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Ist Hartz IV haram – oder wie lerne ich Fatwas verstehen?

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Von Yavuz Özoguz am 21. Juni 2011 10:18:56:

Ist Hartz IV haram – oder wie lerne ich Fatwas verstehen?

Der letzte Artikel mit der Überschrift “Ist Harz IV halal“ hat zu einigen innerislamischen Diskussionen geführt, an denen ich mich mit einem Folgeartikel beteiligen möchte. Ich bete zu Allah, dass Er mir dabei die richtigen Worte gewährt.

Zunächst einmal muss ich mich für meine Schreibweise entschuldigen. Regelmäßige Leser meiner Artikel sind zwar eine Reihe von Flüchtigkeitsrechtschreibfehlern gewohnt, aber dass der Herr Hartz mit “t“ geschrieben wird, wusste ich tatsächlich vor der Veröffentlichung nicht bzw. es war mir nicht aufgefallen. Ich habe ihn wohl unbewusst mit den Bergen in Verbindung gebracht, in denen ich so lange studiert habe.

Viel mehr aber möchte ich mich bei allen bedürftigen muslimischen Hartz IV Empfängern entschuldigen, die das Gefühl hatten, ich wolle ihnen die ihnen zustehende Sozialhilfe vermiesen. Das war ganz sicher nicht die Absicht des ersten Artikels! Muslime sind gleichberechtigte Staatsbürger mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten, und daher steht selbstverständlich auch jedem Bedürftigen die Hilfe des Staates im angemessenen Rahmen zu. Schwarzarbeit hingegen ist definitiv “haram“, und wer neben seiner regelmäßigen Schwarzarbeit zusätzlich die ihm dann nicht zustehende Sozialhilfe kassiert, muss das eines Tages vor seinem Schöpfer und den vielen Menschen verantworten, dessen eingezahlte Gelder er missbräuchlich beansprucht hat; darunter auch viele Nichtmuslime, die dann berechtigte Ansprüche gegenüber ihm haben!

Das aber war nicht das Thema des ersten Artikels. Vielmehr ging es darum zu verstehen, wie man in einer nichtislamischen Umgebung islamische Ideale im persönlichen Leben verwirklichen kann. Und gemessen am Ideal des Islam ist nahezu die gesamte Welt (bis auf vernachlässigbare Ausnahmen) eine nichtislamische Umgebung. Hier ging es insbesondere darum, zu verstehen, dass manche als “haram“ einzustufende Handlung zuweilen dennoch das geringere Übel darstellen kann.

Bevor hier erneut die Thematik aufgerollt wird, sollten einige Missverständnisse klipp und klar ausgeräumt werden: Es ist definitiv und unzweifelhaft für einen Muslim verboten (haram), alkoholische Getränke zu verkaufen, servieren, lagern, einräumen, transportieren usw. usf.. Das gleiche gilt für Schweinefleisch. Beides ist aus islamischer Sicht eine Droge bzw. ein Gift und ein Muslim verbreitet kein Gift, weder an Muslime noch an Nichtmuslime! Es ist auch definitiv für einen Muslim verboten, jemanden in ein Bordell zu fahren. “Sünde“ ist im Islam kein abstrakter Begriff, sondern eine Handlung, die für den Einzelnen und/oder die gesamte Gesellschaft schädlich ist. Und ein Muslim beteiligt sich nicht an etwas, was für Menschen schädlich ist. Alle diese Fragestellungen und noch viele mehr sollten im ersten Artikel zum Thema nicht in Frage gestellt werden! Vielmehr stand eine andere Frage im Vordergrund. Ausgehend von den uns bekannten Verboten im Islam stellt sich die Frage, welche Konsequenzen das für die Muslime hier in Deutschland hat. Hat es zur Folge, dass ein Muslim mehr oder weniger keinen Beruf mehr ausüben kann?

Die Beispiele sollen ruhig noch einmal erwähnt werden, um die Tragweite der Problematik zu verdeutlichen. Taxifahrer in Deutschland müssen auch Fahrgäste an Orte befördern, an die ein Muslim niemanden befördern darf. Krankenschwestern müssen Lebensmittel servieren, die kein Muslim servieren darf. Lehrer müssen Aufsicht bei Veranstaltungen durchführen, die aus muslimischer sicht mindestens problematisch sind. Packer müssen Dinge einpacken, die z.B. Alkohol in den Zutaten haben (und sei es eine “harmlose“ Schokolade mit entsprechender Zutat). Transportunternehmen müssen Dinge transportieren, die aus muslimischer Sicht problematisch sind, und das kann selbst einen einfachen Paketboten der Post betreffen, der eine deutlich gekennzeichnete Weinkiste ausliefern muss. Muslimische Erzieherinnen müssen den Kindern Speisen verabreichen, die sie ihren eigenen Kindern nicht geben dürften. Und wenn man lange genug nachhakt, wird man bei fast jedem nichtakademischen Beruf irgendetwas finden, was aus muslimischer Sicht problematisch ist, und bei vielen akademischen Berufen werden andere aber ähnlich gestrickte Probleme eine Rolle spielen. Und die Frage lautet dabei, wie sind Ideal und Realität in Einklang zu bringen? Es nützt hierbei nichts, sich vor dieser Frage zu drücken. Auch kann man sich nicht immer auf sein “Vorbild der Nachahmung“ (Mardscha) berufen, um die eigene Entscheidung und Verantwortung abzuwerfen, denn die Fatwas zum Thema sind klar. Aber wie ist damit umzugehen?

Muslime in Deutschland können Einheimische oder Ausländer sein. Fangen wir zunächst mit den ausländischen Muslimen an, die in den nächsten Generationen immer weniger sein dürften. Ausländische Muslime, die die Vorstellung haben, dass sie in Deutschland aus religiösen Gründen mehr oder weniger keine Arbeit annehmen können oder dürfen und daher von der Sozialhilfe leben müssten, müssen folgende Frage beantworten: „Was machen sie hier?“ Die Frage richtete sich nicht an ernsthafte Asylbewerber, die aus ihrem Land fliehen mussten. Es sei aber erwähnt, dass deren Zahl im Vergleich zur Gesamtzahl der Muslime im Land vernachlässigbar gering ist. Wenn also ein Muslim aus einem fremden Land nach Deutschland kommt und nicht arbeiten will (unabhängig davon, ob es aus Faulheit ist oder aus vorgeschobenen oder echten religiösen Gründen), der hat also vor, von dem erwirtschafteten Geld anderer zu leben (denn nichts anders ist die Sozialhilfe). Ist das die islamisch gebotene Alternative? Muss man diese Frage wirklich stellen? Warum gehen sie dann nicht in ihr muslimisches Land und nehmen dort eine Halal-Arbeit an? Ist es wirklich unverständlich, wenn diese Frage – von wem auch immer – gestellt wird? Und ist es unverständlich, dass eine Meute von Islamhassern sich gerade in das Thema verbeißt?

Einheimischen Muslimen – zunehmend sind es ja auch “echte“ Deutsche – kann man obige Frage nicht stellen. Die Art des Aufrufes wie „geht doch nach drüben“ an einstmals Kommunisten im Land ist zu primitiv, als dass es hier erörtert werden müsste. Was also gilt für den Muslim, der in diesem Land lebt, dessen Heimat dieses Land ist, und der dieses Land aktiv und konstruktiv mitgestalten will? Wie kann er sein Ideal mit der Realität vereinbaren? Was ist die Lösung? Ist die Lösung, dass Muslime sich von sämtlichen Berufen fern halten, in denen Aspekte erfolgen, die aus muslimischer Sicht nicht erlaubt sind?

Die Fragestellung soll hier am Beispiel einer Kindergartenerzieherin durchgespielt werden. Das Beispiel ist mit gewissen Modifikationen dann auch auf alle andere Berufe übertragbar. Eine Kindergartenerzieherin muss mittags den ganztags betreuten Kindern eine Speise reichen. Insbesondere während der Ausbildung hat sie zweifelsohne keinen Einfluss auf die Auswahl dieser Speisen. Würde man jetzt zu dem Schluss kommen, dass sie diesen Beruf nicht ausüben darf, so könnte es keine muslimischen Erzieherinnen im Land geben. Alle Muslime müssten – bei Bedarf – ihre Kinder Nichtmuslimen anvertrauen. Auch könnte es niemals muslimische Kindergärten geben, da ja keine muslimischen Erzieherinnen ausgebildet werden konnten. Hingegen gibt es jüdische und christliche Kindertagestätten. Ist das wirklich die Alternative, die der Islam vorsieht? Man muss sich bei jedem Verbot, dass man vertritt, auch über die Konsequenzen im Klaren sein, die jenes Verbot bewirkt. Und zuweilen kann die Konsequenz erheblich negativere Folgen haben, als die innerlich unwillige und ablehnende Hinnahme. Würde man jeweils nur auf den Buchstaben und nicht auf den Sinn schauen, so könnte z.B. in Deutschland kein Muslim Arzt werden! Denn das unwürdige Behandeln von Leichen ist genau so verboten wie das Betrachten des nackten anderen Geschlechts. Beides aber erfolgt zwangsläufig während der Ausbildung. Ist das wirklich die Vorstellung von Muslimen, alle Arztstudenten in Deutschland dazu zu bewegen, ihr Studium aufzugeben?

Wie aber kommt es zu solchen Abwägeungereimtheiten? Der Hintergrund liegt in unsMuslimen selbst begründet! Viele von uns Muslimen wollen die Verantwortung und Entscheidung abwälzen auf eine andere Person. Kaum jemand will selbst die Verantwortung übernehmen. Das aber ist dringend geboten und notwendig, wenn man sich selbst und die Gesellschaft voran bringen will. Wir müssen auch lernen Fatwas richtig zu lesen und richtig zu verstehen. Dazu animieren uns die fortschrittlichen Gelehrten (von denen es aber nicht zu viele gibt). Paradebeispiel für das Lesen einer Fatwa ist eine Aussage von Sayyid Fadhullah – Gott habe ihn selig – das Rauchen würde das Fasten nicht brechen. Hat Sayyid Fadhullah deswegen das Rauchen für unschädlich erklärt? Hat er deshalb das Rauchen gar erlaubt? Nein, nichts dergleichen ist der Fall! Es ging lediglich um sein persönliches Rechtgutachten, dass nach seiner Ansicht das Rauchen das Fasten nicht bricht (was andere Gelehrte völlig anders sehen). Tatsächlich aber erklärte Sayyid Fadhlullah das Rauchen für grundsätzlich “haram“, also verboten. Die Frage nach dem Fasten hat also einen völlig anderen Charakter.

Ähnliche Fatwas gibt es von vielen großen Gelehrten zu hunderten von Themen. Eine unter Islamhassern sehr bekannte Fatwa kursiert in der Westlichen Welt um Imam Chomeini – möge seine Seele geheiligt sein – zu diskreditieren. Jemand hatte die Frage gestellt, mit welcher Art von Sühneleistung er seine Sünde, einstmals eine Minderjährige vergewaltigt zu haben, sühnen kann. Die Antwort lautete verkürzt: „Keine“! Daraus haben Islamhasser geschlossen, Imam Chomeini würde die Vergewaltigung Minderjähriger befürworten. Tatsächlich sieht das Rechtssystem, das Imam Chomeini im Iran mit aufgebaut hat, die Todesstrafe für diesen Straftatbestand vor! Doch die persönliche Frage an einen Rechtsgelehrten fragt nicht nach dem Rechtssystem und dem was mit ihm geschehen würde, wenn er sich freiwillig den Sicherheitsbehörden stellt, sondern nach einer inneren Beziehung zu Gott, die geschädigt ist und ob und wie sie evtl. wieder bereinigt werden kann. Die Fatwas der Rechtsgelehrten sind nicht das Öffentliche Recht; nicht einmal in der Islamischen Republik Iran. Es mag manche überraschen, aber selbst die Fatwas von Imam Chamene’i sind nicht Gesetz im Iran!

Und keine Fatwa der Welt kann in einem nichtmuslimischen Rechtssystem das Rechtssystem ersetzen! Muslime sind verpflichtet, das jeweils geltende Recht einzuhalten; auch das ist eine Fatwa. Ist das Maß der Abweichung für den Einzelnen nicht mehr tragbar, muss er auswandern. Bezogen auf alle genannten Berufe ist hier jeweils selbständig abzuwägen, in wie weit man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Das Ergebnis kann von Muslim zu Muslim unterschiedlich ausfallen. Bei allen jenen Gedanken sollte aber nicht nur der vorliegende Problemfall, sondern auch die Konsequenz berücksichtigt werden evtl. ohne Berufsausbildung und ohne Fähigkeit, die eigene Familie zu versorgen, zu sein. Für obiges Beispiel heißt das: Jede muslimisch bewusste Kita-Angestellte wird islamisch verbotene Speise nur widerwillig auftischen. Sie wird daran keine Freude empfinden. In wie weit sie es dennoch tut und es als das geringere Übel betrachtet, muss sie selbst entscheiden, diese Entscheidung kann ihr kein Gelehrter der Welt abnehmen. Islam heißt Ergebenheit in Gottes Willen, und das geht nicht ohne eigene freie Entscheidung!

In letzter Konsequenz kam die Frage auf, ob obige Problematik nicht auch für das Kopftuch gelte. Müsse eine Muslima nicht ggf. ihr Kopftuch abnehmen, um einen Job zu bekommen. Hier müssen Muslime auch lernen zwischen den unpersönlichen Lebensregeln einer Gesellschaft, die die Allgemeinheit betreffen, und den Unterdrückungsmechanismen zu unterscheiden. Das Auftischen eine Speise, die aus muslimischer Sicht verboten ist, ist dennoch das Recht der Mehrheitsgesellschaft. Sie tut etwas aus islamischer Sich Unrechtes, aber es ist das ihr von Gott gegeben Recht, frei darüber zu entscheiden. Das Kopftuch der Muslima geht den Rest der Gesellschaft nichts an! Keine Gesellschaft der Welt hat das Recht darüber zu bestimmen, ob sie bestimmte Körperteile einer Person sehen darf, wenn die entsprechende Person es nicht will. Dennoch – und das MUSS hier noch einmal erwähnt werden – hat auch KEIN Muslim das Recht, eine Muslima zu verurteilen, weil sie ihr Kopftuch während des Berufs auszieht, wenn sie selbst zu einer anderen Abwägung gekommen ist. Das muss sie mit sich selbst und ihrem Schöpfer ausmachen.

Bei allen derartigen theoretischen Diskussionen, die zuweilen auch gravierende Auswirkungen auf die Praxis haben, wird übersehen, was der Kern des Islam ist. Der Kern des Islam ist die Liebe! Die Abneigung der Kita-Angestellten, Schweinefleisch aufzutischen, erfolgt aus Liebe zu den Kindern! Die Abneigung des Paketdienstes, die Weinkiste auszuliefern, erfolgt aus Liebe zu jenen Menschen. Würden alle jene Menschen den Betroffenen gleichgültig sein, bedürfte es jener Abwägung nicht. Nur durch die Liebe wird die Religion aber vollendet, und das ist nicht nur im Islam so.



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