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Re: Libyen und die Vorstellungen des Westens

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Von Brigitte Queck am 24. Februar 2011 18:21:17:

Als Antwort auf: Libyen und die Vorstellungen des Westens von Brigitte Queck am 22. Februar 2011 20:40:19:


Gestattet mir als Co-Autor des Hauptartikels zu den Vorgängen in Libyen, mich
bezüglich der Antworten an Frau Queck zu äußern

Der Sozialismus war gar nicht Gegenstand der Ausführungen von Frau Queck und mir, aber da man ihr eine Vertretung des „antiquierten Sozialismus“ und schlimmer noch, des „sozialistischen Terrorregimes“, vorwirft, muss ich an dieser Stelle Folgendes sagen, ohne hier in alle Details gehen zu können:
Der Begriff Sozialismus bezeichnet ein Gesellschaftssystem, das sozial ist und sich an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen (möglichst aller Menschen) orientiert, sowie grundsätzlich die Prinzipien der Humanität und Gerechtigkeit vertritt. Das schließt auch die Religion ein, wenn auch der Gottesbezug für viele nicht als unabdingbar erscheint.
Wir kennen alle die Fehler und Mängel des kapitalistischen Systems und natürlich auch die des Sozialismus. Da braucht man niemand aus der ehemaligen DDR zu belehren. Schon zu DDR-Zeiten standen wir ständig in der Fehlerdiskussion. Man nannte das Kritik und Selbstkritik. Nach 1989 hörte und las man ständig, was die westlichen Medien an Mängeln in Bezug auf die DDR feststellten. Im offenen Fernsehen konnte das jeder verfolgen. Über Fehler und Mängel des realen Sozialismus könnte ich heute noch ein ganzes Buch schreiben. Da ist mir z. B. in Erinnerung, wie ein Funktionär zu einem ZK-Mitglied sagte: „Lassen wir doch die Leute sagen, was sie denken!. Antwort sozusagen von oben: „Die Verfassung gewährt die Meinungsfreiheit. Die Leute reden ohnehin, was sie wollen und denken. Wir haben nichts dagegen, nur, wenn jemand eine öffentliche Rede hält, muss er immer bedenken, welche Kreise das zieht. Westliche Journalisten greifen hier den kleinsten kritischen Wortfetzen auf und treten das propagandistisch gegen uns breit“.
Oder :„Die niedrigen Preise können wir nicht länger halten, die Subventionen steigen ins Unermessliche“. Antwort sozusagen von oben: „Wir haben uns gegenüber der Bevölkerung verpflichtet, die niedrigen Preise bei wichtigen Konsumgütern zu halten. Subventionen können entfallen, wenn die Produktion weiter erhöht wird“. Weiter: „Na gut, das schafft aber materielle Bilanzierungsprobleme.“
Antwort: „Wozu haben wir euch denn, um auch die zu lösen, lösbar sind die auch“.
Ich empfand das sozialistische Regime nicht als unmenschlich und die wenigsten Menschen empfanden es als unmenschlich. Im Gegenteil, es dominierten Kameradschaft, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Verständnis für menschliche Probleme.
Was z. B. Intrigen sind, das habe ich erst im Kapitalismus richtig kennen gelernt. Vorher kannte man das in der DDR mehr z. B. aus Theaterstücken wie „Kabale und Liebe“ von Schiller. Ich empfand folglich meine Mitmenschen in Beruf und Privatleben, auch die Vorgesetzten nicht als Unmenschen.
Ich hatte nur mal mit einem Menschen ernste Probleme, der mich bewusst anschwärzte. Dann bin ich einmal politisch denunziert worden. Darüber wurde ich von meinem Kaderleiter (Personalchef) informiert, der mich sogar öffentlich vor versammelter Belegschaft freisprach. Ich setzte mich damals auch für größere Religionsfreiheit ein, befasste mich mit dem Islam und bekannte mich zu ihm sogar als einer Religion, die der Staat fördern sollte. Dafür bekam ich nicht etwa eine Rüge.
Und dieses System, in dem wir gelebt haben, soll ein Terrorregime gewesen sein?
Manche (allerdings sind es meines Erachtens sehr wenige) mögen andere Erfahrungen gemacht haben.
Ich muss ehrlich sagen, bei mir baute sich sogar zu DDR-Zeiten der Gedanke auf, dass das System des Sozialismus in der Abwehr seiner politischen Gegner viel zu lasch ist. Wenn ich an der Spitze des Staates stehen würde, dachte ich mir, würde ich da manche Leute viel härter anpacken, denn ich erkannte frühzeitig auch die Existenzkrise des Sozialismus, der insbesondere durch die staatlich gesteuerte Schaufensterpolitik der BRD bei Konsumgütern, durch damals hohe Löhne und Sozialeistungen in DM (hohe Renten, hohe Arbeitslosengelder und Arbeitslosenhilfen, hohe Krankenleistungen in der Bundesrepublik usw.) immer mehr in die Bredouille geriet.
Ich hatte aber keine Funktion, um das irgendwie wirksam zum Ausdruck bringen oder umsetzen zu können. (ich war hauptsächlich Sprachmittler und Länderbearbeiter in einigen slawischen Sprachen).
Aber über Sinn und Zweck solcher Fragen zu diskutieren, erübrigt sich sicherlich heute für viele.
Fakt ist, es gibt in Europa keine realsozialistischen Staaten mehr, folglich auch keinen relativ humanen und auch keinen „inhumanen“ Sozialismus. Damit ist ein System untergegangen, dass vieles nicht geschafft hat, aber eins sicherlich schaffte, sichere Arbeitsplätze im erlernten Beruf und den Wegfall von Existenzangst und Not, wenn man keine Arbeit und keinen Lohn mehr hat.
Dem Sozialismus gelang es z. B. auch, für ausreichende Bildungsmöglichkeiten, Kita-Plätze, ausreichend Wohnungen, eine gute gesundheitliche Versorgung und gute Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu sorgen.
Frauen hatten bei uns mehr Rechte als je zuvor und danach. Beruf, Familie und Kinder konnten sie in der Regel mühelos vereinen.
Auch die Industrien konnten im Weltvergleich bei vielen Produkten (nicht allen) konkurrieren.
Die Landwirtschaft produzierte, das, was sie produzieren konnte, mit hohen Überschüssen. Wälder wurden mehr aufgeforstet als abgeforstet.
Vieles an Defizitären war nur eine Frage der Entwicklung, nicht die eines grundsätzlichen Unvermögens.
Manche nennen die Gerontokratie, die ungenügende Kaderauslese, als Gründe für das Versagen des Sozialismus. Das war ein Problem, war aber auch nicht das Grundproblem. Wo es auftrat, war es lösbar.
Ich war immer dafür, dass Leute solange arbeiten und tätig sind, wie sie fähig und gesund sind, wenn auch für die Jugend genug Arbeitsplätze geschaffen werden, und die wurden geschaffen.
Für eine gute Kaderauslese in Leitungspositionen hätte man zweifellos mehr tun müssen.

Jetzt im nachhinein denken viele Menschen darüber nach, was im Sozialismus besser war.
Das waren z.B. die Beschäftigung und Berufsausübung, kostenlose Bildung, bzw. kostenlose medizinische Betreuung.
Oder sie denken darüber nach, was sie damals 1989 am Kapitalismus besser gefunden hatten, z.B. das bessere Warenangebot.
Wenn man heute, vor allem seitens westlicher Politiker, immer wieder hören muss, dass es im Sozialismus, also in der DDR, keine Meinungsfreiheit gegeben hätte, dann schütteln die Menschen aus der DDR den Kopf, weil dies heute weitaus schärfer gehandhabt wird. Eine freie, unabhängige Meinung Andersdenkender wird in den bürgerlichen Medien nicht gedruckt bzw. Menschen, die dieses, ihnen eigentlich im Grundgesetz zugestandene Recht der Meinungsfreiheit auch auf Arbeit ( wie übrigens in der DDR üblich!) wahrnehmen wollen, werden heute gekündigt.
Denken wir nur an die politische Verfolgung von Wikileak-Gründer Assange, wo die Justiz lediglich einen anderen strafrechtlichen Bezug zu konstruieren braucht, um politisches Unrecht zu Recht umzufunktionieren.

Anlass, mich z. B. mit Libyen zu befassen, war das Studium von Darstellungen und Beschreibungen des Landes Libyen von Sachkennern im Internet (zu finden bei Google).
Da informierte ich mich über Löhne, das Sozialsystem, Investitionen auch in Hochtechnologien, auch Bewässerungs- und Aufforstungsarbeiten, Investitionen für eine bessere Umwelt und Arbeit der Schulen und Universitäten, einschließlich ihrer Finanzierung, wobei ich sofort Vergleiche mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland ziehen konnte.
Ich las auch, dass ägyptische Gastarbeiter aus Libyen hohe Beträge ihrer Löhne nach Ägypten an ihre Familien überweisen. Na, dachte ich, wenn die das können, müssen die ja ganz schön was verdienen.

Ich kam unabhängig von den gerade beginnenden Demonstrationen gegen Gaddafi zu dem Schluss, das da in Libyen einiges besser gemacht wird und mehr den Menschen und dem Gemeinwohl dient, als in Deutschland. Und irgendwie gelangte ich zu der Meinung, wenn da einiges so gut läuft, kann auch der oberste Führer (genannt Revolutionsführer) nicht ganz so schlecht sein, wie das in den Medien dargestellt wird. Der Irre, der Verrückte, der Neurotiker, der Grausame, der Schreckliche, der Blutrünstige usw., wie er in westlichen Medien dargestellt wird, da stimmt doch logisch etwas nicht!
Es gibt ja im Deutschen den schönen Spruch: „Wie der Herr, so das Gescherr“. Durch historische Studien habe ich mich von der Richtigkeit dieses Spruches überzeugen können. Es gibt Persönlichkeiten, die gerne als Ungeheuer der Geschichte dargestellt werden. Das beginnt z. B. bei Kaiser Nero aus der römischen Geschichte, dem man vorwirft, den Befehl zur Inbrandsetzung Roms gegeben zu haben, was aber nicht beweisbar ist. Oder es gibt Iwan Grosny (Grosny wird gerne mit dem Wort der Schreckliche übersetzt, obwohl er richtig der Ehrfurcht Gebietende heißt) in der russischen Geschichte. Diese Persönlichkeit wird gerne als der leibhaftige Teufel der russischen Geschichte dargestellt, was, wie man nachweisen kann, damals von dem mit Russland konkurrierenden Polen aus inszeniert wurde. In Wirklichkeit galt Iwan IV. (Grosny) schon im 16. Jahrhundert als der Begründer Russlands als wirtschaftliche, kulturelle und natürlich auch als militärische Großmacht und genoss in Russland und sogar europaweit hohes Ansehen.

Ergo, warum soll man da nicht sagen dürfen, dass es das Verdienst Gaddafis war, dass Libyen 1969 vom Neokolonialismus befreit wurde und dann auch wirtschaftlich eine beachtliche Entwicklung nahm ?
Heute werden wieder in Ostlibyen die Fahnen des alten reaktionären Monarchiesystems gehisst. Da gibt ein Volk (so die Medien) dem Regime den Todesstoß.
Aber warum sollte ein Volk etwas Sicheres gegen künftige Unsicherheit aufgeben?
Und wenn schon mancher sich politisch unwohl fühlt, warum sollte er relativen Wohlstand und relative Sicherheit gegen viel schlimmere künftige Unterdrückung und Verelendung aufgeben?
Das ist für mich alles ein merkwürdiger Widerspruch.

Und wenn sich Gaddafi einem Aufstand, der sich nachweislich zum großen (entscheidenden) Teil als ausländische Intervention entpuppt hat, widersetzt, ist das in anderen vergleichbaren Fällen in der Geschichte auch schon mehrfach geschehen.
Auch von nach wie vor geachteten Personen.
Ich würde gerne die Rede von Gaddafi in einer mir zugänglichen Sprache lesen (ich selber kann nicht Arabisch), um feststellen zu können, ob er z. B. das Wort Ratten in Bezug auf sein Volk wirklich so im Arabischen gebraucht hat und wenn ja, in welchem Zusammenhang er es gebraucht hat.
Bis jetzt war mir eine ausführliche Darstellung der Rede des Sohnes von Gaddafi nur in einem polnischen Text zugänglich. Die war dann für mich gut im Deutschen wiederzugeben.

Es geht nicht darum, Gaddafi als perfekte Person darzustellen. Sicherlich hat Gaddafi auch viele politische Fehler gemacht. Einen luxuriösen Lebensstil mache ich Politikern nur zum Vorwurf, wenn sie ihre Pflichten, z. B. den Aufbau ihres Landes, den Volkswohlstand vernachlässigen. Da sind die westlichen internationalen Finanzoligarchen viel schlimmer, denn sie greifen in ihrer grenzenlosen Gier nach Geld und Profit als Per-se-Ziel nach dem gesamten Volksvermögen. Die Armut, das Elend von Menschen stecken sie skrupellos weg. So mancher, so genannter politischer Diktator in den arabischen Ländern ist da besser, hat mehr Gewissen als die westlichen Finanzgewaltigen der Banken und Börsen.

Es geht um Relativität und die richtige Einordnung in Zusammenhänge, um die richtige Erklärung von Widersprüchen.
Menschen brauchen nicht absolut gut zu sein, wenn sie besser als andere schlechte Menschen sind. Es gibt auch bei einer moralischen und politischen Bewertung Abstufungen.

Und es kommt es für eine erfolgreiche Politik immer darauf an, ob man die richtige Strategie und Taktik entwickelt hat und anwendet. Die vermisse ich grundsätzlich bei vielen arabischen Politikern.
Ohne richtige Strategie und Taktik (und die entzieht sich einfacher moralischer Bewertungen, wie beispielsweise, wenn beide Seiten schlecht sind, muss ich beide gleichermaßen ablehnen und bekämpfen ! ) läuft jede Nation in den Abgrund.

Hans-Jürgen Falkenhagen



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