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Politische Analyse oder Liebe?

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Von Yavuz Özoguz am 07. Juli 2010 09:41:50:

Im Rahmen der kontroversen Auseinandersetzungen mit aktuellen Themen des Zeitgeschehens wird oft übersehen, dass eine politische Analyse niemals ein Selbstzweck sein darf, sondern einem höheren Ziel dienen muss. Ansonsten ist sie wertlos.

Betrachtet man die aktuelle Zeit, so gibt es zweifelsohne eine Überschwemmung an Themen, die politisch analysiert werden könnten und entsprechend gibt es auch eine Überschwemmung mit politischen Analysen. Der Großteil wird von einer Art Medienmafia gesteuert, aber das Internet ermöglicht auch gewissen Alternativansichten, selbst wenn diese noch ein zunehmend beachtetes Nischendasein fristen. Doch wozu sollen all diese Analysen dienen? Bei z.B. zionistisch geprägten Medien ließe sich ganz einfach der Schutz des Zionismus als oberstes Ziel definieren, und bei imperialistisch geprägten Medien die Ausbreitung der Macht des Imperiums. Aber welches Ziel verfolgen vernünftige alternative Analysen?

Ein Grundwert, der sicherlich oft genannt wird, ist: Gerechtigkeit! Da werden soziale Missstände kritisiert, um Gerechtigkeit zu erlangen. Da werden politische Missstände, Korruption und Verbrechen jeglicher Art, die im missbrauchten Namen von diesem oder jenem geschehen, kritisiert, Verschwörungen aufgedeckt, Verbrecher in den höchsten Reihen von Politik und Wissenschaft geoutet, um der Gerechtigkeit Willen. Doch das Interessante an derartigen Analysen besteht oft darin, dass sich die Macher niemals grundlegend mit der Fragestellung beschäftigt haben, was denn Gerechtigkeit eigentlich ist. Die heutige Philosophie hat sich ohnehin diesbezüglich total abgemeldet und in einer durch und durch materialistischen Welt wird nur noch darüber diskutiert, in welcher Form die Verteilung von Gütern “gleichmäßiger“ erfolgen kann. Das Millionengehalt einer Fußball-Götzen wird dann als Extrembeispiel herangezogen oder die Boni der Bänker, die gerade ihre Bank zerstört haben. Ziel der Analyse aber ist nicht wirklich die Gerechtigkeit – dessen Definition ja gar nicht bekannt ist – sondern der Wunsch, den materiellen Gegebenheiten jenes Bänkers selbst etwas näher kommen zu können.

Die berühmte Anekdote eines Diogenes von Sinope (wer ist das überhaupt?) wird der heutigen Jugend kaum noch vermittelt und spielt im Gerechtigkeitsdiskurs keine Rolle. Er war ein in Askese lebender Philosoph in Athen und indirekter Schüler des Sokrates. Er gilt als Verächter der Kultur der Mehrheitsgesellschaft und wirkte in seiner Philosophie mehr durch seine Askese, dessen Merkmal sein Leben in einer Tonne ist. Die bekannteste Anekdote aus seinem Leben ist seine Begegnung mit Alexander dem Großen. Als einmal mehr beim Einzug in ein Stadt die Leute Alexander huldigen und alle sich vor ihm niederwerfen ist Diogenes der Einzige, der es nicht tut. Daraufhin sucht Alexander ihn in seiner Tonne auf und stellt ihm einen Wunsch frei. Diogenes Antwortet: „Geh mir ein wenig aus der Sonne“, worauf Alexander feststellt: „Wäre ich nicht Alexander, wollte ich Diogenes sein.“ Ayatollah Morteza Motahhari zitiert diese Geschichte in einem seiner Werke, um darzulegen, dass nicht die veränderlichen äußeren Umstände die Werte eines wahrhaftigen Menschen ändern können. Dschalaleddin Rumi erwähnt ihn in seinem Dichtwerk Divan-i-Schams: „Gestern durchsuchte der Scheich die Stadt mit einem Licht, da sie mit Dämonen vollgestopft war und humane Sicht begehrte. Es wurde ihm gesagt: „Das kann nicht gefunden werden, wir haben schon gesucht.“ (Er sagte:) „Was nicht gefunden werden kann, ersehne ich Tag und Nacht“.“
Diogenes starb 323 v.Chr. in Korinth.

Zurück zur Gerechtigkeit. Wie wird dieser Begriff eigentlich in einer sich auf christlich-jüdische Werte berufenden Gesellschaft definiert? Wie wird jener Begriff in der Politik definiert? Die Antwort ist schlicht und einfach: Gar nicht! „Gerechtigkeit“ ist ein Synonym für Beliebigkeit geworden. Gestern war es gerecht, dass Homosexualität verboten war, heute werden derartige Beziehungen sogar in manchen Kirchen gesegnet. Entweder war das damalige Gesetz ungerecht, dann müssten die Verursacher der Ungerechtigkeit entsprechend die Konsequenzen für ihre Ungerechtigkeit tragen, oder aber es ist heute ungerecht. Aber so lange Gerechtigkeit nicht definiert ist, haben eben alle immer recht, Hauptsache die “Mehrheit“ steht dahinter. Entweder ist Diktatur ungerecht oder nicht. Wenn es ungerecht ist, dann wurden alle unsere Vorfahren in der ganzen Welt von fast ausschließlich ungerechten Herrschern dominiert! Warum hatten dann nur Deutsche eine kurze Periode einen ungerechten Diktator? Oder aber wir reden uns damit heraus, dass die “Umstände der Zeit“ es notwenig machten. Aber warum werden dann auch in der heutigen Zeit Könige und Prinzen unterstützt, wenn Diktatur ungerecht ist? Stellt Migration als solches ein Problem dar? Wenn ja, warum sind wir dann alle Migrationskinder, wenn man nur lange genug zurück blickt? Ist nicht der “Nationalismus“ in sich schon ungerecht?

Wer aber hat überhaupt die Befugnis zu definieren, was gerecht und was ungerecht ist? Gestern war man mit 21 erwachsen, heute schon mit 18. Ist das gerecht? Darf die “Mehrheit“ willkürlich definieren, was gerecht und ungerecht ist? Heute kann man seinen Haushund noch nicht heiraten, was ist, wenn es morgen die Mehrheit als zulässig definiert? Das wird niemals geschehen, werden heute einige einwenden. Aber wenn jene einmal in der Geschichte zurückblicken würden, würden sie sehen, dass schon viel zu viel geschehen ist, von dem unsere Vorfahren annehmen würden, dass es niemals geschehen kann!

Gerechtigkeit hängt vor allem mit dem Menschenbild zusammen und dem Ziel des Lebens. Wenn es z.B. das Ziel des Lebens ist, die Sonne genießen zu können, dann ist es ungerecht, wenn jemand Schatten erzeugt. Ist hingegen das Anhäufen von materiellen Gütern das oberste Ziel, dann ist es ungerecht, wenn man von jenem Ziel abgehalten wird. Was aber ist das Ziel des Daseins?

Auch hier werden viele Menschen einfach nur antworten, dass es die “freie Entfaltung des Menschen“ sei. Hier wird der eine unklare Begriff “Gerechtigkeit“ durch zwei neue unklare Begriffe ersetzt: “Freiheit“ und “Mensch“. Denn was ist der Mensch? Ist er ein Wesen, der ein Maximum an irdischen Gütern konsumieren muss, um glücklich (und frei) zu sein? Und was ist Freiheit? Ist es frei, wenn man öffentlich nackt sein kann und unfrei, wenn man seinen Körper nur einem Menschen zeigen möchte und ansonsten verhüllt?

Immer mehr Menschen erahnen, dass das ganze Dilemma der heutigen Welt genau mit diesem Fragestellungen zusammen hängt. Der Mensch ist ein Wesen, das über sehr hohe Fähigkeiten und Potentiale verfügt. Aber um diese Ausschöpfen zu können, muss er seine eigene Gebrauchsanweisung kennen, er muss wissen, woher er kommt, wohin er geht und warum er überhaupt hier ist. An dieser Stelle setzen die Religionen an, aber die Kirchen haben – teils durch eigene Fehler – keine glaubhaften Antworten mehr in der Gesellschaft.

Der Islam hingegen ist die am schnellsten wachsende Religion in Deutschland (auch unter “deutschstämmigen“). Doch sollten Muslime nicht die Vorstellung haben, dass wir unter uns die obigen Fragen hinreichend geklärt hätten, um dem Ideal auch nur halbwegs nahe zu kommen. Was nützt es, wenn wir den spirituellen Dreck, der hier oft verbreitet wird, kritisieren, während unsere öffentlichen Einrichtungen zu den schmutzigsten im Land gehören? Sind Materie und Wesen nicht Spiegelbilder? Was nützt es über die Freiheit Palästinas nachzudenken, wenn man dafür aber nicht in Kauf nehmen möchte, von den Medien und manchen Politikern dafür extrem abgelehnt zu werden? Was nützt es für die Heiligkeit der Familie einzutreten, wenn die meisten Frauen in Frauenhäusern aus muslimischen Familien stammen und die meisten im Land gewalttätig erzogenen Kinder Muslime sind, während der Islam seit 1400 Jahren eine gewaltfreie Erziehung zwingend vorschreibt? Was nützt es der Tochter ein Kopftuch vorzuschreiben, wenn man gar nicht weiß, warum man es selbst trägt? Wie soll man Gerechtigkeit im Wirtschaftssystem einfordern, wenn man gar nicht weiß, wozu das Zinsverbot da ist? Warum soll man so großen Wert auf Halal-Fleisch legen, wenn der Fleischkonsum derart grausam übertrieben ist, dass vom “Opfercharakter“ eines Tieres und dem Festmahlcharakter schon gar nicht mehr die Rede sein kann bei drei mal Fleisch am Tag? Was nützt all das Fasten, wenn die meisten Fastenden im Fastenmonat zunehmen? Was ist das für ein Gebet, bei dem man weder nach dem Sinn der Bewegungen fragt, noch danach, wem das eigentlich nützt? Was ist das für ein Gottesdienst, bei dem der Diener ernsthaft glaubt, er könnte Gott dienen? Was ist das für ein Einsatz für andere, der sich in wertlosen Schlachten um Posten und Titel ausdrückt und dem Wunsch, zu bestimmen? Was ist das für eine Nächstenliebe, die nie gelernt hat, mehr Wangen hinzuhalten, als Jesus es empfohlen hat, wen dadurch Frieden bewirkt werden kann? Was ist das für ein Menschenbild, in der die erste Begegnungsfrage nach der regionalen Herkunft ist? Was ist das für ein Islam, wenn man die Heiligkeiten unserer Zeit nicht einmal kennt? Und was ist das für ein Streben nach Gerechtigkeit, ohne den Sinn des Lebens zu kennen?

Wahre Menschlichkeit findet nicht in politischen Analysen statt! Um wahre Menschlichkeit zu sehen, muss man die Augen öffnen. Jede Krankenschwester, die in einem Kinderhospiz arbeitet und dort tagtäglich Kinder sterben sieht, sie lebt Menschlichkeit. Die Putzfrau, die alleinerziehend, nur um ihre Kinder zu versorgen, jeden Morgen in aller Frühe aufsteht, um vor dem Managern im Büro zu sein und dessen Toiletten zu putzen, lebt mehr Menschlichkeit als die Typen, die sich dann später auf die Toiletten setzen, selbst wenn deren Gehalt das 10.000 Fache der Putzfrau beträgt. Jeder Mensch, der sich aus wahrer Nächstenliebe für die Beendigung von Nachbarschaftsstreitigkeiten einsetzt, jede Mutter, die aus Liebe zu ihrem Kind ihre berufliche Karriere opfert, jeder Mann, der auch als Straßenfeger fleißig arbeitet, im Gedanken, die eigene Familie zu versorgen, lebt mehr Menschlichkeit, als jene Politiker, die an der Spitze eines Landes den übernächsten Generationen Gelder rauben und das als notwendige Staatsverschuldung deklarieren.

Um Gerechtigkeit zu verstehen und zu etablieren, müssten wir wieder Toiletten putzen und Freude daran empfinden, wenn wir es für jene tun, die wir lieben! Um Gerechtigkeit zu verstehen und zu etablieren, müssten wir aufhören, jegliche Person uns “dienen“ zu lassen. Jeder Mann kann seine Fernsehgetränke selbst aus dem Kühlschrank holen. Um Gerechtigkeit zu etablieren, müssten wir das Leben derjenigen, die wir lieben, als wertvoller erachten, als das eigene Leben! Und dafür müssten wir zunächst lieben lernen!

Die poltischen Analysen sind notwendig, zweifelsohne. Und jedes Wort gegen Verbrecher wie Obama, die heutigen Anführer von Zionisten, Diktatoren, Könige und Prinzen die ihr Volk ausbeuten, das kapitalistische Finanzsystem und vieles andere mehr ist notwendig! Aber so lange wir nur “gegen“ etwas sind, unterschieden wir uns nicht von jenen Verbrechern! Die glauben auch, alles für die Gerechtigkeit zu tun und agieren doch nur gegen andere! Warum sollte Ihr Denkmodell schlechter sein als das unsrige?

Erst wenn wir lieben lernen, werden wir verspüren, wie sich uns Türen öffnen werden, von deren Existenz wir bisher nichts wussten. Erst durch die Liebe wird der Mensch menschlich. Und nur der Mensch, der Liebe verspürt, wahre Liebe und nicht die Show-Liebe der Politiker, die mit ihren Frauen öffentlich Mundflüssigkeiten austauschen; erst wenn wir diese wahre Liebe verspüren, setzen wir uns wirklich “für“ etwas ein. Gelegenheiten dazu gibt es viele, angefangen von der Mutterliebe über die Liebe zum Lebenspartner und die Liebe zu den eigenen Kindern bis hin zur Liebe zu allen Geschöpfen des Daseins. Alle jene Liebe wird den Liebenden – wenn er es wirklich ernst meint – geradewegs zur Liebe der Quelle all jener Geschöpfe führen. Und dann wird man auch die Sonne lieben und sich daran stören, wenn ein Verbrecher Schatten erzeugt.



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