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Vom Umgang mit Fatwas

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Von Yavuz Özoguz am 26. Oktober 2011 13:13:44:

Vom Umgang mit Fatwas

Der Umgang mit Fatwas bedarf einer sehr großen Sorgsamkeit und manche Interpretation ist schlichtweg falsch!

As-salamu-alaikum, liebe Geschwister im Islam. Heute wende ich mich nach sehr langer Geduld direkt an Sie/Euch mit der Bitte die folgenden Worte zum Thema nicht so zu behandeln, dass daraus Missverständnisse entstehen, die so vielen Geschwistern ernsthafte Probleme bereiten können. Selbst wenn man anderer Meinung ist (wovor ich stets großen Respekt habe), kann dies auch in einer Art erfolgen, die konstruktiver ist.

Es war für mich im Laufe des Jahres etwas “erschreckend“ mitzuerleben, wie einige gelehrte und weniger gelehrte Brüder – teils mit angeblich religiöser Ausbildung – im Internet aufgrund eines Artikels über Sozialhilfe eine ganze Reihe unserer Schwestern in Deutschland, die in Kindergärten arbeiten, geradezu in die Verzweiflung manövriert haben. Dabei war die Ausgangsfrage scheinbar sehr einfach: Darf eine ausgebildete muslimische Erzieherin in einem Kindergarten arbeiten, wenn sie den nichtmuslimischen Kindern zum Mittagsmahl Haram-Speise servieren muss? Der Hintergrund war der, dass jene Muslima ganz bewusst von einem Kindergarten trotz Kopftuch als Muslima eingestellt worden war, weil der Kindergarten das Vertrauen der Muslime gewinnen wollte. Zu Mittag gab es dementsprechend Halal-Speise für Muslime, aber eben auch Haram-Speise für Nichtmuslime (die sie ja teilweise selbst mitgebracht hatten). Da es gerade zur Mittagszeit Personalengpässe gab, musste die Muslima unter Umständen auch die Haram-Speise verteilen.

Gleich scharenweise traten die Fatwa-Interpreten und Experten auf und erklärten, dass das Verteilen von Haram-Speise für einen Muslim haram sei und dementsprechend auch der Job verboten sei für Muslime und es dann besser sei, Sozialhilfe zu erhalten. Es war für viele betroffene Schwestern, aber auch für Leser von anderen Berufen, wie z.B. Taxifahrer, die einen Fahrgast zu einer Haram-Stelle fahren müssen (das deutsche Gesetz erlaubt keine Ablehnung des Fahrgastes aufgrund des Zielortes), erschreckend, mit welcher “Leichtigkeit“ ihnen ihr Beruf, mit dem sie nicht selten ihre Familie ernährten, abgesprochen werden sollte. Das ultimative Argument war immer wieder, dass in irgendwelchen allgemein formulierten Fatwas jene Handlungen als Haram erklärt wurden und dementsprechend die Ausübung jenes Berufs unter den genannten Umständen ebenfalls haram sei.

Einmal abgesehen von der für mich in Intensität und Ausführung erschreckend lieblos geführten Diskussion, die mich auch in vielen Mails erreichte, war es für mich noch erschreckender, dass hier Fatwas gelesen werden, ohne sämtliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, ohne die Spezialumstände anzugeben, ohne die Voraussetzungen zu erläutern usw.. Das Lesen von Fatwas ist doch kein Kinderspiel, das jeder nach seinen eigenen Vorstellungen auch gleich für alle anderen mit übernehmen darf und dann seine Schlussfolgerungen anderen geradezu aufzwingt?!

Die gesamte Kultur der Fatwa-Problematik und des Umgangs damit bedarf einer ausführlichen innerislamischen Diskussion, die ich gerne in einem sachlichen und beruhigten Rahmen anregen möchte. Es muss eine Diskussion mit Respekt und gegenseitigem Verständnis sein. Es muss eine Diskussion sein, die den Einzelnen näher zu Allah bringt und nicht mit der Vorstellung geführt wird, recht haben zu wollen.

Als ich vor einigen Monaten gesehen habe, welch absurde Ausmaße und Richtung jene Diskussion genommen hat, habe ich mich an einen meiner Vertrauensgeistlichen in der Islamischen Republik Iran gewandt, der im Büro des Imams arbeitet. Gemeinsam haben wir drei repräsentative Fragen ausgearbeitet, die stellvertretend für alle Fälle stehen sollten und haben die Fragen sehr detailliert formuliert und dann an Imam Chamene’is Fatwa-Beauftragten geleitet. Die Umstände der Zeit und die Komplexität des Themas hat dazu geführt, dass die Antworten ungewöhnlich lange gedauert haben. Jetzt aber liegen sie vor. Die Antwort auf den oben genannten Fall ist sehr einfach und kurz:

„Es gibt kein Hindernis nichtmuslimischen Kindern, die noch nicht die religiöse Reife erreicht haben, Haram-Essen zu geben.“

Diese Art der Antwort war nur möglich, weil die Frage sehr detailliert alle Umstände beschrieben hat sowie auch das Alter der betroffenen Kinder klar wurde usw. usf. .. Alle diejenigen, die behauptet haben, es wäre “haram“ gemäß Imam Chamene’i und das aus bestimmten Fatwas heraus interpretiert haben, sollten jetzt nicht den Fehler machen zu behaupten, dass das Büro Fehler macht oder dass gar sich die Fatwas geändert hätten. Auch sollte nicht die Behauptung aufgestellt werden, dass aus der Frage mit Kindergarten bereits hätte klar sein müssen, wie alt die Kinder sind usw. usf.. All das war in den Fragen damals nicht vermerkt und entsprechend konnte die Antwort es nicht berücksichtigen. Vielmehr gibt es allgemeine Antworten und spezielle Antworten. Und allgemeine Antworten sind eine allgemeine Orientierung, wohingegen spezielle Antworten eine spezielle Orientierung sind.

Um die ganze Angelegenheit selbst besser zu verstehen wurden zwei weitere Fragen bezüglich einer Krankenschwester, die Haram-Essen austeilt und einem Taxi-Fahrer, der gezwungenermaßen einen Fahrgast zu einem Haram-Ort fährt gefragt. Die Frage mit der Krankenschwester unterschied sich von der Frage mit dem Kindergarten durch das Alter und die Wahlmöglichkeit der Patienten. Die Antworten sind höchstinteressant und bedürfen selbst wieder ausführlicher Erläuterungen und Diskussionen zum besseren Verständnis, worauf heute verzichtet werden soll. Nur so viel für heute: Ein “generelles“ Verbot für den Beruf gab es in keinem Fall. Zu gegebener Zeit werden wir Inschaallah auch die etwas komplexeren Themen behandeln. Darum geht es mir heute aber nicht.

Eines sollte klar sein: In einer nichtislamischen Umgebung kann es keine optimale islamische Lösung geben. Der Islam hat aber auch für solche Fälle bestmögliche Lösungen parat, die teils allgemeiner Natur sind und teils so speziell sind, dass nur der Betroffene selbst die endgültige Entscheidung diesbezüglich aufgrund der in Fatwas vorgegebenen Maßstäbe fällen kann (vgl. Musikeinschätzung).

Es sollte aber jedem Muslim zudem klar sein, dass es definitiv nicht der islamischen Ethik und Moral entspricht, wenn man einerseits von der Allgemeinheit lebt und Sozialhilfe empfängt und andererseits “schwarz“ arbeitet, ein zusätzliches nichterlaubtes Einkommen erwirtschaftet und das noch nicht einmal versteuert. Wenn das Bewusstsein über die Einhaltung der Gesetze hinreichend unter uns Muslimen greifen würde, dann gäbe es die anderen Diskussionen möglicherweise nicht in der bestehenden Intensität und man könnte die Fatwas als das nehmen, was sie sind: Wegweiser des besten von uns ausgewählten Wegkenners in Richtung der Liebe Gottes. Ich wünsche ein gesegnetes Diskutieren.

Euer Bruder im Islam

yavuz



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