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Neulich im Türkei-Flieger

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Von Yavuz Özoguz am 14. Mai 2011 09:48:20:

Neulich im Türkei-Flieger

Oder warum westliche Nichtmuslime nicht differenzieren wollen.

In einer Zeit, in der viele Migranten aus der Türkei in ihre Heimat fliegen, musste auch ich dorthin und habe frühzeitig einen Nachtflieger der Lufthansa gebucht, da der Anschlussflug aus Bremen so sehr günstig wurde. Im Flieger nach Frankfurt läuft alles “normal“. Es gibt ein Getränk und eine Milka-Schokolade. Meine mitreisende Ehefrau macht mich – den Halal-Zertifizierer – darauf aufmerksam, dass in der speziellen Milka-Keks-Mischung Alkohol sein könnte. Zwar sind die “persönlichen“ Maßstäbe bei der Speise einer Schokolade auch religionsrechtlich anders als bei der Halal-Berurteilung, aber das habe ich mir dann doch nicht vorstellen können und versuche mit meinen älter gewordenen Augen die Zutatenliste zu lesen, für die man normalerweise ein Mikroskop benötigen würde. Ich tippe auf die Schriftart und –größe Arial 2. Mit Mühe und Not gelingt es mir, die Zeile mit Alkohol zu finden. Schade, dann wird die Schokolade nicht den Weg auf meine Zunge finden. Aber im Türkeiflieger soll es doch anders werden, oder?

In Frankfurt steigen wir um und warten im Wartesaal. Es ist nach 22 Uhr. Eigentlich sollte der Einstieg bald beginnen. Plötzlich kommt eine Ansage: „Sehr geehrte Damen und Herren, da der Flieger restlos ausgebucht ist, darf jeder Passagier nur ein Gepäckstück in der maximal vorgeschriebenen Größe mit an Bord nehmen.“ Alle anderen Gepäckstücke werden aufgegeben und dem Besitzer in Istanbul überreicht. Außerdem wird explizit darauf hingewiesen, dass der Einstieg in der Reihenfolge der aufgerufenen Sitzplätze (die hinteren Reihen zuerst) erfolgen soll, damit es schneller gehen kann. Alle Passagiere mögen bitte den bald erfolgen Aufruf abwarten und nur dann aufstehen, wenn ihre Sitzreihe aufgerufen wird. Noch bevor die arme Mitarbeiterin des Bodenpersonals ihre Worte zu Ende sprechen kann, steht eine Meute – Gott vergebe mir, dass ich die Gruppe Menschen so nenne – auf und drängt in ungeordneter Form zum Schalter und dem Eingang. Die überraschte Ausruferin fügt noch einmal lautstark ins Mikrofon hinzu, dass es noch NICHT so weit sei und alle Platz nehmen können. Meine Frau und ich beobachten das Geschehen von unseren Sitzen aus und sehen die zunehmende Verzweiflung des Bodenpersonals, da sich nicht eine einzige Person hinsetzt! Und von einem Einstieg in der Reihenfolge der Sitze – was ja für alle Passagiere sinnvoll wäre, um rechtzeitig zu starten – träumt die arme Ausruferin wohl nicht einmal mehr. Dann geht es los in einer Schlange, die mehr einem gefüllten Kreis gleicht.

Ich erinnere mich, wie die Japaner in der schlimmsten Katastrophe eine disziplinierte Reihe bilden konnten für rationiertes Heizöl (jeder sollte nur 5 Liter bekommen) und es unklar war, ob jeder etwas bekommen würde. Hier steht fest, dass der Flieger sicherlich nicht abfliegen wird, ohne jeden Passagier mitzunehmen, aber manche haben offensichtlich Angst, einen Stehplatz zu erhalten. In dem Moment bricht im Pulk eine alte Frau – wohl wegen der stickigen Luft – zusammen. Das Bodenpersonal ruft die Sanitäter. Die sind in gut einer Minute zur Stelle und versorgen die Frau. Es scheint nichts Ernsthaftes zu sein. Der Pulk Leute war zwar für einen Moment in der Blickrichtung abgelenkt, aber keiner weicht aus dem Gedrängel zurück.

Endlich geht es los. Die völlig überforderte Flughafenmitarbeiterin soll jetzt den Leuten ihre zu großen Gepäckstücke abnehmen. Von EINEM Gepäckstück kann bei den meisten Passagieren nicht die Rede sein. Zuweilen sind es 5-10 Tüten, die allerdings in einem kleinen Gepäckstück Platz gefunden hätten. Offensichtlich hat absolut niemand auf ihre Ansage gehört. Die besonders großen Gepäckstücke (teils echte Koffer, die in keiner Gepäckablage Platz gefunden hätten), fischt sie heraus. Obwohl den Leuten kein Übergepäck berechnet wird (was eigentlich sein müsste), protestieren sie und diskutieren und diskutieren mit der zuständigen Frau. Meine Frau und ich haben uns an den automatischen Schleusen positioniert und beobachten das Geschehen. Die automatischen Schleusen werden bei dem Chaos nicht geöffnet, und so beschließen wir, mit als Letzte einzusteigen. Da kommt ein Mann an die Reihe, der hat ein so großes und schweres Gepäckstück, dass er es nur auf Rollen mühsam ziehen kann. Es wird ihm abgenommen. Er fängt in englischer Sprache eine lautstarke Diskussion an, die jeder im Saal mitverfolgen kann. Als die Flughafen-Mitarbeiterin merkt, dass der Typ weitaus lauter schreien kann als sie selber, hört sie auf und verbittet sich, angeschrien zu werden. Der Koffer bleibt und muss in den Kofferraum.

In dem Moment kommt der Notarzt und teilt der Mitarbeiterin mit, dass die zusammengebrochene Frau wieder bereit sei. Die arme Frau ist völlig überfordert, und es ist eher zu befürchten, dass sie selbst gleich zusammenbricht. Verzweifelt ruft sie eine höhere Stelle an, um zu fragen, ob jene Frau denn nun mitfliegen kann oder nicht. Als eine der Letzten steigen meine Frau und ich ein, um im Flieger mitzubekommen, dass jetzt der Pilot mit der Stewardess darüber diskutiert, ob jene Frau mitfliegen soll oder nicht.

Im Flieger geht das Chaos weiter. Obwohl wir zu den zuletzt Eingestiegenen gehören, und obwohl wir recht weit hinten sitzen, herrscht immer noch ein munteres Treiben auf dem Gang. Die alte Frau mit Kopftuch neben uns macht sich große Sorgen um die Torte (kein Scherz!), die sie im Gepäckraum untergebracht hat und die von allen Seiten gequetscht wird. Die Handgepäckablagen sind natürlich übervoll. Derweil irrt ein anderer älterer Mann zwischen den herumstehenden Leuten umher, hält seinen Flugschein falsch herum und fragt nach Reihe 34. Er kann offensichtlich nicht lesen. Es stellt sich heraus, dass dort nicht 34 sondern 36 steht, und er wird zwei Reihen weiter nach hinten beordert. Er ist immer noch aufgeschmissen. Denn in Reihe 36 ist kein Sitz frei. Er sucht weiter, bis sich herausstellt, dass jemand in Reihe 36 sich auf einen falschen Platz gesetzt hatte. Der hatte gedacht, er könne einfach in der Nähe seiner Bekannten sitzen, und es würde sich schon klären. Es wird getauscht. Ähnliche Fälle tauchen mehrfach auf. Wer sitzt eigentlich auf seinem wirklichen Platz? Die inzwischen ebenfalls überforderten Flugbegleiterinnen beordern einige Personen in die noch freien Plätze der besseren Klasse, so dass etwas Entspannung eintritt.

Das Flugpersonal versucht nun verzweifelt, die Handgepäcksfächer zu schließen. Das ist gar nicht so einfach bei der Menge an gequetschten Tüten. Sie kommt zu unserer Reihe, und das Fach mit der Torte geht nicht richtig zu. Sie drückt etwas mit Gewalt nach und bekommt es zu. Sollte es sich bei der Torte um eine Apfeltorte gehandelt haben, so kann sie zumindest noch als Apfelmus genossen werden.

Endlich, nach ca. 55 Minuten Verspätung, wovon 45 Minuten zu Lasten von uns Passagieren gehen dürften, verlässt der Flieger seine Position. Es folgen die üblichen Ansagen wie Handy ausschalten usw... Da meldet sich ein Mann und sagt, dass sein eingeschaltetes Hand noch in der Gepäckablage sei und ob er diese – beim zum Rollfeld fahrenden Flieger – öffnen dürfte. Die sichtlich genervte Stewardess erlaubt es ihm. Sein Kleinkoffer liegt – wie sollte es anders sein – ganz hinten. Es dauert und dauert und dauert, bis er endlich sein Handy gefunden und ausgeschaltet hat. Ich weiß in dem Moment nicht, ob die daneben geduldig stehende Stewardess oder meine Wenigkeit geduldsmäßig mehr geprüft werden.

Endlich: Der Flieger startet. Gute Reise! Normalerweise esse ich nachts um 23:30 nicht unbedingt noch etwas, und schon gar nichts Warmes, aber so ein kostenloses Angebot im Flieger ist doch eine schöne Abwechslung. Oft gibt es im Türkeiflieger etwas Vegetarisches. Heute leider nicht! Die Ansage versichert, dass kein Schweinefleisch im Essen sei. Wie beruhigend. Weiß denn niemand, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Schweinefleisch und einem nichtislamisch geschlachteten Rind? Offensichtlich weiß es niemand! Denn fast alle Passagiere nehmen das Essen, auch die Frauen mit Kopftuch sowie die Männer mit Bart und Pudelmütze. Meine Frau und ich lehnen ab. Die arme ältere Frau mit Kopftuch neben uns beginnt zwar ihr Essen aufzureißen, fragt uns dann aber, ob wir es nicht essen. Wir essen nicht. Sie hat in einer ihrer Tüten selbstgemachte Brote dabei und isst diese stattdessen. Immerhin, eine einzige Person (vielleicht auch noch andere in vordere Reihen, die wir nicht sehen können), lehnt mit uns das Essen ab. Es ist aber kein Problem! Der Grund, warum ich dieses Detail nenne, hängt mit der bald folgenden Schlussfolgerung zusammen.

Am Ende einer solchen Reise landen wir, und es folgt die Ansage, dass man sich erst dann von den Sitzen erheben darf, wenn die Anschaltzeichen ausgegangen sind. Der Flieger rollt zu seiner Andockstation, muss unterwegs aber anhalten. Sofort springen einige Leute auf. Die Stewardess versucht per Mikrofon die Leute dazu zu bewegen, sich wieder hinzusetzen. Der Flieger fährt wieder an, und einige Stehende können ihr Gleichgewicht kaum halten. Genau der gleiche “Zwischenstopp“ war im Zubringerflieger nach Frankfurt auch geschehen, aber da war niemand aufgestanden! Am Ende bekommt unsere Sitznachbarin ihre Tüte mit der Torte zurück. Wir wissen nicht, wie die Torte aussieht. Die Frage, wie man eine Torte als Handgepäck mit in einen Flieger nehmen kann, ist hier wirklich die harmloseste Frage.

Vielmehr stellen sich ganz andere Frage: Die meisten Fliegenden werden von der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland als Migranten und Muslime eingestuft. Warum sind diese Menschen so extrem undiszipliniert? Warum halten sie keine einzige vorgegebene Ordnung ein? Wer lässt seine Eltern, die nicht lesen können, einfach alleine reisen? Wie sollen das Bodenpersonal und die Stewardessen, die das alles miterleben, jemals positiv von Migranten denken?

Doch genau an dieser Stelle setzt ein Aspekt ein, den die Mehrheitsgesellschaft versuchen muss zu lernen und zu verstehen! Die geschilderten Missstände (als Minispiegel noch viel größerer Missstände) haben absolut NICHTS mit dem Islam zu tun. Sie sind vielmehr die Negierung des Islam, das Vernachlässigen sämtlicher Regeln des Islam. Das wurde nicht nur bei der Speise deutlich. Will man also diese Missstände – nicht in einem Flieger, sondern in der Gesellschaft – bereinigen, dann geht das nicht GEGEN den Islam, sondern nur MIT dem Islam. Wenn Menschen ungebildet, undiszipliniert, ungeordnet usw... sind, dann ist das die Folge eines unislamischen Verhaltens. Ein Aufruf aus einem Lautsprecher, sei es aus einem Flughafenlautsprecher oder den Politikerlautsprechern, wird da kaum hilfreich sein. Aber ein Aufruf von muslimischen Gelehrten, dass all diese Verhaltensweisen gegen die Grundprinzipien des Islam verstoßen, kann Wunder wirken. So lange falsche Traditionen und falsches Verhalten “gemischt“ werden mit Islam, wird man die Dinge nicht lösen können, denn nur eine differenzierte Herangehensweise kann eine Lösung bewirken!

Wir als Muslime aber müssen uns selbst die Frage stellen, warum es uns nicht gelingt, in “unseren eigenen Reihen“ diesbezüglich Besserung zu bewirken. Wir können uns damit herausreden, dass jene Leute mit Islam wenig zu tun haben, aber das wäre zu einfach! Wir selbst sind in erheblichem Maß mit daran Schuld, dass ein Bild von Muslimen entstanden ist, welches abstoßend ist (auch für uns!). Wenn sich die Mehrheitsgesellschaft in manchen Aspekten “islamischer“ und damit menschlicher verhält als so manche Muslime, ist es ihr gutes Recht, sich dagegen zu wehren. In einer Welt aber, die nicht mehr voneinander zu trennen ist, müssen wir lernen die Dinge sachlich, vernünftig und vor allem menschlich miteinander zu lösen. Wir haben keine andere Wahl.



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