MM: Sehr geehrter Herr Dr. Ganser, als Autor
zahlreicher Bücher beschäftigen Sie sich oft mit der geheimen bzw.
verdeckten Kriegsführung des CIA, einstmals im Kuba-Konflikt und heute im so
genannten "Kampf gegen Terror". Ist das nicht ein gefährlicher Beruf?
Dr. Ganser: Es kommt drauf an in welchem
Land man lebt. In Kolumbien zum Beispiel kann es tödlich sein, wenn man die
verdeckte Kriegsführung und die Manipulation der Menschen untersucht und
schriftlich aufdeckt. Aber ich lebe und arbeite in der Schweiz, hier scheint
es mir nicht gefährlich.
MM: Wie kommt ein Mitarbeiter der ETH Zürich
an gesicherte Informationen, denn ein wesentliches Merkmal der verdeckten
und von Ihnen aufgedeckten Informationen ist doch deren geheime Charakter?
Dr. Ganser: Das ist richtig, verdeckte
Kriegsführung sollte für immer geheim bleiben. Aber als Historiker weiß ich,
dass alle Gedanken, Gefühle, Worte und Taten der Menschen an der einen oder
anderen Stelle früher oder später Spuren hinterlassen. Diese Spuren sind für
uns Quellen des Wissens, und daher sammeln wir sie. Denn selten bleibt ein
Geheimnis für alle Zeiten geheim. Viele Menschen erzählen auch gerne was sie
tun und wie sie die Welt sehen, manchmal Jahre nach den geheimen Aktionen,
denn aus ihrer Sicht haben sie das richtige getan. Andere ändern ihre
Meinung später, sind sogar entsetzt über die Folgen ihrer Taten und wollen
warnen und aufdecken. All diese Quellen sammeln wir als Historiker aus
Archiven, Büchern und Zeitungen. Am Ende setzen wir ein Mosaik zusammen, die
Steine sind Quellen wie parlamentarische Untersuchungen, Urteile von
Gerichten, Aussagen von Geheimdienstleuten und Militärs und natürlich, wenn
man sie findet, Top Secret Originaldokumente auf Papier, aber die sind je
nach Forschungsgegenstand schwer zu finden, manchmal aber werden sie
deklassifiziert und stehen der Forschung zur Verfügung.
MM: Sie behaupten, dass die verdeckte
Kriegsführung auch heute im so genannten "Kampf gegen den Terror" erfolgt.
Was bedeutet das konkret für uns bei der täglichen Wahrnehmung von
Terroranschlägen und der damit zusammenhängenden Angst in der Bevölkerung?
Dr. Ganser: Das bedeutet, dass wir länger
nachdenken sollten bevor wir uns ein Urteil bilden, was wirklich geschehen
ist. Terror bedeutet ganz einfach "große Angst". Und ein Terrorist ist
einer, der große Angst verbreitet, um ein politisches Ziel zu erreichen.
Heute glauben viele Menschen in Westeuropa und in den USA, dass ein
Terrorist nie ein staatlicher Akteur sondern immer ein privater Akteur ist,
das ist wissenschaftlich gesehen falsch, und dass er zweitens nie ein Christ
sondern immer ein Muslim ist, auch das ist falsch. Dieser Glaube ist nicht
bewusst und klar im Denken der Menschen, aber subtil im Unterbewusstsein
eingelagert. Natürlich gab es in der Geschichte private muslimische
Terroristen und natürlich gibt es sie auch heute. Aber ebenso gab es auch
staatliche christliche Terroristen, und es gibt sie wohl auch heute. Über
letztere sprechen wir aber nicht gerne, die meisten Menschen können daher
nicht ein einziges konkretes historisches Beispiel für einen christlichen
staatlichen Terroranschlag nennen. Wir sind also in unserem Denken und in
unserer Wahrnehmung sehr eingeschränkt. Das ist auch normal, denn alles
Sehen ist perspektivisches Sehen, und den Balken im eigenen Auge sieht man
oft nicht gerne. Aber wir sollten immer wieder um einen neuen, ausgewogenen und
unabhängigen Gesichtspunkt ringen. Wenn wir das nicht tun, versinken wir in
der Manipulation und sind am Ende davon überzeugt, dass nur mehr Gewalt die
Lösung der Probleme bringen kann, und das ist ein Irrtum. Wir befinden uns
also auf heiklem Terrain und sollten wachsam sein, sonst sinken wir ein wie
im Treibsand. Denn es ist richtig, heute wird fast die ganze Welt mit Angst
übergossen, Terror und Krieg haben sich auf sehr tragische Weise ineinander
verzahnt. Das wollen aber weder die einfachen Menschen auf der Strasse, noch
wir Experten für Sicherheitspolitik. Auch jene von uns, die Kinder haben,
fragen sich, was denn mit der Welt im Jahre 2060 sein wird, wenn das so
weitergeht. Denn wenn wir die Terror- und Kriegsspirale mit den
Massenvernichtungswaffen verbinden, kommt das nicht gut, das wissen wir
alle. Die Aufgabe für das 21. Jahrhundert ist also klar: Wir müssen einen
Ausweg aus der Gewaltspirale finden. Das ist eine große und spannende
Herausforderung, denn wir haben uns ja alle zusammen im 20. Jahrhundert
ziemlich in die Gewaltspirale verstrickt, kein anderes Jahrhundert der
Geschichte hat so viele Tote gefordert. Und nun hat auch das 21. Jahrhundert
mit den Terroranschlägen in New York, Bali, Istanbul, Madrid, London, Sharm
El Sheik und den
Kriegen in Afghanistan und Irak nicht friedlich begonnen. Wir müssen uns
also anstrengen. Erst wenn die Geschwisterschaft aller Menschen zu unserem
höchsten Bund wird kann Frieden kommen auf Erden. Vorher geht das
gegenseitige Morden weiter, auch wenn es nicht klug ist und die große
Mehrheit das nicht will.
MM: Eine Friedensforscher der Beispiele aus
der Bibel bringt und gleichzeitig von "christlichem" Terrorismus spricht,
ist schon eine etwas ungewöhnliche Erfahrung für uns. Müsste man nicht eher
von Terroristen sprechen, die den Namen des Christentums missbrauchten, wie
auch heute der Name des Islam missbraucht wird, und ist es wissenschaftlich
betrachtet so schwer einer Bevölkerung solch eine differenzierte Sichtweise
nahe zu bringen?
Dr. Ganser: Eigentlich ist das nicht so
schwer, dies den Menschen zu erklären, denn wer ehrlich zu sich selber ist,
weiß es schon. Es liegt tatsächlich ein sehr großer Missbrauch vor, wenn
sich sowohl Christen wie auch Muslime und Juden beim Töten auf Gott
beziehen, zumindest kann ich persönlich beim Töten oder Foltern von Menschen
nichts Heiliges erkennen. Das gilt sowohl für Terroristen wie auch für
Soldaten. Eine zentrale Botschaft der Bibel ist, dass man seine Feinde
lieben soll, so steht es in der Bergpredigt, auch die Thora der Juden und
der Koran der Muslime betonen, dass man seine Mitmenschen ehren und achten
soll. Feindesliebe ist natürlich etwas vom Schwierigsten im Leben, denn
dafür muss man sich selber und seine Ängste besiegen, es ist wohl viel
einfacher zu hassen und zu töten. Wissenschaftlich ist das alles nichts
neues, das hatten wir schon mal im Dritten Reich von Adolf Hitler. Damals
haben die Christen die Juden zuerst gefürchtet, dann gehasst, dann getötet.
Im Kalten Krieg hatten wir das gleiche Schauspiel mit den Kommunisten. Und
heute wird das neue Feindbild der Muslime erschaffen. Das ist weder klug
noch weise noch menschlich, und daher müssen auch wir Wissenschaftler
Klartext sprechen. Es ist aber für die globale Sicherheitspolitik ein
riesiges Problem, dass wir auch sehr viele falsche Prediger auf der Erde
haben, unter den Muslimen in einigen Moscheen, unter den Christen in einigen
Kirchen, und unter den Juden in einigen Synagogen. Falsche Prediger rufen
zum Hass, zur Rache und zum Töten auf, jeder Mensch muss selber entscheiden,
ob er eine solche Predigt für wahr und wertvoll hält. Nehmen Sie das
Beispiel von Srebrenica, die Stadt in Bosnien, in welcher im Jahre 1995 ca.
8000 Muslime umgebracht wurden. Kürzlich wurden ja einige Videoaufnahmen zu
diesem Verbrechen der Forschung zugänglich gemacht. Und wenn man sich diese
anschaut, sieht man, dass ein christlich orthodoxer Führer, mit langem Bart
und schwarzem Gewand und den echten Insignien des Glaubens, die jungen
Serben vor der Tat segnet. Er ist viel älter als die jungen Männer, sie
vertrauen ihm und sind überzeugt das richtige zu tun. Aber er ist ein
falscher Prediger. Aber das ist nicht nur bei den Christen so, gehen sie
heute oder morgen irgendwo auf der Welt in eine Moschee und fragen sie sich,
ob der Prediger zu Liebe, Vergebung und Toleranz oder zu Hass und Gewalt
aufruft, sie werden einige falsche Prediger finden, ich kann nicht in Zahlen
genau sagen wie viele es sind, aber das Problem besteht, da ist die ganze
Glaubensgemeinschaft gefordert, mutig Stellung zu beziehen, gerade die
ältesten und weisesten Männer sind gefordert, auch die Frauen, sie müssen zu
Mäßigung und Toleranz aufrufen,
und auch die eigenen Familien.
Die Polizei und die Geheimdienste mit ihren
Kameras vor den Gotteshäusern sind dieser Aufgabe nicht gewachsen, wenn sich
junge Männer in ihrem Herzen und ihrem Kopf entschlossen haben zu töten,
dann sind sie nicht mehr zu stoppen. Wir stehen also in einem Ringen um hearts and minds, wie man das auf Englisch nennt. Wenn sich ältere Männer in
christlichen Regierungen in Terror und Krieg verstricken, ist die Aufgabe
aber auch nicht leichter, denn auch diese sind sehr schwer zugänglich.
MM: Wenn wir Ihre Bücher richtig verstehen,
behaupten Sie letztendlich, dass westliche demokratische Systeme den Tod von
unschuldige Menschen, Frauen und Kindern, selbst der eigenen Bevölkerungen in Kauf nehmen, um bestimmte
politische Ziele durchzusetzen. Und das geschieht nicht nur durch das Fehlverhalten
Einzelner sondern systematisch. Ist das nicht ein wenig extrem starker Tobak, und
bekommen Sie für solche Behauptungen keinen Ärger?
Dr. Ganser: Ich behaupte das nicht. Die
historischen Quellen und Zeugenaussagen im Bereich NATO Geheimarmeen und
Strategie der Spannung belegen das, und ich habe die Belege in meinem neuen
Buch zusammengetragen. Viele wissen nicht, was die Strategie der Spannung
ist und wer davon profitiert. In meinem Buch kann
jeder nachlesen und nachprüfen, dass man im Kalten Krieg die Kommunisten
gefürchtet hat und daher Bombenanschläge inszenierte - gegen Zivilisten,
Frauen und Kinder eingeschlossen, da haben Sie schon recht - um die
Anschläge danach dem politischen Gegner anzulasten, also den Kommunisten in
Italien zum Beispiel. Die Massen glaubten das sofort, denn sie können sich
nicht vorstellen, dass der Staat, an den sie ja Steuern bezahlen und der sie
beschützen sollte, sie mit einer so teuflischen Strategie selber angreifen
würde. Man nennt dies die Strategie der Spannung. Erst Jahre später hat man
dann zum Beispiel in Italien herausgefunden, dass nicht die Kommunisten
sondern katholische Neofaschisten, welche die Kommunisten als Atheisten
fürchteten, zusammen mit dem Italienischen Geheimdienst die Bomben gezündet
und die Spuren vertuscht haben. Nur ganz wenige Menschen im Staatsapparat
wussten zum Zeitpunkt der Tat von diesen Zusammenhängen. Aber die Quellen
sind klar, der Staat ermordet manchmal seine eigenen Bürger, wir sprechen
dann von Staatsterrorismus, und den gab es nicht nur unter Stalin in der UDSSR , unter Ceausescu in Rumänien oder unter Pinochet in Chile sondern
eben auch in Westeuropa. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass einige der
Terroranschläge, welche heute den Muslimen angelastet werden, von radikalen
Christen inszeniert wurden, nur beweisen kann man das heute noch nicht,
vielleicht aber in fünf Jahren, wir sollten sehr wachsam sein und uns nicht
aufhetzen lassen.
MM: Trauen Sie das denn auch heutigen
westeuropäischen Regierungen zu; der Schweizer ja wohl zumindest nicht?
Dr. Ganser: Wir hatten auf dem Boden der
Schweiz in den letzten hundert Jahren keine Terrortoten, keine fremden
Armeen, keine Bürgerkriege und keine Staatsstreiche. Sicherheitspolitisch
gesehen ist die Schweiz also in der Tat etwas ein Sonderfall,
glücklicherweise verschont von viel Leid. Von den 194 Ländern der Welt kenne
ich kein anderes Land, für welches das Gleiche gilt. Aber schon unsere
Nachbarn Italien, Frankreich, Deutschland und Österreich haben alle
tragische Erfahrungen sowohl mit Krieg als auch mit Terror machen müssen.
Die Schweiz ist also keineswegs eine Insel, sondern aufs Engste mit den
internationalen Entwicklungen verknüpft und von ihnen beeinflusst, auch
bedroht, denn kein Land ist heute sicher vor Terrorismus. Was ich den Westeuropäischen Regierungen von heute zutraue, spielt
hier keine Rolle, als Historiker habe ich genügend Machtmissbrauch gesehen
in Europa während den letzen 500 Jahren, dazu habe ich die Geheimarmeen in
allen Ländern von Westeuropa in den letzen 50 Jahren untersucht. Ich mache
mir hier keine Illusionen, es ist immer alles möglich. Zentral ist die
Frage, ob die EU eine Kraft für den Frieden und den Ausgleich sein kann oder
eben nicht. Da ihre Bewohner vielen verschiedenen Kulturen und Religionen
angehören, muss sie das schaffen, sonst kann sie als Organisationsstruktur
nicht für weitere 50 oder 100 Jahre bestehen, sondern muss auseinander
brechen. Dann wären wir zurück bei Gewalt und Kampf, und das hatten wir
schon öfters hier in Westeuropa. Ich denke es ist nun Zeit um die Erfahrung
des Friedens, der Toleranz, der Mäßigung und des Ausgleiches zu machen, denn
auch das ist möglich. Die Menschen haben wie immer die freie Wahl.
MM: Wenn der Normalbürger nach Lektüre Ihres
Buches bestimmte Thesen vertritt gilt er gemäß der allgemeinen Presse als
Verschwörungstheoretiker. Sie hingegen gelten als renommierter
Wissenschaftler, sind die Grenzen zwischen seriöser Wissenschaft und
"Verschwörungstheorie" denn so fließend?
Dr. Ganser: Die allgemeine Presse hat kaum
mehr Zeit lange nachzudenken und zu recherchieren. Der Informationsstand und
die Ausgewogenheit der Analysen lassen viel zu wünschen übrig. Natürlich
gibt es auch wichtige und wertvolle Journalisten die zur Mäßigung und
Toleranz aufrufen, die differenziert darlegen wie alle Menschen, und nicht
nur der Feind des Tages, sich immer wieder in Gewalt verstrickt haben. Aber
gerade die Bilder und die Überschriften, und das sind die schnellen
Botschaften für das Unterbewusstsein der Leser, schüren immer wieder Angst
und Hass. Täglich ein Bild von einem Muslim und einem Christen, die sich
umarmen, zu drucken, gäbe ein anderes Signal, dazu die Überschrift "Toleranz
ist möglich". Aber die Medien transportieren ja heute in erster Linie
Werbung, und das ist sehr langweilig, also braucht es noch etwas
Reißerisches, sonst schaltet man die Kiste ab oder legt die Zeitung weg. Die
Marketingleute haben schon recht, Sex and Crime sells. Aber die Konsequenzen
sind nicht ganz harmlos, denn dadurch werden die tiefsten Triebe in uns
allen angesprochen, dazu gehören auch der Hass, die Angst und das Morden,
was wiederum ein Problem für uns Sicherheitsexperten ergibt.
Auch beim Umgang mit dem Begriff "Verschwörung" ist die Presse ziemlich
schwach auf der Brust was die Analyse angeht. Eine Verschwörung ist, wenn
sich zwei oder mehr Menschen heimlich absprechen. Das ist alles. Es kann das
Versprechen zwischen einem Jungen und einem Mädchen sein, sich um
Mitternacht im Fluss zu treffen und ohne das Wissen ihrer Eltern vor dem
Morgengrauen wieder friedlich im Bett zu liegen. Das ist für die
Gesellschaft harmlos. Andere geheime Absprachen planen Mord und Totschlag.
In der klassischen Blutrache zum Beispiel hat die Familie, welche ein
Familienmitglied durch eine verfeindete Familie verloren hatte, sich im
Geheimen zusammengesetzt und entschieden, welches Mitglied der Familie den
nächsten Mord ausüben wird, um den Toten zu rächen. Auch das ist eine
Verschwörung, diesmal aber nicht harmlos sondern total zerstörerisch für die
Gesellschaft. Heute gibt es viele solche geheime Absprachen unter Gruppen,
die das Töten planen. Jedem Terroranschlag geht eine Verschwörung voraus,
also liegen auch dem 11. September 2001, den Anschlägen in Madrid, Bali,
Istanbul und London Verschwörungen zu Grunde, das ist gar nicht anders
möglich. Die Kernfrage ist also nicht, ob es sich um eine Verschwörung
handelt oder nicht, den das ist bei Terror immer der Fall, sondern wer die
Verschwörer sind, und das ist eine hoch komplizierte Sache. Wer
Verschwörungstheorien, also Annahmen über die mögliche Identität der
Verschwörer, von vornherein als Unsinn abtut, hat keine Ahnung von der
verdeckten Kriegsführung.
MM: Ist der "Kampf gegen Terror"
wissenschaftlich betrachtet überhaupt vergleichbar mit früheren Kämpfen, die
sich letztendlich immer gegen einen definierten Staat oder gegen definierte
Personengruppen richtete, was heutzutage nicht derart klar abgrenzbar
erscheint?
Dr. Ganser: Der Krieg gegen den Terrorismus
ist tatsächlich etwas Neues und sehr Merkwürdiges. Man sollte daher
vielleicht eher vorsichtig vom "so genannten Krieg gegen den Terrorismus"
sprechen. Denn Terrorismus ist eine Strategie, und eine Strategie kann man
niemals mit Krieg besiegen. Mit Krieg kann man ein Land besetzen oder eine
Menschengruppe schlagen und versklaven. Aber eine Strategie lebt im Kopf und
im Herz. Sie ist letzten Endes eine Kombination von Gedanken und ein
Gefühlen, und die können sie niemals mit Panzer und Flugzeugträgern oder
Cruise Missiles in den Griff bekommen. Gehen sie mal zu einem Psychiater,
der sich mit jugendlichen Gewalttätern beschäftigt - ich habe Freunde die
das tun - und fragen sie ihn dann, ob es ihm helfen würde wenn man ihm einen
Panzer in die Praxis stellen würde, er würde sie mit Unglauben anschauen
oder sogar auslachen. Viele Menschen haben eine viel zu einfache Vorstellung
von diesem so genannten Krieg gegen den Terrorismus. Sie glauben, dass wir
auf der Welt eine gewisse Anzahl von Terroristen haben, sagen wir 100'000,
dass diese Zahl fix sei, und dass wir diese bösen Terroristen nur fangen und
einsperren oder töten müssen, dann sei die Welt wieder ein sicherer Ort. So
in etwa wird die Lage auch in den Medien dargestellt. Aber das ist natürlich
grober Unsinn. Denn erstens ist die Zahl nicht stabil und kann auch von
niemandem kontrolliert werden, wir haben immer soviel Terroristen auf der
Welt wie sich junge Männer - und es sind leider in erster Linie junge Männer
- dazu entschließen ihre Ziele mit Gewalt und Töten zu erreichen. Sie töten
20.000 und fangen 50.000 und glauben dann die globale Anzahl hätte sich von
unseren angenommenen 100.000 auf 30.000 reduziert? Unsinn! Sie müssen ja
auch beachten, wie viele sich neu für diese Strategie entschieden haben. Und
genau hier entsteht die spannende Dynamik: die 20.000 Toten und 50.000
Inhaftierten haben Väter, Brüder und Freunde. Umso härter sie vorgehen, umso
größer wird die Gefahr, dass neue Gruppen nur noch in der Gewalt eine Lösung
ihrer Situation sehen. Wir wissen die Zahlen nicht, niemand weiß sie, aber
wenn wir bei 20.000 Toten und 50.000 inhaftierten Terroristen jeweils einen
Bruder und einen Freund als neue Terroristen rechnen ist die Sache verloren.
Terror kann man mit Gewalt nicht bekämpfen, so wenig wie man Feuer mit Sprit
löschen kann. Bleiben wir doch ganz konkret: Der Angriff auf Irak hat das
Terrorproblem nicht gelöst. Es ist eben wie mit dem Sprit und dem Feuer, das
haben viele Experten für Sicherheitspolitik vorausgesagt: Heute gibt auch
die CIA zu, dass der Irak das weltweit größte und gefährlichste
Trainingslager für Terroristen ist. Dort wird der Bombenbau und der Anschlag
wie auch das Kidnapping täglich geübt, danach kommen die Mudschaheddin nach
Europa oder in die USA und schlagen zu, denn auch sie denken, dass Gott
will, dass sie töten, ein Irrtum wie ich denke. Das dreht die Gewaltspirale
weiter an. Die Christen werfen noch mehr Bomben aus Flugzeugen auf die
Muslime und die Muslime tragen noch mehr Bomben in die Flugzeuge zu den
Christen. Am Ende werden wir alle Verlierer sein. Man fragt mich oft, warum
wir denn nicht einfach aufhören mit diesem Krieg gegen den Terrorismus, wenn
er ja eh nicht funktioniert, sondern alles nur noch schlimmer macht, und
warum dann nicht alle Länder ihre Truppen nach Hause bringen. Nun sehen sie,
wenn es wirklich um den Terror ginge, dann könnte man das tun. Aber da bin
ich mir nicht sicher. Historisch gesehen führen Länder Kriege, um ihre Macht
gegenüber anderen Rivalen zu vergrößern und Ressourcen wie Erdöl zu
erbeuten. Ich denke das ist heute nicht anders. Terroristen zu jagen und
einzusperren war noch nie ein geostrategisches Hauptziel, das ist vielmehr
eine Geschichte für das Volk. Die führenden Strategen in den USA wissen
wohl, das es gar nicht funktioniert, da ihr Ziel aber ein anderes ist,
nämlich den Zugang zu den Ressourcen und zur Macht, nehmen sie die
Terroropfer und Kriegstoten in Kauf. Wenn das ganze Erdöl, um das global ein
immer intensiverer Kampf entbrannt ist unter Australien liegen würde, wären
wohl die Australier die Terroristen, und nicht die Muslime. Die Forschung nennt das Resource Curse,
also Fluch der Ressourcen. Unter dem Stichwort "Peak Oil" wird zudem
diskutiert, wann das global sinkende Angebot an Erdöl die dauernd steigende
Nachfrage nicht mehr befriedigen könne, das ist eine ganz ernste Sache für
die Industriestaaten. Es gibt Geologen die sagen, das wird in den nächsten
fünf Jahren der Fall sein. Ich weiß nicht ob das stimmt. Aber zumindest sind
dies die Art handfesten Überlegungen, die letztendlich die Geostrategie
dominieren, während dem Volk eine ganz andere Geschichte verkauft wird.
Einige sagen der so genannte Krieg gegen den Terrorismus sei nur eine
Rauchwand, eine Lüge letztendlich, und dahinter verstecke sich eine
Energiekrise. Wir werden sehen.
MM: Sie werden uns darin übereinstimmen,
dass die allerweinigsten "Experten", die heutzutage wie Pilze aus dem Boden
sprießen, sich derart klar und eindeutig öffentlich äußern, wie Sie es tun.
Ärgert es Sie, dass so viele weniger informierte Menschen zu "Experten"
"gemacht" werden? Und können Sie noch problemlos in die USA einreisen?
Dr. Ganser: Nein ich ärgere mich nicht. Ich
glaube, jeder muss selber seine Verantwortung tragen für das was er denkt,
fühlt, sagt und tut. Ich freue mich, dass es auch heute immer wieder viele
Menschen gibt, die zur Besonnenheit und zur differenzierten Analyse
aufrufen. Ich hoffe, dass es immer mehr werden, unter allen Religionen und
Völkern. Und diese Hoffnung ist nicht völlig unbegründet, wir befinden uns
Mitten in einem Umbruch, und Umbrüche haben auch immer viel mit Aufwachen zu
tun. Es gibt heute viele Menschen die klar erkennen, dass wir uns global in
einer Gewaltspirale von Terror und Krieg befinden, und dass uns mehr Gewalt
und mehr Hass und mehr Angst nicht aus dieser Spirale hinausbringen werden,
sondern vielmehr die Spirale noch weiter beschleunigen. Diese Wahrheiten
sind so klar, dass sie jeder versteht der mal abends vor dem Einschlafen mit
geschlossenen Augen in Ruhe darüber nachdenkt. Auch in den USA übrigens, wo
ich auch gute Freunde habe, wo ich aber in den letzten Jahren nicht mehr
hingeflogen bin. Ich weiß nicht, ob ich Probleme bei der Einreise hätte,
kann schon sein, oder auch nicht. Viele Menschen haben heute größere
Probleme als noch vor zehn Jahren. Die Umstände verändern sich dauernd, da
können wir wenig machen. Zentral aber ist, wie wir selber reagieren. Die
Haupteinsicht besteht darin, dass wir zwar alle anders aussehen und auch
viele verschiedene Sprachen sprechen, aber trotzdem einer Geschwisterschaft
angehören, eben der Geschwisterschaft der Menschen. Es wäre daher schade,
wenn wir uns gegenseitig auslöschen. Natürlich werden wir immer Konflikte
haben, und das ist auch gut so, aber wir sollten sie nicht mit Gewalt lösen,
das gilt in den eigenen vier Wänden genau gleich wie in der internationalen
Politik. Viel klüger wäre es, wenn wir Konflikte durch Kommunikation lösen
und uns mit unseren Emotionen, vor allem mit unserem Hass und unserer Angst,
auseinandersetzen. Das ist schwierig, keine Frage, aber da liegt auch ein
riesiger Profit für uns selber verborgen, wir können wachsen, jeder für sich
und auf seine Weise. Man kann auch andere in diesem Prozess unterstützen.
Oder einem alten Feind, das kann auch der Nachbar sein, verzeihen oder sogar
ein kleines Geschenk machen. Wir bekommen jeden Tag tausende von
Gelegenheiten zum üben, heute mehr denn je.
MM: Was kann den die Friedensforschung dem
muslimischen Bürger in Westeuropa für einen Ratschlag geben, einerseits die
Situation zu bewältigen helfen und andererseits seinen Glauben nicht
aufzugeben?
Dr. Ganser: Ich rate den Christen und den
Muslimen in Europa Feindesliebe, dadurch werden beide zum Kern ihres
Glaubens vorstoßen können, und das ist ein Gewinn für jeden Persönlich.
Zudem rate ich ihnen vor allem, die jungen Männer auf die Werte der Toleranz
und Menschlichkeit hinzuweisen, wenn der Hinweis von jungen schönen Frauen
oder alten weisen Männern kommt, wird er bei den junge Männern besonders
stark wirken. Ansonsten sollte einfach jeder seine Gefühle beobachten, und
zwar ganz genau, um zu erkennen, wann und wo Hass oder Angst in ihm
aufflammen, das sind die wirklichen Krisenherde der Erde, und an denen
sollte jeder arbeiten. Das ist natürlich nicht einfach, gerade wenn man dies
nicht gewohnt ist, aber es ist für jeden eine Chance zum persönlichen
Wachstum, und wer will das nicht. Der Dalai Lama, der Führer der Buddhisten,
hat einmal gesagt, dass tief in ihrem Herzen die Menschen einander mögen.
Ich glaube da hat er recht.
MM: Und was können Sie als
wissenschaftlicher Friedensforscher in der heutigen Situation zur
Friedensbildung beitragen, wenn doch viele Ihrer bedeutsamen Erkenntnisse
keinen Widerhall in der Main-Stream-Presse finden?
Dr. Ganser: Meine Person spielt keine Rolle.
Wer sich heute informieren und entwickeln will, bekommt tausend verschiedene
Impulse dazu. Letzten Endes ist es auch für das Universum egal, ob wir
Menschen uns und die Erde zerstören, das Universum ist als solches nicht
zerstörbar, es ist riesig, und die Menge an Energie bleibt konstant, man
kann sie weder erschaffen noch zerstören, nur umwandeln. Wir stehen mal
wieder in einem starken Umwandlungsprozess, das merkt ja jeder, und die
Zukunft ist weit und offen, eine alte Welt aus Krieg und Terror, und eine
neue Welt aus Menschlichkeit und Harmonie stehen sich als Vision gegenüber.
Man wird sehen zu welcher Vision wir uns durchringen werden. Wir leben hier
ja nur auf einem kleinen Planeten, einem sehr schönen zwar, aber wir sollten
bescheiden bleiben, wir können ja nicht einmal zum Mars fliegen oder unser
Sonnensystem verlassen, dabei gibt es in unserer Galaxie Milchstrasse
tausende von Sonnensystemen, und im Universum wiederum Millionen von
Galaxien. Da steht uns einfach der Verstand still, das ist alles viel zu
groß, um es zu verstehen, auch für uns Wissenschaftler. Wer seine Ängste und
seinen Hass beruhigen will, dem empfehle ich den Fernseher abzuschalten, in
einer Wiese zu liegen und nachts den Sternenhimmel zu betrachten und
nachzudenken.
MM: Klingt nach Gedanken eines
gottesehrfürchtigen Menschen. Hat denn Gott in der Friedensforschung einen
Platz?
Dr. Ganser: Jeder der genau hinschaut sieht,
dass die Krieger auf allen Seiten sich heute auf Gott berufen, das gibt
ihnen die Kraft, ein Eid auf Öl und Beute wäre viel schwächer. Die
Mudschaheddin schwören auf Allah, bevor sie unter Zivilisten ihre Bombe
zünden, Präsident Bush betet mit seinem ganzen Kabinett zu Jesus Christus,
bevor er Wohnhäuser bombardiert, und auch die Juden, die im dauernden
Konflikt mit den Palästinensern stehen, beziehen sich im Kern ihres
Identitätsgedankens auf Gott. Christen und Muslime zusammen machen heute
mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung aus, also über drei Milliarden. Es
ist daher ganz klar, dass der Bezug von uns Menschen zu Gott eine zentrale
Rolle, ja vielleicht sogar die zentrale Rolle, in den laufenden
Gewaltkonflikten spielt, und die Friedensforschung muss daher über diese
Rolle von Gott sprechen. Das ist natürlich für die westliche Wissenschaft
nicht ganz einfach, da haben sie schon Recht, denn sie ist ja seit der
Aufklärung in erster Linie eine säkulare Wahrheitssuche, viele
Wissenschaftler sind auch Atheisten. Daher wird in der
Tat in der westlich dominierten internationalen Forschung zur
internationalen Politik noch nicht so viel über Gott gesprochen. Man redet
etwas um den heißen Brei herum. Aber das wäre gar nicht nötig, denn auch der
Deutsche Philosoph Immanuel Kant, der Vater der Aufklärung, hat die Frage
nach Gott zu den zentralen Fragen der Philosophie gezählt, im Kern der
Aufklärung war diese Frage daher niemals ausgeschlossen. Es ist unsinnig die
Frage nach Gott den Fanatikern und Fundamentalisten zu überlassen. Jeder
muss da seinen eigenen Weg finden. Aber heute ist es notwendig, falsche
Prediger klipp und klar zu entlarven. Wenn einer zu Hass und Totschlag
aufruft, hat er keinen privilegierten Draht zu Gott sondern ist verwirrt, in
was für einem schönen Gebäude er auch stehe, und in welch schönen Gewändern
er auch rede. Das wissen wir intuitiv. Ich denke wir sollten daher Ehrfurcht
vor dem Leben haben, so steht es in den Menschenrechten, so steht es im
nationalen und internationalen Recht, und so steht es in allen heiligen
Schriften. Man hat Mahatma Gandhi mal gefragt, welches denn der Weg zum
Frieden sei. Darauf hat er geantwortet: "Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der
Friede ist der Weg." Ich glaube das ist sehr weise.
MM: Herr Dr. Ganser, wir danken Ihnen für
das Interview.
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