Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Oguz Ücüncü
 

Muslim-Markt interviewt 
Oguz Üçüncü - Generalsekretär von Milli Görüs

7.6.2005

Oguz Üçüncü (gespr. Ouz Ütschündschü) geboren in 1969 in Hamm/Westfalen ist erster von vier Söhnen des Fabrikarbeiters Mazhar Üçüncü und der Hausfrau Hatice Üçüncü. Nach Abitur in Hamm und Fachhochschule in Dortmund wurde er 1988 Maschinenbauingenieur. Seit 1996 ist er selbstständig als Handelsvertretung für Bau & Industriebedarf.

Bereits 1986 war er Vorsitzender der Jugendgruppe des IGMG Ortsvereins Hamm-Pelkum, 1991 Mitglied des Regionalvorstandes der IGMG-Jugend Ost-Westfalen und 1993 Mitglied des IGMG-Jugendvorstandes. Seit Februar 2002 ist er Generalsekretär der IGMG. Üçüncü ist türkischer Staatbürger, verheiratet und Vater von 3 Töchtern. Er ist Fan des FC Bayern München und von Trabzonspor.

MM: Sehr geehrter Herr Üçüncü, was ist ein Generalsekretär der Milli Görüs, welche Aufgaben hat er, welche Verantwortungen trägt er und was unterscheidet ihm von anderen Positionen, z.B. vom Vorsitzenden?

Üçüncü: Das Generalsekretariat verantwortet die zentrale Administration, die Rechtsabteilung und die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinschaft. Zudem vertritt der Generalsekretär die Gemeinschaft in Dachverbänden (Islamrat) und Interessenvertretungen von türkeistämmigen Migranten in Deutschland und in Europa.
Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich ist der inner-islamische und interreligiöse Dialog.
Meine Abteilung betreut auch den Internetauftritt (www.igmg.de), die Verbandszeitschrift („IGMG Perspektive“) und das Internetradio (igmg.fm) der Gemeinschaft.
Die Rechtsabteilung, befasst sich, neben der rechtlichen Betreuung der IGMG und seiner Ortsvereine, insbesondere mit Fällen der Diskriminierung von Muslimen.
Der Unterschied meines Aufgabenbereiches zu den anderen Positionen ist wohl der, dass ich die offizielle Schnittstelle unserer Gemeinschaft nach „außen“ bin.

MM: Ihre Organisation "Milli Görüs" (gespr. "milli görüsch") bedeutet ins deutsche Übertragen "Nationale Sicht". Sind Sie Nationalisten?

Üçüncü: Sicherlich nicht. Das "Milli" in unserem Namen stützt sich nicht auf die heutige weitläufige Verwendung des Wortes "Millet" als Volk oder Nation im ethnischen Sinne. Das "Milli" geht auf den "millet"-Begriff im Koran zurück. Dort wird der Begriff nicht an eine Nationalität, sondern mit der Orientierung an bestimmte Werte, nämlich des Islams verknüpft. So wird die Gemeinschaft, die diese Werte und Tradition in ihr Leben umsetzt und sich um den diese verkündenden Propheten schart, als "Millet" bezeichnet. Das "Milli" in unserem Namen ist eine Bezugnahme auf dieses "Volk", auf diese "Tradition" Abrahams, dem wir uns zweifellos zugehörig fühlen. Und es ist die Perspektive ("Görüs") aus der wir das um uns Geschehende bewerten.

MM: Die deutschen Verfassungsschutzberichte scheinen sich sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene auf Ihre Organisation regelrecht eingeschossen zu haben. Sind Sie verfassungsfeindlich?

Üçüncü: Nein, das sind wir nicht. Die IGMG wird ja seit ihrer Gründung vom Verfassungsschutz beobachtet. Wenn man über die Jahre die verschiedenen Verfassungsschutzberichte zur IGMG liest, sieht man eine Menge Behauptungen, angefangen mit dem Umsturz des türkischen Staatssystems bis hin zu der Behauptung, man wolle Muslimen in Deutschland durch Gruppenzwang solche Pflichten auferlegen, die eine Einschränkung der in der Verfassung garantierten Grundrechte bedeuten.  Keine einzige dieser Behauptungen wird auch durch konkrete Beispiele belegt. Wo, so fragt man sich, sind eigentlich die harten Fakten, die keiner weiteren Interpretation bedürfen, um die Verfassungsfeindlichkeit der IGMG zu belegen. Wo sind Äußerungen, Handlungen und Absichten gegen Kerninhalte der freiheitlich demokratischen Grundordnung?

MM: Welche negativen Konsequenzen hat diese unaufhörliche staatliche Negativwerbung für Ihre Organisation?

Üçüncü: Regelmäßige Publicity bringt sie uns ja. Aber im Ernst, das Aufführen im Verfassungsschutzbericht wirkt zweifellos wie ein moderner Pranger. Staatlich legitimiert werden Vermutungen und Einschätzungen in die Welt gesetzt, deren Quellen vor Gericht keinen Bestand hätten, wenn sich die Ämter nicht erfolgreich auf Quellenschutz berufen würden. Wie wenig substantiiert die Berichte der Verfassungsschutzämter sind, haben ja die Verfahren der letzten Zeit oft genug gezeigt. Es scheinen aber nur Wenige zu bemerken, dass mittlerweile selbst die Verfassungsschutzämter immer weniger von der Verfassungsfeindlichkeit unserer Organisation sprechen, sondern immer mehr von unserer vermeintlichen Integrationsfeindlichkeit. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob der Verfassungsschutz mittlerweile zu einer Integrationsmessstelle wurde und anhand  welchen Maßstabs sie denn diese Integrationsfeindlichkeit feststellt.
Die negativen Konsequenzen bekommen in erster Linie unsere Mitglieder zu spüren. Ihre Einbürgerungsanträge werden wiederholt abgelehnt, obwohl sie seit Jahrzehnten hier leben und sehr gut integriert sind.
Unsere Moscheegemeinden befinden sich unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck. Die Nachbarn vor Ort, mit denen unsere Mitglieder und Gemeinden in Kontakt treten, sind oft genug auch verwirrt, da sie bei ihren Dialogpartnern keine verfassungsfeindlichen Tendenzen ausmachen können.
Mit großen Bedenken beobachten wir, dass die angebliche "Aufklärungsarbeit" der Verfassungsschutzbehörden Vorurteile gegenüber Muslimen in der Gesellschaft schürt. Ich frage mich, mit welcher Rechtfertigung der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg die Integrationsfeindlichkeit der IGMG damit erklärt, dass ihre Mitglieder im Schwimmbad knielange Badeshorts "als Mittel zur Absetzung von der Mehrheitsgesellschaft tragen" oder die Reise einer IGMG-Jugendgruppe "zu den ehemals muslimischen Städten Granada und Cordoba in Andalusien" anprangert.
Ich kann Ihnen noch eine Vielzahl weiterer Beispiele nennen, die deutlich machen, dass die Methoden  der Verfassungsschutzämter, mit Blick auf rechtstaatliche Grundsätze unseres Landes, bedenklich sind und immer deutlicher den gesetzlich festgelegten Rahmen überschreiten.

MM: Welche Möglichkeiten haben sie, dagegen vorzugehen?

Üçüncü: Es gibt wenige Möglichkeiten gegen die Verfassungsschutzbehörden vorzugehen, solange die Medien sich nicht ernsthaft mit den Publikationen der Verfassungsschutzbehörden auseinander setzen und die Öffentlichkeit über dubiose Praktiken unterrichten. Zudem darf man nicht vergessen, dass viele Länder schon das Tragen des Kopftuchs als verfassungsfeindlich betrachten und entsprechende Gesetze verabschiedet haben.
Was juristische Möglichkeiten anbetrifft, ist es so, dass es mindestens drei Jahre dauert, bis man aufgrund der Beanstandung von einigen falschen Tatsachenbehauptungen einen Termin zur mündlichen Verhandlung bekommt. Unsere Klagen in Bayern und Nordrhein-Westfalen gegen Publikationen der Verfassungsschutzbehörden aus dem Jahr 2001 sind noch nicht einmal mündlich verhandelt worden. In Baden-Württemberg hat das Verwaltungsgericht Stuttgart nach drei Jahren unsere Klage abgewiesen, nachdem unsere Beweisanträge allesamt abgelehnt wurden und die Gegenseite sich auf Quellenschutz berufen hat, obwohl wir hätten nachweisen können, dass die ausgestellten Behördenzeugnisse, mit denen sich Behörden gegenseitig die Richtigkeit ihrer Behauptungen bestätigen, inhaltlich unwahr sind. Wir haben gegen dieses Urteil Berufung eingelegt.
In den letzten Jahren ist zudem deutlich zu erkennen, dass sich die Behörden von konkreten Behauptungen zu abstrakten Wertungen zurückziehen, um dann vor Gericht vorzutragen, dass seien ja alles Werturteile, die man nicht angreifen könne. Wenn dieses Argument nicht zieht, können sie sich ja immer noch auf Quellenschutz berufen und müssen nicht beweisen, dass die Behauptungen auf Tatsachen beruhen.

MM: Eine der wesentlichen Voraussetzungen für das gegenseitige Verständnis innerhalb der deutschen Gesellschaft ist die Kenntnis der deutschen Sprache. Jeder, der einmal eine größere Milli Görüs Moschee besucht hat, wird einen deutschsprachigen Gastgeber vorgefunden haben. Dennoch zieht das "offizielle" Deutschland den Kontakt zu Organisationen vor, die weder in der Führung noch in der Basis über vergleichbare Deutschkenntnisse verfügt. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Üçüncü: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz macht es dem "offiziellen" Deutschland schwer, Kooperationen mit unserer Gemeinschaft zu entwickeln. Dennoch stimmen doch alle darin überein, dass  die IGMG bei der Entwicklung von Konzepten für die Integration des Islam mitwirken muss. Denn während wir nach wie vor auf ein ganzheitliches Integrationskonzept von den politisch Verantwortlichen dieses Landes warten, praktiziert die IGMG schon seit über einem Jahrzehnt Integration. Mit Einbürgerungskampagnen, Sprachkursen, Nachhilfeunterricht und strukturierter Jugend- und Frauenarbeit leisten wir einen aktiven Beitrag für die erfolgreiche Integration der Muslime in die Mehrheitsgesellschaft.
Für manch einen "offiziellen" sind wir sicherlich auch ein etwas unangenehmer Gesprächspartner, weil wir Probleme unserer Zeit offen ansprechen und auch Unrecht beim Namen nennen.
Vielfach wirft man uns auch vor, auf "sichtbarer Differenz" zu beharren und somit eigentlich integrationsfeindlich zu sein. Für uns ist das bestehen auf "Differenz", das Bestehen auf den verfassungswerten der freiheitlich demokratischen Ordnung der BRD. Insofern ist es wohl keine Übertreibung wenn wir uns als IGMG als "Motor der Integration" begreifen.

MM: Heute kann man Sie wohl noch als eine "türkisch" dominierte Organisation bezeichnen. Aber in der Generation Ihrer Kinder wird das Deutschsprachige wohl überwiegen, was sich auch in Ihrer Organisation widerspiegeln wird? Können Sie sich vorstellen, eines Tages kein Ausländerverein mehr zu sein?

Üçüncü: Ich würde unsere Organisation nicht als "türkisch" dominiert bezeichnen, sondern als eine Organisation mit mehrheitlich "Türkei-stämmigen" Mitgliedern. Das mag zwar nach Haarspalterei klingen, unterstreicht aber unseren Anspruch, dass unabhängig der genutzten Sprache, Deutschland bzw. Westeuropa im Fokus unserer Aktivitäten steht. Den Sprachen der Länder, in denen wir leben, tragen wir bereits jetzt Rechnung und dies wird sich Zukunft noch verstärken. Wobei ich betonen möchte, dass die Bewahrung der türkischen Sprache als inner-europäischer Kitt unserer Gemeinschaft in unseren Bemühungen eine hohe Priorität genießt.

MM: Welche Chancen sehen Sie zu einem konstruktiven Miteinander in Deutschland, trotz der Ablehnung durch "Offizielle"?

Üçüncü: Trotz der aktuellen Schwierigkeiten führt kein Weg an der Kooperation vorbei. Verantwortungsvolles Handeln für unsere gemeinsame Zukunft gebietet diese Zusammenarbeit. Es liegt nun an allen Akteuren im Prozess der Integration des Islams jenseits von Tagespolitik und Rechtspopulismus sich dieser Verantwortung zu stellen und Antworten auf brennende gesellschaftliche Fragen gemeinschaftlich zu formulieren.

MM: Was hoffen Sie für Ihre Kinder in Deutschland?

Üçüncü: Das, was alle Eltern für ihre Kinder hoffen: Sie sollen sich in Deutschland wohl fühlen und ihre Träume verwirklichen können, ohne sich ständig wegen ihrer Herkunft oder Lebensweise rechtfertigen zu müssen.

MM: Erlauben Sie uns noch eine letzte Frage: Falls in der Champions-League Bayern München und Galatasaray Istanbul aufeinander treffen würden, für wen wären Sie dann?

Üçüncü: Nun an dieser Stelle ist eine Korrektur angebracht: Ich bin Fan von Trabzonspor und nicht von Galatasaray Istanbul. Trotzdem gilt , was auch im großen Rahmen gilt. Spielt Deutschland gegen die Türkei, bin ich für die Türkei (das ist halt so…). Spielt aber Deutschland gegen den Rest der Welt , bin ich für Deutschland (und auch das ist so, wie es ist…).

MM: Herr Üçüncü, wir danken Ihnen für das Interview.

 

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