peters:
Ich glaube, dass man als religiöser Mensch, der Welt-Anschauung und Praxis
seiner Religion für wahrer und wichtiger hält, als die Welterklärungsmodelle
der jeweiligen öffentlichen Meinungsführer und die sinnstiftenden Angebote
der Konsum- und Unterhaltungsindustrie in Westeuropa zwangsläufig Probleme
hat. Dass die Muslime inzwischen für die Mehrheit der deutschen Gesellschaft
unter dem Generalverdacht stehen, alle nur denkbaren Schreckensszenarien zu
praktizieren oder zu planen, hat sicher extrem vielfältige Gründe, mit denen
man Bücher füllen könnte
Grundsätzlich scheint mir, dass wir als Westen einer selbst erzeugten
Fehldeutung unserer eigenen geistigen Grundlagen aufsitzen: Wir meinen, mit
unserem Modell einer toleranten, liberalen, offenen, freien Gesellschaft -
und was der Selbstbeschreibungen so viele sind - ein universell gültiges
Metasystem gefunden und verwirklicht zu haben, unter dessen Dach all die
"begrenzten" Weltdeutungssysteme wie Religionen, Gesellschaftstheorien u. ä.
sie in unserer Interpretation darstellen, gleichberechtigt nebeneinander
existieren können, vorausgesetzt, sie halten sich an ein paar fundamentale
"Spielregeln", die nun aber ihrerseits im Gegensatz zu den Spielregeln der
verschiedenen Religionen, Ideologien und Utopien tatsächlich zeit- und
kulturübergreifend Geltung haben. Ich glaube, es wäre intellektuell
redlicher, zu sehen, dass auch unser Weltdeutungssystem nur eine Ideologie
unter zahllosen Möglichen ist, sprich genauso relativ und bezweifelbar wie
die, von denen wir verlangen, sie sollten sich - bitte schön - Lessings
Ringparabel anschauen und ihren Absolutheitsanspruch aufgeben. Ich denke, es
wäre der vielbeschworenen Vernunft gemäßer, wenn wir als Westen unser Denk-
und Wertesystem für einen weiteren Ring hielten und nicht uns selbst für
die Verkörperung Nathans, des Weisen. Ich glaube auch, dass wir in der Tat
erst dann die tolerante, im wahrsten Sinne des Wortes welt-offene
Gesellschaft werden würden, die zu sein wir behaupten, wenn wir uns der Historizität und damit Bedingtheit unserer eigenen Ideen bewusst würden und
dementsprechend nicht länger als Oberlehrer der Welt aufträten, der dann
nebenbei auch noch den Polizisten gibt. Dass das passieren wird, halte ich
allerdings für utopisch.
MM:
Wie sind die bisherigen Reaktionen auf ihr Buch, geben Sie uns doch einige
Beispiele?
Peters:
Ich habe noch auf kein Buch so extrem verschiedene und zugleich heftige
Reaktionen bekommen sowohl aus meinem persönlichen Umfeld als auch seitens
der Literaturkritik. Einige sagten, nachdem sie die Figur Sawatskys kennen
gelernt hätten, sei ihnen zum ersten Mal klar geworden, wie so ein
islamistischer Attentäter tatsächlich denken könne, vorher hätten sie den
ganzen Islamismus einfach für kompletten Irrsinn gehalten. Andere sagten das
Gegenteil: Sie verstünden nach der Lektüre nicht mehr als vorher. Einige
haben sich geärgert, dass ich Sawatzky keinen kämpferischen Verfechter der
Aufklärung gegenüber gestellt habe, der ihm mal so richtig die Leviten
liest, und beweist, was für ein "Schmarrn" der ganze Islam(ismus) doch ist.
Das fanden sie empörend, verantwortungslos, oder sie waren der Meinung, ich
hätte damit eine Chance vertan. Viele Leute haben mir aber auch gesagt, nach
der Lektüre seien sie lange sehr verunsichert, sogar verstört gewesen, weil
sie nicht gewusst hätten, was sie denn nun denken, welche Schlüsse sie
ziehen sollten. Die einen fanden Sawatzky als Islamisten klischeehaft, die
anderen völlig untypisch, die nächsten extrem überzeugend oder beinahe schon
gefährlich suggestiv. Und auf Cismar waren die Reaktionen ähnlich gespalten.
MM:
Was ist ihr nächstes Projekt?
Peters:
Das wird zumindest auf den ersten Blick - etwas ganz anderes: Ein Roman,
der in einem japanischen Restaurant am Rhein spielt und von einer Reihe
tragikomischer Figuren bevölkert wird, die alle auf der Suche nach irgend
etwas sind, aber nicht wissen, was es sein könnte, geschweige denn, wo sie
es finden könnten und so lange sich daran nichts ändert, in diesem
Restaurant arbeiten, essen, trinken, reden, lieben.
MM:
Herr Peters, wir danken für das Interview.
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