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Menschen müssen auch sterben dürfen

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Von Kurt Nickel am 02. Juli 2010 13:59:45:

Über den Eid des Hippokrates

Vor wenigen Tagen wurde das Gesetz zur passiven Sterbehilfe vom Gesetzgeber modifiziert. Ob das für die Betroffenen ausreichend ist, sei dahingestellt.

Als seiner Zeit der Eid des Hippokrates verfasst und kreiert wurde war die Medizin im Vergleich zu heute noch in der Steinzeit, zur damaligen Zeit jedoch sehr fortgeschritten. Damals fiel es den Urhebern leicht, einen Eid zu verfassen, der das Erhalten des Lebens um jeden Preis verlangte. Doch wie alles in der Welt sollte man vielleicht einmal darüber nachdenken, ob Jahrtausendalte Vorstellungen von Werten noch der Zeit angepasst sind.

Von 1978-1989 arbeitete ich auf einer neurologischen Pflegestation. Das Elend, das ich dort zu Gesicht bekam, hatte mich für mein Leben geprägt. Nach 11 Jahren konnte ich es nicht mehr ertragen, jene zum Sterben geweihte Menschen zu betreuen, für die der Tod schlicht eine Gnade war, die teilweise derart qualvoll starben, dass ich mich oft fragte, ob der liebe Gott nicht doch Fehler macht.

Wir hatten immer 4 Betten in Gebrauch, die mit Menschen im Wachkoma, auch apallisches Syndrom genannt, belegt waren. Das sind Jene, die einen mit großen Augen anschauen, wenn man zu ihnen ans Bett tritt und man dabei immer das Gefühl hat, als flehen sie um Hilfe. Die meisten von ihnen lebten noch 2-4 Jahre, bis sie zumeist durch einen Infekt ihrem Leiden erlagen. Nur selten lebten sie viel länger.

Meist wiesen Diese Druckgeschwüre, insbesondere im Rücken- und Hackenbereich auf, die derart heftig waren, dass das faulende Gewebe erbärmlich stank und mit eitrigem Sekret derart „butterte“, dass die Bettwäsche allein deshalb (neben den Vorgängen der Inkontinenz) mehrmals täglich gewechselt werden musste. Oftmals konnte man bis auf den Knochen schauen, der dann ganz unten zu erkennen war. Die Qualen und Schmerzen mussten für sie wohl unerträglich gewesen sein. Der zuständige Arzt musste wohl fortlaufend im Zwiespalt gewesen sein, inwieweit die Dosen der Schmerzmittel zu verantworten waren.

Es sei hier am Rande angemerkt, dass die pflegerischen Hilfsmittel sowie die medizinische Entwicklung in den 70ern nicht denen des heutigen Standes entsprachen. Im Vergleich zu den heutigen Einweg-Artikeln hatten wir noch recht einfache Verhältnisse, zu den damaligen Verhältnissen jedoch war es für uns jedoch das Neuste! Die damalige Einführung der ersten Einweg-Artikel war so etwas wie der Beginn der pflegerischen Neuzeit.

Neben den bereits erwähnten Menschen mit Wachkoma, gehörten auf der Station zumeist Menschen mit Schlaganfällen, Multiple Sklerose (MS), ALS und Hirntumore zum häufigsten Krankheitsbild. In den meisten Fällen schon derart fortgeschritten, dass eine intensive Pflege erforderlich war.

Georg war schon seit über 20 Jahren bettlägerig und litt unter MS. Die Erkrankung mag so grausam sein, wie sie will, sie hat aber auch ein (das klingt schon fast makaber, man mag mir nachsehen) positives Element in sich: Die Stimmungslage jener schwerst Erkrankten entspricht (in den häufigsten Fällen) nicht seinem eigentlichen Zustandsbild. Die Grundstimmung ist zumeist gutgelaunt und zuversichtlich, auch wenn die Prognose noch so schlecht ist.

In der Endphase seines Leidens war Georg derart geschwächt, dass er nicht mehr eines seiner Gliedmaßen bewegen konnte. Der gesamte Rücken und alle Teile, die auf dem Bett auflagen waren eine einzige, eiternde Wunde. Veränderung der Lagerung hatte zur Folge, dass ihm nur noch weitere Geschwüre zugefügt wurden.

Das gesamte Skelettsystem Georgs hatte sich zu sogenannten „Glasknochen“ entwickelt. Jedes Mal, wenn man ihn bei der Körperpflege anfasste, hörte man es knacken und spürte, wie der jeweilige Knochen brach. Immer wieder begleitet vom flehenden Wimmern Georgs, der in den letzten Tagen seines Daseins auch aufgehört hatte zu sprechen. Es war nur noch sein klarer, inständiger und anklagender Blick, der einen traf. Es war ein Blick der ein einziger Hilferuf zu sein schien, dieses Martyrium endlich zu beenden.

Jeder von uns Personal fühlte sich nur noch schlecht, wenn man zu Georg hinmusste oder von ihm kam. Es mochten dabei auch die vielen Jahre gewesen sein, in denen man ihn gepflegt hatte, mit ihm flachste, sich stritt oder einfach nur lange Gespräche führte. Das war zur damaligen Zeit noch möglich, als bei der Pflege noch nicht Leistungsstufen und kommerzielle Gedanken vordergründig waren, sondern auch der Einzelne wichtig zu sein schien. Georg war so etwas wie ein Teil der Station geworden, der einfach dazu gehörte.

Und dann verloren die Augen Georgs nach und nach ihre Klarheit. Sein Blick trübte sich zusehends ein und seine Atmung flachte immer mehr ab. Immer wieder begleitet von einem schmerzhaften Stöhnen. Aber auch das wurde schließlich weniger. Allen war klar, dass es die letzten Stunden waren, die Georg blieben, die ihn endlich von seinem Qualen erlösten. Alle unsere Gedanken waren in diesen Stunden zumeist bei Georg, dem wir von Herzen wünschten, dass der liebe Gott schnellstens ein Einsehen hatte und ihn zu sich holte.

Unser Stationsarzt war im Zwiespalt. Man konnte ihm ansehen, dass er sich denkbar schlecht fühlte. Er litt offensichtlich an seiner Hilflosigkeit, diesen Mann nicht mehr helfen zu können und darunter, das akzeptieren zu müssen. Und eine medikamentöse Hilfe, die Georg nur ein paar Stunden brachten, die wollte er auch nicht durchführen, das wollte er Georg nicht antun. Eben das war es, was an dem Mann nun zehrte.

Als ich dann am Abend Dienstschluss hatte, schaute ich nochmals nach Georg. Mir war klar, dass dieses mein letzter Besuch bei ihm war. Ich weiß nicht mehr, was ich an seinem Bett genuschelt habe. Doch ich weiß noch genau, dass ich mich für die Grausamkeiten entschuldigt habe, die ihm die Menschen mit ihren eigentlich sehr ehrenvollen Gesetzen zu Erhaltung von Leben, zugefügt haben. Georg hatte das Ganze wohl eh nicht mehr mitbekommen, da sein Zustand eher als komatös zu bezeichnen war.

Als ich am nächsten Morgen meinen Dienst antrat, mochte ich es nicht glauben. Georg befand sich noch immer in diesem qualvollen Zustand, den man als Leben bezeichnet. Die Vitalwerte wie Puls und Blutdruck waren sogar relativ stabil geworden.

Mein Nachfragen ergab, dass der Nachdienst den Bereitschaftsarzt gerufen hatte. Und dieser Mann hatte dann das getan, was seine Pflicht war. Er hatte Leben erhalten, wie er es in seinem hippokratischen Eid gelobt hatte. Durch hochdosierte Cortison-Gaben sowie kreislaufstabilisierende Medikamente hatte sich der Leib Georgs, wieder etwas erholt.

Man stelle sich einmal die paradoxe Situation vor: Wir alle vom Personal waren voller Zorn, weil ein Mensch noch lebte!!

...Oder ist es gar nicht so verwerflich, einem Menschen den Tod zu wünschen...?

Georg lebte dann noch drei Tage. Es waren Tage des Leidens, die man ihm hätte ersparen können. In diesen Tagen nahmen meine Zweifel erste Formen an. Formen, die mich wirklich fragen ließen, ob das alles richtig ist, was dem Menschen als Vorgaben gegeben werden. Sei es im medizinischen, als auch im juristischen Bereich.

Insofern hat sich bei mir die Ansicht durchgesetzt:

Menschen müssen auch sterben dürfen!!

Wenn Leben dem Menschen die Würde nimmt und zur Erbärmlichkeit wird, spätestens dann sollte man darüber nachdenken. Jeder Hund hat dann bessere Karten und ich kann mir nicht vorstellen, dass das Gottes Wille ist.

Der Mensch darf nicht zum Spielball des Ehrgeizes von Medizinern werden...



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